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Fragen und Versuche - Heft 98/Dezember 01 eingetroffen: Lernkultur

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Veröffentlicht am Donnerstag 27 Dezember 2001 07:03:48 von Juergen
paedcom.jpgLERNKULTUR ist das Schwerunktthema. Besonders aktuell, da ja PISA bescheinigt, daß es keine Lernkultur gibt: "Die Lehrer sind nicht wirklich an dem Lernerfolg ihrer Schüler interessiert" heißt es da im Urteil der SchülerInnen. Und die müssen es ja wissen. Um so wichtiger ist ein Heft zur Lernkultur bei den Freinetikerinnen, in dem diese reformpädagogische Lernkultur an Freinet-Schulen, in Freinet-Kindergärten, in Freinet-Klassen und auch an der Hochschule in Freinet-Seminaren beschrieben wird.

Dilemma des "normalen Unterrichts

Gleich im ersten Artikel wird das Dilamma der Lernkultur deutlich: "Die ortsansässige Musikschule (!) konnte mit einem Kind, daß E-Gitarre lernen und Rockmusik spielen wollte nichts anfangen." das die zuständige Grundschule da passen muß, wird schon gar nicht mehr als Besonderheit erwähnt. Nicht nur das Musiklehrer Mangelware sind, Musik zählt auch zu den "weichern Fächern" und steht weit hinter Deutsch/Mathe/Englisch zurück.

Den Kindern die Musik geben

"Also ich glaube es ist nötig, dass man auf der einen Seite die Wünsche der Kinder respektiert, ihnen erlaubt, sich auszudrücken, sich zu entwickeln sich zu verwirklichen, aber andererseits darf man unter keinen Umständen bernachlässigen, ihnen zu zeigen, was ihnen gefallen kann." (S. 6) Das ist für mich der zentrale Satz dieses Heftes, der für jedes Fach gilt, nicht nur für Musik. Der in krassem Gegensatz steht, zum Mainstream, der noch mehr "Leistung" fordert ohne zu überlegen, was "noch mehr Leistung" mit denen zu tun hat, die diese Leistung erbringen sollen.

Lernresistent aus Selbstschutz?

Es ist schon längst aus dem Blick geraten, daß SchülerInnen, die tagein - tagaus mit Stoff abgefüllt werden schon aus purem Selbstschutz eine Resistenz entwickeln müssen, eine Resistenz gegen für sie sinnloses, fremdbestimmtes Lernen. Man muß sich einmal das stoffliche Trommelfeuer bewußt machen, das alltäglich, allwöchentlich, allmonatlich auf die SchülerInnen im 45-Minuten-Takt einprasselt. Der einzige Bezug zwischen den "Lektionen" ist das bürokratische Bemühen, die Arbeitszeit der Lehrer auf die schüler zu verteilen. Da folgt Religion auf Sport und dann Doppelstunde Mathe, dann Englisch und dann noch Deutsch. Jeder Erwachsene würde schreiend davon laufen, wenn er 10 - 13 Jahre so Fortbildung machen müßte.

Fachsystematik untauglich als Lehrplan

Offensichtlich gilt: So sinnvoll auch die feinsinnig ausgeklügelten Fachsystematiken für das Fach auch sind, so untauglich sind sie als Richtschnur für den Lehrplan. Im Klassenraum helfen nur die Interessen von Schülern weiter, sie müssen sich die Projekte selbst aussuchen. Die Interessen der jeweiligen SchülerInnen müssen zum Lehrplan für sie selbst gemacht werden.

Klaus Glorian sagt: "Diese Arbeit in Projektform halte ich für die spannendste - und teilweise für die effektivste - Form des Mathematikunterrichtes. Mathematik wird zu einer wichtigen Hilfe, um Probleme zu lösen" (S. 8) Das gilt für jeden Unterricht. Englisch-Unterricht ist erst dann wirklich interessant, wenn die Sprachbeherrschung zum Werkzeug wird, einen Lied-Text zu verstehen, selbst einen Liedtext zu schreiben.

Kompetenzmaschine versus Lernhelfer

Es hebt auch die Schüler-Lehrer-Beziehung auf ein ganz anderes Niveau: Statt als Kompetenzmaschine, die ja immer schon alle Fragen weiß, alle Antworten darauf vorher schon kennt, aber die für die SchülerInnen wichtigen Fragen ausklammert, entsteht eine Gemeinschaft, in der jede SchülerIn an ihrem Projekt arbeitet - allein oder mit anderen an den für sie wichtigen Fragen arbeitet. Der Lehrer ist plötzlich eine Hilfe für auftretende Probleme, einer, der mit den Augen der SchülerIn den Sachverhalt betrachten muß, um zu verstehen, was da denn wirklich ausgedrückt werden soll.

