JG Rezension
Renate Kock (Uni Köln) hat am 1.3.2021 ein neues Buch veröffentlicht:
Das Buch wird herausgegeben vom Schneider Verlag Hohengehren GmbH, Baltmannsweiler. Es handelt sich um eine zweisprachige Ausgabe, Texte von C. Freinet werden von R. Kock ins Deutsche übersetzt, eingeleitet und herausgegeben.
Auf meine Frage, was sie zu diesem Buch inspiriert habe, hat sie mir folgendes geantwortet: „1987 erschien die erste Ausgabe der Kindheitserinnerungen Walter Benjamins mit dem Titel „Berliner Kindheit um 1900“ (Wikipedia: Berliner Kindheit um neunzehnhundert, https://de.wikipedia.org/wiki/ Berliner_Kindheit_um_neunzehnhundert). herausgegeben von Theodor W Adorno. Schon Jahre vorher verfasste Philippe Ariès die „Geschichte der Kindheit“ (Wikipedia: Geschichte der Kindheit, https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Kindheit) und Lloyd de Mause (Wikipedia. Lloyd de Mause, https://de.wikipedia.org/wiki/ Lloyd_deMause), der am 23. April letzten Jahres verstarb, antwortete mit seinem Werk „Hört ihr die Kinder weinen?“, in der er die Geschichte der Kindheit als einen Albtraum beschreibt, aus dem wir gerade erst erwachen und der ein noch nicht zu Ende gegangener Bericht über Misshandlung von Kindern und Traurigkeiten ist. Ähnlich schrieb auch Ulf Preuß-Lausitz (Portal DNB: Die Kinder des Jahrhunderts, https://portal.dnb.de/opac.htm? method=showFullRecord¤tResultId=%22120008831%22%26any¤tPositio n=16) 1993 von den „Kindern des Jahrhunderts“, denen das „Jahrhundert des Kindes“ nicht zu Teil wurde. In diesem Kontext stehen jetzt die kleinen Skizzen und Szenen Célestin Freinets über seine Kindheit. (Renate Kock, aus einer E-Mail, ergänzt um Internetadressen)
Bis auf die Einleitung und das Nachwort stammen alle Beiträge von Célestin Freinet. Angefangen von: ‚Ein Dorf am Ende der Welt’/’Un village au bout du monde‘ bis zur ‚Zusammenfassung’/’Sommaire‘. Die Einleitung und das Nachwort stammen von Renate Kock und sind nicht ins Französische übersetzt.
Im Kapitel 1: ‚Die französischen Seealpen‚ führt Renate Kock in die geographische Lage der Seealpen ein und erläutert die verwaltungsmäßige Einordnung des Gebiets.
Das Kapitel 2: ‚Die gesellschaftliche Situation um neunzehnhundert‘ führt auch in die politische Situation der Gegend ein, in der Célestin Freinet seine Kindheit (1896-1908) verbrachte.
Im Kapitel 3: ‚Zum Stand der Aufarbeitung der autobiographischen Texte Freinets‘ berichtet Renate Kock, dass die verschiedenen Dokumente, in denen Célestin Freinet über seine Kindheit Auskunft gibt, in ihrer Gesamtheit bis heute nicht veröffentlicht sind. „Viele Texte Freinets seinen Werdegang betreffend gehören zu den […] ‚documents non encore librement communicables‘ in den ‚archives départementales des Alpes Maritimes‘ erfassten Dokumenten und konnten dort mit ministerieller Erlaubnis eingesehen werden.“ (S. 5/6)
Im Kapitel 4: ‚Zur Entstehungssituation dieser Texte – Freinet im Internierungslager‘
Freinet war in verschiedenen Lagern und hat dort Teile seines Werkes verfasst. Zunächst war er in einem Überwachungslager in Saint Maximin in der Gemeinde Signes. Dort seien die Lebensbedingungen sehr hart gewesen und die Gesundheit von Célestin Freinet habe sich verschlechtert. Er habe vom 1. Weltkrieg her an einer Lungenverletzung gelitten. 1940 sei er nach Chabanet verlegt worden, in ein Lager für unerwünschte Franzosen (S. 7). In diesem Lager seien „ein Großteil der Schriften, die Freinet während seiner Internierungszeit verfasst“ hat entstanden: La Moisson, S. 166 (Die Ernte, S. 75), der Briefwechsel mit seinen SchülerInnen entstand teilweise schon in Saint Maximin, wurde dann bis Ende 1940 in Chabanet fortgeführt.
