Gute Gründe für das Sitzenbleiben???

Versuch einer Einordnung.

„Es gibt noch keine Methode, Sitzenbleiben überflüssig zu machen“ – fett eingerückt in der Mitte des RP-Artikels wirkt diese Aussage wie eine Lesehilfe. Es ist keine Berichterstattung, sondern ein populistischer Kommentar. Wer im Internet nach Leserbriefen zu solchen Artikeln sucht und diese auch liest, fragt sich unweigerlich: „War da nicht was? Inklusion – oder so was?“ Doch das Wort Inklusion kommt auch gar nicht vor. Die Reaktion wittert Morgenluft – das Imperium der Leistungsgesellschaft schlägt zurück.

Frank Vollmer hat sich Mühe gegeben. Es fehlt (fast) nichts. Die prominenten Namen derer, die trotz einer „Ehrenrunde“ weit gekommen sind: Wulff, Bulmahn, Steinbrück (wegen Mathe – und wurde doch Finanzminister – mit Ausrufezeichen in Klammer), Scholl (Fußballprofi), Kerner (TV-Star).

Ganz klar: Dieses Ziel – Abschaffen des Sitzenbleibens – kann selbstverständlich ’nur langfristig erreicht‘ werden.

Die Liste der Spötter und Gegner ist lang: Josef Kraus (Lehrerverbandspräsident: ‚Abitur-Vollkasko-Garantie‘), Jürgen Böhm (Chef der Vertretung der Realschullehrer: ‚leistungsfeindliche Einstellung‘), Ludwig Spaenle (Bayrischer Kultusminister: ‚pädagogischer Populismus‘), Dieter Neumann (Bildungsforscher der Uni Lüneburg: ‚Es gibt kein belastbares empirisches Ergebnis, dass längeres gemeinsames Lernen heterogener Gruppen zu besseren Ergebnissen führt‘). Bemüht wird auch das Max-Plank-Institut. Es stellt fest: ‚Bessere Noten bei Wiederholern‘.

Dieter Neumann wird in Anspruch genommen: Ohne Sitzenbleiben drohe zudem ein Verfall des Anforderungsnivaus vor allem am Gymnasium. Auch werde die stigmatisierende Wirkung des Verbleibs in der Klasse unterschätzt – Kinder seien nicht so sozial, wie immer unterstellt werde.

Statistisch wird in einem Kasten informiert: Im (Bundes-)Schnitt blieben 22010/11 2 % (= 163.400) SchülerInnen sitzen. Mehr Jungen als Mädchen. Die meisten an der Realschule (4,3 %) und in Bayern (3 %). In NRW sei die Quote der Sitzenbleiber von 2002 (3,1 %) bis 2011 auf 2,1 % gesunken.

Auch das bundesweite Feindbild ist schnell konstruiert: Rot-Grün: Niedersachsen, NRW, Hamburg – eine handvoll Bundesländer. Vergessen wurde Berlin (ganz abgeschafft), Rheinland-Pfalz (in der Grundschule abgeschafft), Thüringen (nur alle 2 Jahre), Bremen (alle werden von der 1. Bis zur 8. Klasse versetzt) und das Saarland (hier gibt es an Gesamtschulen keine Sitzenbleiber).

Bild meldet in diesem Zusammenhang zwei Tage später, dass sich die Zahl der Sitzenbleiber in den letzten 10 Jahren halbiert hat.

Dem Philologenverband wird von Frank Vollmer bescheinigt, dass er solch ‚linker Anwandlungen‘ zwar unverdächtig sei. Der Verband habe zwar angeregt, die Zahl der Klassenarbeiten mit Blick auf die Belastung der LehrerInnen zu reduzieren. Ob er sich aber nun konkret für oder gegen das Sitzenbleiben ausspricht, bleibt unklar.

Auch das Kostenargument fehlt nicht: Bertelsmann habe nachgerechnet: 2009 mussten für Sitzenbleiber 931.000.000,- (neunhunderteinunddreißig Mio) Euro aufgewandt werden.

Das sind pro Sitzenbleiber knapp 5.700,- Euro. – Stimmt nicht ganz, weil die Zahl der Sitzenbleiber von 2010/11 von mir hier mit den Kosten von 2009 verrechnet wurden. NRW hat also 2009 ca. 360 Mio. für seine Sitzenbleiber ausgegeben. Hätte man dieses Geld direkt für die Sitzenbleiber ausgegeben, so hätten für jeden pro Monat mehr als 450,- Euro an Fördermitteln bereitgestanden. Die Zahl der gefährdeten Schüler ist natürlich größer. Aber: Ein Gymnasium mit 1000 Schülern hätte bei ca. 20 Sitzenbleibern also ca. 9.000,- Euro pro Monat für zusätzliche Fördermaßnahmen frei, eine Realschule mit 400 Schülern könnte bei 4,3 % Sitzenbleibern mehr als 7.500,- Euro jeden Monat aufwenden.

Was doch fehlt:

Solche Rechnungen macht Frank Vollmer freilich nicht auf. Er fürchtet eher den Verfall der Leistungskultur an den Schulen. Wieso er allerdings so betont, dass ein wiederholtes Jahr in dieser Leistungskultur eine ‚Ehrenrunde‘ sei, erklärt er nicht.

Und: Wie hat man das Zurückgehen der Sitzenbleiber um die Hälfte in 10 Jahren zu interpretieren? Ist die Leistungskultur etwa schon ausgehöhlt? Ist sie auch um 50 % zurückgegangen? Oder hätte man die Zahl der Sitzenbleiber nicht statt dessen drastisch steigern müssen, um die Qualität des Deutschen Schulsystems zu optimieren?

Diese Artikel unterschlägt auch vollkommen, dass dem deutschen Bildungssystem bescheinigt wird: Es sei nicht so sehr die Leistung für den Schulerfolg verantwortlich, sondern vor allem die soziale Herkunft. Leistungsselektion sei in Wahrheit soziale Selektion – sie wird aber ausschließlich als Leistungsselektion verkauft. Eben weil dieser Zusammenhang gar nicht erwähnt wird – eine vorsätzliche journalistische Desinformation – braucht sich Frank Vollmer auch keine Gedanken darum zu machen. Schlimm ist eigentlich nur, dass durch diese fehlenden Informationen auch den LeserInnen solche Gedanken erspart werden.

Man fragt sich, in welcher Hinsicht sich bei Frank Vollmer die Leistungskultur bezahlt gemacht hat.

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