Gefühle sind ja nicht bewertbar

Oder im nächsten Beitrag von R. Morper und A. Schraut über den Morgenkreis. Statt der typischen Ein-Wort-Antworten auf Lehrerfragen, bei denen richtig und falsch schon festliegen, werden da 17 eigenständige Wortbeiträge (!) von SchülerInnen in einer Stunde geleistet, 70 % der Kinder sind aktiv am Gespräch beteiligt, ja es wird zugehört. Leider wird nur in einem Satz erwähnt, daß: "der Morgenkreis ... zu einem unersetzlichen Unterrichtsmittel geworden [ist], der Spracherwerb und sozial-kommunikative Kompetenz gleichermaßen fördert." (S. 12)Erst Sätze später findet sich - ganz subjektiv gehalten - der Satz: "Der Mut, sich sprachlich zu äußern und die Freude an der Mitteilung sind für diese Art von Morgenkreis für mich wichtiger als sprachlich einwandfreie, jedoch von Angst gehemmte und stockend vorgebrachte Äußerungen." (Ebenda) Aber dieses Gefühl für die Kinder entzieht sich einer Bewertung von eins bis sechs und taucht daher an der Regelschule gar nicht mehr auf, schon die Gelegenheit wird gar nicht geschaffen und wenn, dann zählt sie im Blickwinkel der Bewertung gar nicht.

Einen anderen Aspekt beschreibt Gitta Kovermann in ihrem Artikel: "Feuer und Flamme - forschendes Lernen in Projekten": Die Kinder öffnen sich, verbalisieren Ihre Gefühle von Traurigkeit über den Tod der Uroma, von schmerzlichen Erlebnissen nach einer Operation, von Verlassenheitsgefühlen ... . die Kinder erfahren hier im Klassenraum hohe Wertschätzung untereinander. Sie geben sehr persönliches von sich preis und entwickeln ein besseres Verständnis füreinander. Dies ist eine wesentliche Grundlage um Kooperations- und Beziehungsfähigkeit in der Klasse zu erleben." (S. 47) Im Lehrplan der Regelschule steht so etwas zwar im allgemeinen Teil, verschwindet aber im Schulalltag aus dem Blickfeld, weil doch für die nächste Vergleichsarbeit geübet werden muß, damit man im PISA-Ranking nicht wieder im letzten Drittel zu finden ist.

Lernvereinbarung?

Auch der Beitrag von Glänzel/Uessler zur Lernvereinbarung und Lernbegleitung an der Stadt-als-Schule Berlin legt in seiner Ausführlichkeit ein Zeugnis ab, wie groß die Kluft zwischen RegelschullehrerIn mit Ihrer Auffassung von Unterricht und diesem Reform-Konzept ist: "Die Lehrer begleiten die Jugendlichen in den individuellen Lernvorhaben" (S. 14) und nicht: Die Lehrer begleiten die SchülerInnen bei der Bearbeitung von vorgegebenen Units. "Der Lehrplan als Instrument individueller Zielvereinbarung macht diese Art von Bewertung möglich: Sind die vereinbarten Ziele erreicht, teilweise erreicht oder gar nicht erreicht worden?" (S. 16) und nicht: Der Lehrplan mit seinen mehr oder weniger detaillierten Vorschriften ist Maßstab dafür, ob SchülerInnen genug leisten. Hier wird der Unterschied zwischen Regelschule und Reformschule besonders deutlich: Die Regelschule vergleicht die von Erwachsenen gesetzten Leistungen von Kindern und trifft dadurch letztendlich eine Auslese. Die Reformschule vergleicht die selbst gesetzten Ziele der Kinder mit dem erzielten Ergebnis, das die Kinder erreicht haben und schafft dadurch die Grundlage für ein wirkliches Selbstbewußtsein: Das habe ich geschafft.

PISA stellt fest, daß ein Drittel aller Schülerin eine negative Schulkarriere haben. Was für furchtbare Anstalten!

Warum wird die Lernkultur der Reformschulen nicht beachtet?

Es sind noch mehr Artikel, die hier besprochen werden müßten, die jedoch alle im wesentlichen drei markante Gemeinsamkeiten haben:

1. Die Lehrer sind zwar überzeugt von ihrer Methode, aber sie sind sich bewußt, daß sie in Bezug auf den Mainstream krasse Außenseiter sind. Fehlt Ihnen daher möglicherweise das Selbstbewußtsein die Vorzüge und die Erfolge auch als Ergebnis der Lehrmethode zu beschreiben? Meist wird die Ich-Form gewählt und damit erscheint auch das Beschriebene als subjektive Erkenntnis ungerechtfertigt gering bewertet gegenüber den in allgemeiner Darstellung gehaltenen Ergebnissen der "Regelforschung".

