Als ich zum ersten Mal auf die Literaturseite von Walter Hövel https://www.walter-hoevel.de/ geraten bin, war ich perplex. Jede Menge Worte zum anklicken – aber keine Veränderung. Keine Reaktion auf den Klick – egal auf was ich geklickt habe.

Dann habe ich entdeckt, dass die Seite ja sehr lang ist und habe neugierig nach unten gescrollt. Und siehe da, zig weitere Bücher oder auch die gesuchten Texte zu den Links.
Und dann habe ich mich festgelesen. Nun kenne ich Walter Hövel persönlich, habe ’seine‘ Schule in Eitdorf, die Grundschule Harmonie, besucht und dort hospitiert. Ich habe mit ihm auch über den Offenen Unterricht von Falko Peschel diskutiert. Aber diese geballte Erfahrung und Praxisbeschreibung der Texte von Walter Hövel hat mich dann doch vom Hocker gerissen.
„Wenn ich in die Klasse komme, sage ich den Kindern nicht: ‚Ich habe Euch heute etwas mitgebracht und darüber werden wir heute arbeiten.‘ Sondern ich frage sie: ‚Was macht ihr heute, an was wollt ihr arbeiten?'“ und ich weiß auch, dass Walter das nicht nur erzählt, sondern auch getan hat. Und nicht nur er, sondern diese Sichtweise fand sich im ganzen Kollegium. Das habe ich gemerkt, als ich Artikel für eine Festschrift zu seinem sechzigsten Geburtstag – auch in seinem Kollegium – gesammelt habe. https://www.yumpu.com/de/document/read/22099107/festschrift-zum-60-geburtstag-von-walter-hovel-grundschule- Der Klassenrat und die Schul-versammlung waren nicht nur reformpädagogische Feigenblätter sondern gelebte Praxis. Daher lohnt sich ein Studium der Beiträge der Webseite wirklich! Herbert Hagstedt, der an der Uni Kassel tätig war und dort lange Jahre die Forschunssstelle für Freinetpädagogik geleitet hat, sagte über Walter Hövel: „Er hat die Freinetpädagogik nicht nur umgesetzt sondern in die heutige Zeit weiterentwickelt!“ Ich möchte ergänzen: Er füllt den schönen Spruch: „Fördern statt Fordern!“ mit wirklicher Substanz.
Ein Beispiel, wie Probleme bearbeitet werden können:
Es gibt Schulen, die die SchülerInnen mit einbeziehen, allerdings anders. Nicht bei der Etablierung der Standards der guten Schule – natürlich nur von Schulleitung und LehrerInnen entwickelt, der dann aber für alle gilt, auch für die, die an der Aufstellung der Standards gar nicht beteiligt waren – sondern jeden Monat in einer Kinderkonferenz praktiziert. Und da kommt alles auf den Tisch. „Kinderkonferenz. Kinder anders beobachten: Wir hatten diese (monatliche) Konferenzform (1988) eingeführt, um Kinder ganzheitlich und als gleichwertige Menschen zu verstehen. […] Es geht nicht darum, über „problematische“, „schwache“ oder „schwierige“ Kinder zu reden, sondern es geht um unsere Probleme, die wir in der LernKooperation mit Kindern haben, sehen und wahrnehmen. […] es ist ‚genügsam’, in seinen guten Phasen ein ‚nettes Faultier’. Es hat das zweite Schuljahr auf Antrag der Mutter wiederholt. Dieses Mehr an Zeit hat ihm keinen entscheidenden Gewinn gebracht. Es hat eine schwere Zeit des Leidens durch die Trennung seiner Eltern hinter sich. Die Mutter hat den Vater aus Erziehung und Schule herausgehalten. Jetzt ist die Trennung vollzogen, das Kind lebt bei der Mutter, die Verhältnisse sind geklärt. Es gibt nun feste Besuchszeiten beim Vater, der sich jetzt gezielter und bewusster um seinen Sohn kümmert. Das Kind ist ausgesprochener Experte für Tiere. Erst erzählte es so gut wie nichts, jetzt entpuppt es sich als ein begnadeter Geschichtenerzähler im Kreis. Sein Sprachschatz ist auf einem hohen Niveau, es gebraucht – ohne das es altklug wirkt- auffallend oft Fremdwörter. Im vorigen Jahr hatte es mit einem Mitschüler eine ‚negative Stütze’, es hat sich nach dem Weggehen keinen ‚Ersatzpartner’ besorgt. Wir fragen nach seinem Selbstwertgefühl, kommen