Rezension: Matthias Riemer (2005): Praxishilfen Freinet-Pädagogik

Matthias Riemer: Praxishilfen Freinet-Pädagogik

Matthias Riemer: Praxishilfen Freinet-Pädagogik

Rezension: Jürgen Göndör

Matthias Riemer (Hrsg.)(2005): Praxishilfen Freinet-Pädagogik, Bad Heilbrunn, Julius Klinkhardt-Verlag, ISBN: 3-7815-1385-8, Sammelband
Mitautoren: Danny Frischknecht (CH), Gerald Schlemminger (DE-Karlsruhe), Tanja Daschke (DE-Euskirchen) und Pia Hölzel (DE-Darmstadt), Maren Gronert (DE-Erlangen-Nürnberg) und Alban Schraut (DE-Erlangen-Nürnberg), Ulrich Bosse (DE-Bielefeld), Florian Söll DE-Köln), Klaus Glorian (DE-Bremen), Renate Kock (DE-Köln), Falko Peschel (DE-Lügden), Walter Hövel (DE-Eitorf), Elisabeth Suttner (AT-Wien)

Matthias Riemer gelingt es nicht nur, österreichische und schweizer AutorInnen einzubinden, sondern er deckt auch wesentliche Elemente der Freinet-Pädagogik ab. Er legt dazu verschiedene Raster an. Eines davon gliedert die Beiträge in Gruppentechniken: Klassenzeitung, Einstiegsrunde, Klassenrat, Morgenkreis; Arbeitsmittel: Arbeitsplan – Freinet-Techniken: den Kindern das Wort geben – mit der Druckerei oder dem Computer, Erkundung, Klassenkorrespondenz, Projekte, Freies Forschen, Freier Ausdruck; Organisation des Klassenlebens und Lernens: Atelier Mathematik, Atelier Biologie, Freinet-Monographie, Englischlernen, Leistungsmessung, Didaktische Struktur der Freinet-Pädagogik. Ein Glossar rundet die Beiträge ab.

Ein zweites Raster ist, dass jedes Kapitel eine Definition des Kerns seines Beitrages versucht, eine Beschreibung liefert und konkrete Hilfen für die tägliche Arbeit vorstellt.

Der dritte Strang den Matthias Riemer verfolgt, ist die Verortung des beschriebenen Elements im Gesamtsystem der Freinet-Pädagogik und die Verdeutlichung des Ineinandergreifens der einzelnen Elemente.

Eine vierte Linie beschreibt, wie das entsprechende Element in den eigenen Unterricht eingeführt werden kann, welche ‚Schwierigkeiten, Gefahren und Grenzen‘ bedacht werden sollten.

Fazit: man kann mit dem Einstieg in die Freinet-Pädagogik an jedem Ende beginnen, sollte aber die einzelnen Elemente nicht als Rezepte verstehen, mit den der eigene Unterricht reformpädagogisch aufgepeppt werden kann. ‚Letztlich muss jede LehrerIn ihre Freinet-Pädagogik selbst erfinden‘ – die Praxishilfen sind keine Beschäftigungstherapie, kein Flickenteppich, kein Kochbuch, sondern der Einstieg in einen anderen Unterricht.

Schuldruck heute?!

mritterIn der Kolumne für den Schuldruck ist ein neuer Beitrag erschienen: Schuldruck heute. Anlass war die Einrichtung einer Schuldruckerei an der Universität Bielefeld durch Juniorprofessor Dr. Michael Ritter. Im letzten Semester gab es mehrere Veranstaltungen, in denen Studierende mit andere Studierende und auch mit Kindern druckten.

Auch der Artikel in der Neuen Osnabrücker Zeitung von März 2012, in dem über Cristina Müllers c. mueller Masterarbeit: „Auf den Spuren Célestin Freinets – Eine Untersuchung über den Einsatz der Schuldruckerei in der Grundschule von heute“ berichtet wird, zeigt gegen den allgemeinen Trend, die Schuldruckerei als unzeitgemäß zurückzudrängen, wie begeistert das Drucken von Kindern angenommen wird.