2. Es fehlt eine systematische Anwendung in der Lehre des Lernens an den Universitäten im Sinne eines "Learning by doing". Qualität der Lehre wird immer noch daran gemessen, wieviele StudentInnen durchfallen (hartes Studium) und über den heimlichen Lehrplan wird gelernt: Ohne Dozent/LehrerIn als zentrale Person in der Vorlesung/im Seminar/im Unterricht geht es einfach nicht. Dabei wird hier nur der Methodenmonismus von DozentInnen weitergeben. Die Projektmethode ist bestenfalls Seminargegenstand, nicht aber Organisations- und Lernprinzip der Lehrerausbildung. Immer noch hat an vielen Unis Pädagogik in der Lehrerausbildung mehr mit den persönlichen Steckenpferden der Dozenten zu tun als mit einer systematischen Vorbereitung auf den Schulalltag. Es werden halbe Fachwissenschaftler ausgebildet, aber keine ganzen Lehrer.

3. Von den schreibenden LehrerInnen aus Hochschule und Schule reflektiert kaum jemand die Rahmenbedingungen, unter denen so ein anderes Lernen stattfindet. Es ist zwar auf jeder Seite spürbar, daß hier etwas ganz anders läuft, aber wie sich dies zu dem Rest der Organisation verhält bleibt ausgeblendet. Damit bleiben die Schwierigkeiten, denen sich jeder ausgesetzt sieht, der auch diesen Weg gehen will im Dunkel und damit persönliche Unfähigkeit.

Es geht nicht mehr und nicht weniger um "den Respekt vor den anderen Menschen, vor den SchülerInnen, vor dem Kind." (S. 53) Der aber gerät in der normalen Schule in fast allen Fällen unter die Räder der Verwaltung und wird zwischen den Mühlsteinen der Forderung nach meßbarer Leistung und beurteilbarem Lehrerverhalten durch die Schulobrigkeit (bewußt nicht Schulaufsicht) zerrieben. Nur wer seine Niesche im Betrieb gefunden hat kann dem permanenten Rechtfertigungsdruck von Eltern, Kollegen, Schulleitung und Schulaufsicht standhalten. Nur in der Grundschule, zum Teil noch in der Sek I, selten jedoch in der Sek II und an der Hochschule kann der Spagat durchgehalten werden, im Gegenteil, je älter die SchülerInnen sind, desto mehr verstärken sie den Druck mit der Forderung nach effektiver, prüfungsrelevanter Lehre. Leider stoßen auch Eltern in dieses Horn. Aus vielen Reformschulen wird berichtet, daß bereits in der ersten Klasse die Forderung erhoben werde, die Kleinen gehörig herzunehmene, damit die auch das Abitur schaffen.

In der Regelschule muß man schon ein recht wasserdichtes Konzept haben, man braucht Kollegen oder wenigstens die Eltern auf seiner Seite, wenn man vom Pfad des pädagogischen Mainstreames abweichen will. Wenn Schwierigkeiten auftreten ist es wie bei James Bond: Man kann nicht mit Unterstützung von offizieller Seite rechnen. Gar zu tief ist die gültige Maxime: Friß Vogel oder stirb!" in den Köpfen verankert. PISA bescheinigt, daß statt Fördern nur die Meßlatte zählt. Statt SchülerInnen ein "Haus des Lernens" zur Verfügung zu stellen, wird die Meßlatte ein Stück höher gelegt, um die SchülerInnen an Ihre Grenzen zu führen. Es zählen nicht die blutigen Nasen, die Knochenbrüche, die verkorksten Seelen, sondern die wenigen, die das richtige soziale Sprungbrett haben.
Im gleichen Geist wird behauptet, mit der Bergpredigt könne man keine Politik machen.

Interessanter Weise finden sich dazu zwei Beiträge, die einen Zipfel dieses Dialoges aufnehmen - eingekleidet in ein fiktives Gespräch zwischen F. Weinert und C. Freinet an der Himmelsbar. Der umfangreiche Anmerkungsapparat gibt viele wichtige Hinweise auf andere, alternative Forschungsergebnisse aus der Praxis der Reformschulen Doch wird aus der Anlage der Beiträge einmal mehr deutlich, wie sehr diese Diskussion nur als Insider-Diskussion geführt wird. Der himmliche Disput bleibt unirdisch. Fehlt die empirische reformpädagogische Forschung? In den Hochschulseiten von freinet.paed.com findet ein wißbegieriger Studi jedenfalls keinen Hinweis und kein genervter Referendar keine Hoffnung auf Entsatz.

In diesem Zusammenhang wird auch der Beitrag von Anton Strobel interessant, der leider als unkommentiertes Fragment eines Briefwechsels abgedruckt ist und der so auch die Problematik der reformpädagogischen Misere beleuchtet. Anton Strobel beschreibt Variationen in seinen "natürlichen Mathematik-Klassen". Er hat das Glück, zwei parallele Gruppen zu führen und kann daher den 'Normalverlauf' von 'Abweichungen' einfach unterscheiden und draus pädagogische Rückschlüsse ziehen. Parallelgruppen sind in anderen pädagogischen Forschungsbereichen Standard - umgekehrt wohl auch ein Hinweis darauf, warum wichtige Erkenntnisse oft so vorsichtig formuliert werden.



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