aber nicht weiter. Es fügt sich nur eine weitere Facette seines Verhaltens hinzu. Es dreht sich oft einfach nur im Kreis, wie ein Hospitalismus geschädigter Löwe. Es schreibt nicht gerne, seine geschriebenen Texte sind weit entfernt von seinem mündlichen Können, seine Schrift ist nicht entwickelt. Es vermeidet Schreiben wo es nur geht. Aber es wendet sich immer wieder an hospitierende Gäste und bittet sie mit ihm oder für ihn zu schreiben. Einem Kollegen fällt der Freinetkindergarten PrinzHöfte in Norddeutschland ein. Dort gab es ‚Sekretäre’. Dies sind Kinder, die bereits schreiben können und für noch nicht schreibende Kinder aufschrei-ben. Also wird sofort beschlossen, dass wir im Klassenrat anfragen, wer für unser Kind – falls es will – als Sekretäre zur Verfügung stehen möchten. Wenn es oft unglücklich und freudlos erscheint, so verändert sich seine gesamte Aura, wenn es im Forum die Fische füttert und pflegt. Das Kind scheint alles das gerne zu tun, was nicht Schule ist. Es ist in Mathe extrem schwach. Es hat noch fast zwei Jahre Zeit bei uns. Es liest nicht viel und das in einer Umgebung mit Bücher verschlingenden Mitschülern und Büchereien in allen Teilen der Schule. Es hat ‚Aussetzer’, es sitzt vieles aus. Es verläuft sich in seinem eigenen Kopf’. Es ist mit seinen eigenen Zwischenergebnissen nicht zufrieden und bringt – enttäuscht von sich selbst – seine Arbeiten nicht zu Ende. Und dies basiert auf einer recht realistischen Einschätzung. Es wirkt kraftlos, es kann sich selbst – auch im Sportunterricht – nicht hochziehen. Wir fragen uns noch einmal Richtung Eltern, ob das Kind nicht – zumindest eine Zeit – ‚lästig’ war, oder es diesen Eindruck gewinnen musste. Es taucht gerne unter. Worauf die Frage gestellt wird, ob es schwimmen kann. Nun taucht die entscheidende Frage auf, was wir und es tun sollen. Und wir waren entscheidungsfähig. Wir werden auf keinen Fall an seinem ‚Sozial- und Arbeitsverhalten’ arbeiten. Wir werden es den größten Teil seines schulischen Alltages alles das machen lassen, was für es nicht Schule ist. Es soll als anerkannter Experte über Tiere forschen und erzählen, es soll basteln, bauen und am Computer Powerpoints und Oberflächenprogramme erstellen. Vor allem aber werden wir es lassen. Wir haben beschlossen es zu fragen, ob es in Mathe und Schreiben von vorne anfangen will, ohne ein Jahr zu wiederholen.“ (Kinderkonferenz (o.Datum), Hövel, Walter: https://www.walter-hoevel.de/kinderkonferenz/)Wenn man sich das Video über den Summerhillschüler, der von sich sagt: “I was one of the few pupils of summerhill that didn’t attend lessons. I chose not to attend, because I was not interested in it. I was very good in pottery, carpentry, those sort of things. I had a lot of confidence in my own ability to cope with the world through being able to do things with my hands. So when I left Summerhill in the age of fifeteen I could barly read or write and had no real idea what I was going to do, what i wanted to do.“ (DE: Ich war einer der wenigen Schüler von Summerhill, die keine Unterrichtstunden besuchten. Ich habe beschlossen, nicht teilzunehmen, weil ich nicht daran interessiert war. Ich war sehr gut in Töpferei, Zimmerei, solchen Dingen. Ich hatte großes Vertrauen in meine eigene Fähigkeit, mit der Welt umzugehen, indem ich Dinge mit meinen Händen tun konnte. Als ich Summerhill mit fünfzehn Jahren verließ, konnte ich kaum lesen oder schreiben und hatte keine wirkliche Ahnung, was ich vorhatte zu machen, was ich machen wollte.) https://www.youtube.com/watch?v=o58xTHGYzIY&list=PLs9KfBcAo6LCQoPwFUnrrORVNGCL_4gBd&index=2&t=9s