Ein Geheimnis dabei scheint die Vorgabe kurzer Texte zu sein. Lange Texte schrecken die Kinder ab – die Setzerei ist ihnen wohl zu mühsam. Lange Texte schrecken aber auch LeserInnen ab. Wer kämpft sich schon gerne durch eine Textwüste.

schreger100x144 Christian Schreger aus Wien hat in seinem Projekt „Kleine Bücher“ erstmals gute Erfahrungen mit diesem Ansatz gemacht. Er hat auch eine kleine Beschreibung des Druckens in 10 Schritten ins Netz auf den Seiten seiner Schule in der Ortnergasse gestellt.

 in der Ortnergasse in Wien in der M2

in der Ortnergasse in Wien in der M2

Schuldruckerei II

Die belgische Legende


Der Reformpädagoge Ovide Decroly hat in seiner berühmten Reformschule L’Eremitage ebenfalls schon mit einer Schuldruckerei experimentiert. Schon 1908 gibt eine Gruppe 12 bis 13-jähriger Kinder eine schuleigene Zeitung heraus. Die damalige Schulleitung unterstützt dieses Unternehmen. Decroly ist es wichtig, die Interessen der Kinder zu respektieren. Und diese träumen „von einer selbstgedruckten Zeitung.“ (Hagstedt, S. 88) Den Kindern wird ein „ein alter Schuppen auf dem Schulgelände zugewiesen“ (Ebenda), sie schreiben zunächst auf Schreibmaschinen und vervielfältigen ihre Zeitung mit einem Umdrucker. Ein Schülervater, Drucker, macht den Kindern das Angebot, die Zeitung richtig zu drucken. Bis 1913 erscheinen 132 Ausgaben des Schulechos, wie die Kinder ihre Zeitung getauft haben. (Vgl. ebenda)

Die Kinder wollen aber ihre Zeitung auch selbst drucken. Es entstehen eine Zeitungs-AG und weitere Arbeitsgemeinschaften, die der Schülerzeitung zuarbeiten. Das Zeitungsprojekt hat das Potential, die gesamte Unterrichtsarbeit zu organisieren. Aber die Schulleitung will klar trennen: die eigentliche Unterrichtsarbeit und schülerinitierte Projekte.

Freinet kritisiert jedoch nur, dass Zeitungsmachen nur etwas für wohlhabende Schulen ist: Die Druckerei ist „zu teuer für die bescheidenen öffentlichen Schulen und viele selbstgesetzte Schulzeitungen erscheinen nur einmal monatlich.“ (Hagstedt, S. 89) Freinet will die Druckerei alltäglich in der Klasse einsetzen. (Freinet, 1996, S. 72)

Die deutsche Legende (Hans Jörg, Dieter Adrion)

Die Legende beginnt mit der Darstellung des Auftritts Freinets auf dem internationalen pädagogischen Kongress 1928 in Leipzig. Hans Jörg berichtet: „In einer kleinen Ausstellung zeigt er (Freinet) seine Druckerpressen, seine Arbeitsmittel und ausgesuchte Schülerarbeiten. Viele deutsche Lehrer zeigen ein so starkes Interesse für die Schuldruckerei, dass Freinet sämtliche Pressen in Deutschland zurücklässt.“ (Jörg, 1965 S. 190 und noch 1986). Bei Dieter Adrion ließt sich das so: „dass deutsche Lehrer ihrem französischem Kollegen Célestin Freinet auf dem Kongress des Leipziger Lehrervereins 1928 die Klappflügelpressen aus der Hand gerissen haben“. (zitiert nach Hagstedt, S. 90)

Im Kongressbericht findet sich davon nichts. Freinet – mit Élise – war zwar in Leipzig auf dem Kongress und hat auch einen Vortrag über ‚Disziplin‘ gehalten – die Schuldruckerei kam „direkt gar nicht vor“ (Hagstedt, S. 90).

