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Besprechung: Umgang mit Unterschieden - FuV Heft 102

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Veröffentlicht am Freitag 17 Januar 2003 00:22:46 von Juergen
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fuv.jpgDieses letzte Heft der Berliner Redaktion widmet sich der Gleichheit ohne Aus-grenzung und Anpassung. Gleichsein bezieht sich auf die Schü-lerIn-nen - ohne Ansehen ihrer sozialen Herkunft. Das ist ja das Kuckucksei, welches die PISA-Studie ins schulpädagogische Nest gelegt hat.

Schon der erste Artikel von M. Bannach: Freie Arbeit als Spiegel kultureller Heterogenität, greift dieses Thema auf: "...in der schulischen Praxis zu versuchen, einen Unterricht zu organisieren, der sich anstatt an Gleichmacherei und Ausgrenzung (Lernen im Gleich-schritt - Lang-sa-me haben eben Pech) an der Vision des ‚Mit-ei-nan-ders der Ver-schie-denen‘ - auf der Basis gleicher Rechte" orientiert. Es geht um die "Päd-agogik der Vielfalt" und "Defizitgruppen": Mädchen, Behin-der-te und Mi-granten.

Themenarbeit, wie sie von Bannach vorgestellt wird, ist eine Unter-richtsepoche von ca. 4 Wochen, in denen die Kids in frei gewählter Sozialform wöchentlich bis zu 8 Stunden an ihrem Thema arbeiten. An-schließend wird präsentiert.

Bannach gibt einen Überblick über die selbstgewählten Themen (nicht nur der 6. Klasse). Mädchen interessieren sich für Biographien und den eigenen Körper, Jungen für Technik und Werken. Türkische Kinder befassen sich mit der Religion des Islam und Leistungsschwache mit ihren Stärken und (sozialen) Träumen.

Mit dieser über-ra-schen-den Erkenntnis ist man natürlich mitten im Dilem-ma: Nimmt man den Ansatz der selbstgewählten Themen ernst, wie wer-den dann Pro-ble-me der Geschlechtererziehung gelöst? Nimmt man die Geschlech-ter-erziehung ernst, muß man dann von den selbst gewählten Themen abweichen?

Natürlich bietet die Pädagogik der Vielfalt unbestritten die Möglichkeiten sich mit Themen der eigenen Wahl zu beschäftigen. Damit ist sicherlich schon einmal ein Schritt zum Aufbrechen des "Wir-lernen-alle-das-Gleiche-und-zwar-im-Gleichschritt". Aber die Frage nach dem Curri-culum, dem Stoffplan, die Frage nach der Leistungs-be-wertung in dieser Pädagogik der Vielfalt in dieser Lerngruppe in der Ausleseschule bleibt leider unbeantwortet.

M. Bannach hat im gleichen Heft eine Rezension zu Falko Peschels Offenem Unterricht veröffentlicht. Dort sind all diese Fragen angesprochen. Da steht zwar nicht Freinet drauf, aber da ist Freinet pur drin. Schade, daß dieser Aufsatz hier schweigt und schade auch, daß man nichts über die Rahmenbedingungen erfährt. Wie lehren die KollegInnen? Wie geht der Autor und wie die Schüler mit der Dis-kre-panz um, die zwischen geschlossenem Lehrgangslernen und freier Themenarbeit besteht? Ist womöglich Freinet nur etwas für den Freiraum, zur Auflockerung des wirklichen Unterrichts?


Auch die "Gedankensplitter" von A. Glänzel betonen das noch: "Das ist ja therapeutischer Unterricht" ruft eine Sonderpädagogin aus, wenn den Interessen der Kinder wirklich nachgespürt wird. Das beschreibt deut-lich, wie groß die Differenz zwi-schen Frei-net-Pädagogik und nor-ma-lem Schulalltag ist, den Unter-schied zwischen "Unterricht halten" und "Kinder beim Lernen beglei-ten".