‚The boy‘ bringt es aus seiner Sicht auf den Punkt, wie ‚es‘ sich damals vielleicht in der Grundschule Harmonie gefühlt hat. Und ähnlich wie in Summerhill diese Situation akzeptiert wurde – von den Eltern und von A.S. Neill, dem Schulleiter – so reagierte auch das Kolligium der Grundschule Harmonie: ‚Wir haben beschlossen es zu fragen, ob es in Mathe und Schreiben von vorne anfangen will, ohne ein Jahr zu wiederholen.‘ Die Freiheit sich dafür oder auch dagegen zu entscheiden, lag ganz bei dem Schüler. ‚Freedom is indivisible. It means you must never influence the choice children make. It’s all or nothing‘ (Freiheit ist unteilbar. Das bedeutet, dass Sie niemals die Wahl beeinflussen dürfen, die Kinder treffen. Diese Freiheit ist alles oder nichts.) (A.S. Neill)
Das Kollegium der Grundschule Harmonie praktiziert „Fördern statt Fordern“ auf exzellente Weise. Ich ziehe meinen Hut. Dieses Angebot praktiziert auch die Maxime von Falko Peschel: ‚Das Lernen hoch halten.‘ https://offener-unterricht.net
Und es wird auch deutlich, wo der Unterschied zwischen Summerhill und der Grundschule Harmonie liegt: In Summerhill bleibt die Entscheidung vollkommen beim Kind/Jugendlichen selbst. So lernt es, sein Vertrauen in seine eigenen Entscheidungen und somit in seine eigenen Fähigkeiten zu erlangen: ‚Ich war sehr gut in Töpferei, Zimmerei, solchen Dingen. Ich hatte großes Vertrauen in meine eigene Fähigkeit, mit der Welt umzugehen, indem ich Dinge mit meinen Händen tun konnte.‘ Dieses Vertrauen in sich selbst ist so stark, dass ‚The Boy‘ bei seiner Entscheidung: ‚Lesen und Schreiben nicht zu lernen‘ bleibt; ‚Ich glaube ich komme auch so zurecht‘. Jahre nach Summerhill lernte ‚The Boy‘ später in wenigen Monaten Lesen und Schreiben, zu einem Zeitpunkt, als es ihm wichtig erschien. Er lernte es, erst als er es wollte, erst als er sich dafür entschieden hatte.
In der Grundschule Harmonie gibt es noch ein Angebot, Mathe und Schreiben doch noch lernen zu können, wenn ‚es‘ sich dafür entscheidet. Dieses Angebot ist eine Verdeutlichung der Situation: Wir helfen Dir, wenn Du Dich entscheidest, es mit unserer Hilfe zu probieren. Das ist ‚Fördern statt Fordern‘ wörtlich genommen. Das ist ein Beispiel für: ‚Das Lernen hoch halten‘. In der Grundschule Harmonie konnte ‚es‘ sich dafür oder dagegen entscheiden sich diese ihm fehlenden Fähigkeiten beim Schreiben und in Mathe anzueignen – mit der Unterstützung der Lehrer. ‚Es‘ entschied sich dafür diese Unterstützung anzunehmen. Es wird so auch die Gemeinsam-keit deutlich: Sowohl in Summerhill als auch in der Grundschule Harmonie behält der Schüler die Freiheit, seine Entscheidung zu treffen, auch wenn diese Entscheidungen zunächst unterschiedlich ausfallen. Freedom of choice is all or nothing.
Wer mehr über Walter wissen will, bucht nur hier zu klicken: https://www.walter-hoevel.de/%C3%BCber-mich/lebenslauf/
Es gibt jetzt auch eine Playlist mit 20 Videos über die Aktivitäten an der Grundschule Harmonie:
https://www.youtube.com/playlist?list=PLs9KfBcAo6LBpfuaZ9izaxTW3Ig2tC0s6
Besonders haben mich die ‚Unterrichtsgespräche über ein physikalisches Problem‘ in den Bann geschlagen. Es ist faszinierend zu sehen, wie Walter in diesen Unterrichtsgesprächen jede typische Lehrerhaltung vermeidet: Er sagt nie: ‚Ja, richtig!‘, er beantwortet Fragen oder Äußerungen der Kinder mit Gegenfragen: ‚Was ist denn das: Schwerkraft?‘ und Beteiligungsaufträgen: ‚Jetzt müssen wir genau beobachten, wer will?‘ und fragt dann auch genau diese Beobachtungen ab: ‚Was hast Du beobachtet?‘ Er löst Widersprüche nicht auf, sondern stellt sie heraus: ‚Ja, wie denn nun?‘ Er ‚grillt‘ das Experiment und zwingt auf diese Weise die Kinder selbst nachzudenken, Vermutungen zu äußern. Nur um sie dann den Beobachtungen der Kinder gegenüberzustellen: ‚Wie passt das denn zusammen?‘ – Aber seht es Euch selbst an!