Freinet hat schon vor 1921 Kontakt mit den Reformpädagogen in Hamburg. Max Tepp hat dort ein Buch über die Hamburger Schulrevolution in Form fiktiver Gespräche mit skeptischen Schuleltern veröffentlicht. Freinet übersetzt mit H. Siemss dieses Buch ins französische. Es erscheint 1920 – noch vor all seinen eigenen Veröffentlichungen. Als Freinet wieder nach Hamburg kommt, hat Max Tepp jedoch die ‚Wendeschule‘ schon verlassen. „Ob Freinet schon in den Hamburger Versuchsschulen Schuldruckereien in Betrieb gesehen hat, ist nie untersucht worden“ (Hagstedt, S. 90) – aber Freinet berichtet 1926, dass es in Deutschland eine ‚Vielzahl‘ von Schuldruckereien gibt. (Vgl. ebenda)

In Leipzig wurde jedenfalls schon 1910 die „Beschaffung einer Tiegelpresse bewilligt“ (Pehnke, 1998, S. 21). Auch an der Ostern 1921 eröffneten ‚Connewitzer Versuchsschule‘ war „eine Tiegeldruckpresse mit Setzkasten“ (Riedel, 1922, S. 33f, in: Pehnke, 1998) vorhanden. Hagstedt berichtet von weiteren Druckereien an deutschen Versuchsschulen.

Gerald Schlemminger ergänzt:

„Schließlich experimentieren viele französische LehrerInnen mit neuen Techniken und Unterrichtspraktiken. René Daniel erarbeitet mit seinen 92 Schülern in Trégunc (Finistère) schon seit 1921 freie Texte und polykopiert sie Mithilfe von Gelantineplatten. Ein anderer gewerkschaftlich organisierter Bretone, Jean Cornec, macht schon zu Beginn der 20er Jahre mit seiner Klasse Erkundungen außerhalb der Schule, druckt und führt Gruppenarbeit und Filmvorführungen in seiner Klasse ein. Auf internationaler Ebene werden auf den Treffen und Kongressen ähnliche Experimente, so die deutsche Praxis des freien – künstlerischen – Ausdrucks (A. Lichtwark), des freien Aufsatzes (P. G. Münch, A. Jensen, W. Lamszus…), die Schulgazetten, die der polnische Arzt Janus Korczak in seinem Waisenheim mit den Kindern herstellt, u.v.m. diskutiert.“

Literatur: Schlemminger, Gerald (2001): Zur Biographie Célestin Freinet und Entwicklung und Grundzüge seiner Pädagogik, in: Hansen-Schaberg, Inge und Schonig, Bruno (Hrsg.) (2001): Freinet-Pädagogik. Reformpädagogische Schulkonzepte, Bd. 5, Baltmannsweiler, S. 9-51; hier: Internetveröffentlichung S. 3, Aufgerufen am 21.8.2012 um 15:11 Uhr:
Zur Biographie Célestin Freinet …

Hagstedt fasst zusammen: Freinet hat die Schuldruckerei in die Regelschule übertragen. Seine Idee ist es gewesen, sie auf Klassenebene zu nutzen, z.B. für die Klassenzeitung oder die Klassenkorrespondenz. Ebenso war es seine Idee das ‚Cahier de vie‘ mit seinen freien Texten zu drucken. Freinet hat somit die zeitlich früheren Ansätze von Ferrière, Gansberg, Decroly und Robin zusammenführen können. (Hagstedt, S. 95)

Fortsetzung folgt

4000ster Datensatz in der Literatur-Datenbank zur Freinet-Pädagogik

Heute wurde der 4000ste Datensatz eingegeben!

Es handelte sich um einen Beitrag von Michael Ritter: Dazu will ich etwas schreiben! Didaktische Überlegungen zu freien und kreativen Schreibprozessen.

Michael Ritter ist heute Juniorprofessor an der Uni Bielefeld und hat zusammen mit seiner Frau Alexandra eine Schreibwerkstatt Schreibritter in Halle geleitet. Er war Mitarbeiter von Prof. Dr. Eva Maria Kohl, die an der Martin Luther Universität Halle das ambitionierte Projekt ‚Archiv für Kindertexte‘ aufgebaut hat.

An der Uni Bielefeld arbeitet er mit Ulrich Busse zusammen, Abteilungsleiter an der Laborschule. Die Laborschule wiederum hat vor längerer Zeit eine sehr gute DVD zum Schuldruck und zu Freien Texten erstellt.