„Im Juni befindet sich Freinet nach eigenen Angaben in einem Konzentrationslager„. In diesem Lager sei man als Geisel angesehen worden und er habe befürchtet, erschossen zu werden. Der Anlaß für Erschießungen sei z.B. ein „tödliches Attentat auf einen deutschen Offizier in Nantes“ im Oktober 1941 gewesen. Daraufhin wurden 50 Geiseln erschossen. „Im Lager Choisel von Châteaubriant (wurden) 27 Geiseln erschossen, die meisten (waren) Komunisten.“ (S. 8) Ab 1941 war Freinet in Saint Sulpice bis zu seiner Freilassung inhaftiert. In dieser Zeit hätten sich viele wichtige Persönlichkeiten, wie Adolphe Ferrière und der damals amtierende Arbeitsminister René Belin in der Regierung François Darlans letzlich erfolgreich eingesetzt.
Im Kapitel 5 gibt Renate Kock einen Überblick über all die Personen, die Gesuche, Einsprüche und Schreiben für Freinet verfasst haben. Im Kapitel 6 diskutiert Renate Kock die Quellenlage dieser Aktivitäten.
Im Kapitel 7 berichtet Renate Kock ausführlich über den bisher unveröffentlichten Briefwechsel zwischen C. Freinet und seinen SchülerInnen der Schule in Vence. Dieser Briefwechsel allein umfasst 95 Dokumente.
Das Kapitel 8 fasst eine Textsammlung von autobiographischen Notizen Freinets zusammen. „Insgesamt schildert Freinet Erinnerungen und Eindrücke aus seinen ersten zwölf Lebensjahren, die er in einer von Handwerk, Handel und Landwirtschaft, Ackerbau, Vieh- und Schafzucht, Wein- und Lavendelanbau geprägten Landschaft in den französischen Seealpen in dem kleinen Dorf Gars, etwa 80 km von Nizza entfernt, verbrachte und in dessen Umkreis er seine gesamte Lebenszeit wirkte.“ Die Textsammlung stellt keinen zusammenhängenden Text vor, sondern bildet eine Erzählreihe, die von Madeleine Bens zusammengestellt wurde und mit einem Text von ihr begonnen und mit dem Text von Freinet, dem ‚Certificat d’Etudes‘, das er schon im jugendlichen Alter von 12 Jahren erworbenen hat, beendet wird.
Im Kapitel 9 untersucht Renate Kock die Häufigkeit von Schlüsselwörtern in der Textsammlung ‚Enfance‘. Kapitel 10 listet die verwendete Literatur auf und Kapitel 11 die benutzten Quellen.
Die Titel dieser Textsammlung sind
- Ein Dorf am Ende der Welt/Un village au bout de monde
- Die Schule/L’école
- Das Geschäft/Le magasin
- Meine Reisen/Mes voyages
- Madeleine/Madeleine
- Die Kinder aus dem Armenhaus/Les enfants de l’Hospice
- Das Seil, um mich zu schlagen/La corde pour me battre
- Die Handwerker/Les artisans
- Ich erfinde/J’invente
- Die Ankunft des Abgeordneten/ La venue du Député
- Frühling/Printemps
- Die Sonntage/Les Dimanches
- Die Religion/La religion
- Der Johannistag/La Saint-Jean
- Der Sommer/L’été
- Die Ernte/La moisson
- Der erste „Matrosenanzug“/La premiere „Matelotte“
- Die „Wasserlöcher im Fluss“/Les „Lones“
- Der Lavendel/La lavande
- Eine Woche in La Vachiére/On foule
- Der Herbst/L’automne
- Der Winter/L’hiver
- Die Spiele/Les jeux
- Das Geheimnis des Brotes/Le mystère du pain
- Weihnachten und Neujahr/Noël
- Das Studienzertifikat/Le Certificat d’Etudes
- Zusammenfassung/Sommair
Renate Kock: Nachwort – Freinet als Reformpädagoge