Auch die Impulse der Freinet-Pädagogik für die Integration von H. Glänzel beschreiben eindringlich diesen Unterschied. Was kann ein Kind lernen, wenn man es lernen läßt, ohne das Korsett des "Normal-Unterrichts".

Es ist jedoch fast peinlich, wenn dann abschließend gesagt wird, Frei-net-Pädagogen wären ja wie alle anderen auch in Strukturen und ein-schränkende Bindungen gezwängt, ABER sie hätten ja Prinzipien und Ideale. Natürlich - aber haben denn die anderen LehrerInnen keine?

Das Schreibgespräch aus der Integrationspädagogik von Jenny Wieneke-Kranz setzt in der Beantwortung der Frage: Wie wird eine Klasse zu einer guten Gruppe? leider doch wieder die LehrerIn in den Mittelpunkt des Unterrichts: Sie garantiert die Rechte, sie ist Vor-bild, sie sieht alle. Und es wird nicht sichtbar, wie die Kinder den Unter-richt gestalten. Es bleibt der Eindruck, daß die LehrerIn doch alle Zügel in der Hand hält - obwohl der Eindruck täuschen kann. Obwohl, wenn die Lehrenden nicht mehr "das Lernen einflößen, sondern die Lernen-den sich den Stoff aktiv aneignen müssen/dürfen", wenn 'Kinder sich 'besinnen', in die Schule einfinden und bereit zum Lernen werden' wird der Verdacht schon fast zur Gewißheit, daß das Lernen eben nicht frei ist, sondern sich eben doch am Lehrplan orientiert, Schule eben doch fremdbestimmte Wissensagentur und nicht Haus des Lernens und Entdeckens ist.

Nicht mit der grauen Theorie befaßt sich die Besprechung von "Bildung als Abgrenzung und Normierung" von I. Dietrich. Recht deutlich wird Bildung unter dem Gesichtspunkt von Abgrenzung und Selektion untersucht. Wie schon in der Dissertation von Gomolka/Radtke: Die Institutionelle Diskriminierung" wird hier ausführlich dargelegt, wie Schu-le diskriminiert, ohne daß es die Lehrenden und die Schüler be-mer-ken. Es wird auf die Diskriminierung der Migrantenkinder auf-merk-sam gemacht, darauf, daß unsere Schule 'germanozentriert' sei. "Am liebsten würden wir Deu-t-schen unter uns bleiben."

Hier wird unter den Tisch gekehrt, daß zwar die MigrantInnen-Kinder beson-ders betroffen sind, aber die Selektion sich ganz grundsätzlich gegen "Die da Unten" richtet - und da gehören MigrantInnen eben auch dazu.

Auch der Beitrag "Globalisierung ist schön!" von der gleichen Autorin lenkt den Blick ebenfalls einseitig auf die MigrantInnen und weg von dem Ergebnis der Pisa-Studie: Unser Schulsystem selektiert sozial.

Der Zeit zwei Jahre voraus (zumindest in NRW) ist der Beitrag von Andi Honegger über die Mehrklassenschule: jahrgangs-über-greifenden Unter-richt. Der wird ja in zwei Jahren in der Grund-schule für die Klassen 1 und 2 verbindlich eingeführt. Dieser Schritt wird wie kein anderer bisher den Lerngleichschritt aufbrechen. Das Konzept des "Offenen Unterrichts" drängt sich geradezu auf.

Der Beitrag "Differenzierung" von B. Fleck ist eine Antwort auf einen Schritt der Berliner Schulverwaltung in die falsche Richtung. Statt äußerer Differenzierung werden die jetzt schon vorhandenen besseren Möglichkeiten der Schulen mit Unterschieden umzugehen beschrieben. Auch hier steht wieder der Lehrer im Mittelpunkt und macht und tut und die Kinder sind auf der anderen Seite und bekommen Kompetenzen vermittelt.

Ist das nur die Sichtweise von LehrerInnen oder ist es tat-säch-lich so, daß offener Unterricht eine Fiktion ist?

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