Sie bezeichnet es als nicht erklärbar, dass die Freinetpädagogik in der Diskussion um die Reformpädagogik systematisch ausgeblendet werde. Es fehle auch „die präzise Aufarbeitung der demokratischen und sozialistischen Reformpädagogik.“ (S. 203) Die Auseinandersetzung beschränke sich „auf die historische Analyse der Reformpädagogik als einer Epoche der Bildungsgeschichte und der argumentativen Teilhabe oder Kritik an einem reformpädagogischen Diskurs über die Nutzung dieser Ideen und Praxen für die gegenwärtige Reform von Erziehung und Schule“ (S. 202) Die Namen „wie Steiner, Montessori, Petersen, Neill würden als Gründergeneration in der Reformpädagogik neben aktuellen Fragen wie Bildungsreformen in der BRD, Reformpädagogik und Medien, Reformpädagogik und Ideologiekritik oder Reformpädagogik und Geschlecht behandelt. Sodann werden reformpädagogische Schulen heute beschrieben, wobei auch katholische und evangelische Schulen […] Eingang finden. […] Auch geraten aktuelle türkische Initiativen in den Blick, genau wie bereits bekannte Entwicklungen der bewegten Schule, der Bewegung offenen Unterrichts, der inklusiven Schule oder der interkulturellen Schule.“ (S. 203)
Dadurch werde das eigentliche Anliegen der Reformpädagogik vollkommen unkenntlich. Z.B. die Freinetpädagogik gerate so vollkommen zu Unrecht ins Abseits. Eine „präzise Aufarbeitung der demokratischen und sozialistischen Reformpädagogik“ (ebenda) finde nicht statt, ebenso wie ein „anknüpfen an die ‚education for all‘ – Bewegung aus den 1990er Jahren und der damit verbunden den gesamten sich inzwischen etablierenden Bereich einer südländischen Reformpädagogik, die nach 1990 in den Blick geraten ist.“ (ebenda)
„Es stellt sich damit umgekehrt eine Frage: nicht die Frage, ob nicht die reformpädagogische Bewegung im Sinne Oelkers eine geschichtliche Fiktion der geisteswissenschaftlichen Pädagogik sei (vgl. Idel/Ulrich 2017, S. 9) – warum sollte diese das Interesse an der Schaffung einer solchen gehabt haben, womit die These von der Trivialisierung der Reformpädagogik zum ‚déjà vu‘ nach Ullrich 1990 korrespondiert aber: ‚déjà vu‘ wovon ? -, sondern die Frage, inwieweit die moderne staatliche Pflichtschule überhaupt in den klassischen Bildungsdiskurs aufgenommen werden kann. Damit würde sich der Blick einerseits erneut auf die von Gieseke (1985) angestoßene Debatte um das Ende der Erziehung richten, andererseits wäre der Gegenentwurf einer monumentalen weltumspannenden Bildungserneuerungsepoche begründet.“ (Ebenda)
Giesecke schreibt: „Der reformpädagogische Elan der sechziger und siebziger Jahre, der die Kinder und Jugendlichen von den traditionellen Erziehungsmächten emanzipieren und die Gesellschaft humaner einrichten wollte, ist verflogen. Neue, wieder motivierende pädagogische Leitmotive sind nicht in Sicht.“ (Hermann Giesecke Das »Ende der Erziehung« Ende oder Anfang pädagogischer Professionalisierung? https://www-user.tu-chemnitz.de/~nean/Onlineartikel/Giesecke-Professionalisierung.pdf)
Hermann Giesecke fordert ’neue, wieder motivierende pädagogische Leitmotive‘ obwohl das Potential der Freinet-Pädagogik (https://freinet.paed.com) und anderen reformpädagogischen Konzepten, z.B. das von A.S. Neill und Summerhill (https://summerhill.paed.com) oder auch von neuen Konzepten wie der Offene Unterricht von Falko Peschel (https://offener-unterricht.net) – vor allem in Bezug auf die heute real existierende Schule – noch lange nicht ausgeschöpft ist. Die Emanzipation von den traditionellen Erziehungsmächten und die humanere Einrichtung der Gesellschaft scheint ehr noch in den Kinderschuhen zu stecken.
Auch die von Renate Kock angesprochene ‚monumentale weltumspannende Bildungserneuerungsepoche‘ ist bisher leider – zumindest in Deutschland – weitgehend unsichtbar.