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Henri Portier: Kino und Freinet-Bewegung

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Veröffentlicht am Montag 08 Januar 2007 20:10:41 von Juergen
Dieser Artikel wurde von Jürgen mitgeteilt
ch.jpgPeter Jakob: Viele Leute wissen nicht, dass, was man gemeinhin die Freinet-Bewegung nennt, mit dem Kino geboren wurde und dass seit 1927 sich eine Cinémathèque Coopérative de l’Enseignement Laïc gebildet hat. Ihr Sitz war in Bordeaux, sie wurde von einer Gruppe syndikalistischer Lehrer und Lehrerinnen geführt, Mitglieder der Fédération Unitaire de l’Enseignement (welche zur CGTU gehörte), deren pädagogisches Presseorgan „L’École Émancipée“ war/ist. Diese 1910 gegründete Revue überdauert noch bis in die heutigen Tage und ist ein Abbild der kämpferischen revolutionären Gewerkschaftsbewegung im Lehrerbereich.
Henri Portier
1 Gründung der Cinémathèque

Am 16. Januar 1927 schlug Célestin Freinet in der gewerkschaftlichen Revue « L’Ecole Emancipée » als Idee eine Untergruppe « Cinémathèque Coopérative des Films Pathé-Baby» im Rahmen der Gewerkschaft vor und lancierte eine Umfrage bei den Lehrern, die schon eine Kamera Pathé-Baby besassen.

Am Ende des Gewerkschaftskongresses der Fédération Unitaire vom August 1927 in Tours versammelten sich die ersten Anhänger der „Schuldrucker“ um Célestin Freinet zu ihrem ersten Kongress und entschieden sich, formell diese Cooperative zu gründen. Célestin Freinet präsentierte den Kongressteilnehmern zwei kleine Filme mit dem Titel „Die Schüler von Bar-sur-Loup an der Arbeit“, die er selbst mit einer Pathé-Baby (Format 9,5mm) gedreht hatte und die seine Schüler zeigten, wie sie ihre Texte setzten und auf einer kleinen rudimentären Druckerei abzogen.

Offiziell wurde die « Cinémathèque Coopérative de l’Enseignement Laïc » am 27. Oktober 1927 von vier Lehrer/innen aus der Gironde gegründet.
Auf dem Gewerkschaftskongress im August 1928 in Paris nimmt diese Cinémathèque-Gesellschaft die anderen Aktivitäten der Schuldrucker-Bewegung (Druckerei, Radio, Schallplatten) auf und wird zur Coopérative de l’Enseignement Laïc (CEL). Der Sitz bleibt in Bordeaux und die Vorstandsmitglieder stammen aus der Gironde, hingegen bewahrt jeder Aktivitätszweig sein autonomes Funktionieren. 1929 werden 16111 Filme à 10 m versendet sowie 193 Rollen à 100 m, die Ausleihen verzeichnen in den kommenden Jahren eine regelmässige Zunahme.
Im täglichen laizistischen Kampf gegen die religiösen Schulen ist zudem das Kino (mit Dokumentar- oder Fictionsfilmen) ein wirksames Mittel, um ein breites Publikum bei Aufführungen ausserhalb der Schulzeit zu bewegen.

2 Das Kino und die schulische Korrespondenz

Man kann leicht die Schwärmerei dieser kämpferischen, mehrheitlich jungen Lehrer/innen (C. Freinet ist 31 jährig) verstehen, die ihre Schüler/innen, vorwiegend aus ländlichen Gegenden, von den technischen Fortschritten ihrer Epoche profitieren lassen wollten.

Zum Schulanfang 1926 haben Célestin Freinet und René Daniel mit einer regelmässigen Korrespondenz zwischen den Schülern von Bar-sur-Loup und St-Philibert begonnen, neben dem Austausch von Gedrucktem hat es auch Pakete, diese enthalten Geschenke aus den Regionen (die Bretonen schätzen die Oliven zwar weniger, die Provenzalen hingegen bewundern die Crèpes aus der Bretagne) oder Objekte, Fotos ... Freinet schickt kleine Filme, welche den verblüfften kleinen Bretonen ihre provenzalischen Korrespondenten in ihrer natürlichen Umgebung in Bewegung zeigen. René Daniel leiht sich seinerseits eine Kamera beim departementalen Komitee der Action Laïc von Finistère aus und filmt am 9. Juli 1927 seine Schüler, wie sie ihre Fischer-Eltern im Hafen von Trévignon empfangen und sich einer nach dem anderen mit seinem Gesicht vor der Kamera präsentiert. Dieser Stummfilm wird mit geschriebenen Kommentaren nach Bar-sur-Loup und dann nach St-Philibert zurück geschickt. Der folgende Text ist an ihre Korrespondenten gerichtet:

„MAN HAT UNS GEFILMT. Gestern sind wir an den Strand gegangen um gefilmt zu werden. Wir waren glücklich, wir lachten beim daran denken, dass ihr uns bald sehen werdet, wie wir uns bewegen, lachen, rennen. Wir liefen in Einerreihe vor dem Apparat und haben euch gegrüsst. Dann rannten wir über den Sand. Der Regen hat uns überrascht, er hat uns vom Strand vertrieben. Wir waren ganz durchnässt.“


(Dieser 3-minütige Film ist ohne Zweifel weltweit der erste erhaltengebliebene der zwischenschulischen Film-Korrespondenz, da die von Freinet gedrehten Filme verschwunden sind. Es ist auch der erste Film über diesen bretonischen Hafen, alle Schiffe haben noch Segel)


3 Die CEL produziert Filme

Ein Ziel der Kooperative ist es, auch selbst pädagogische Filme zu produzieren. Anlässlich eines Gewerkschaftskongresses treten Freinet und Boyau in Kontakt mit Michel Collinet, einem Mathematikprofessor und Freund einer Gruppe von jungen Surrealisten, unter denen ist ein Cinéast mit Namen Yves Allégret. Das Projekt eines Kurzfilmszenarios mit sozialem Charakter wird dann auf die Beine gestellt: daraus wird „Prix et Profits“ (Preis und Profit), auch „La pomme de terre“(Die Kartoffel) genannt.

Dieser Dokumentarfilm übernimmt das Muster einer klassischen Studie, das im 19. Jahrhundert von Proudhon verwendet wurde, um die Mechanismen des Profits aufzuzeigen, indem der Kreislauf eines Produktes vom Hersteller bis zum Käufer und des bei jedem Schritt höher werdenden Preises verfolgt wird, hier am Beispiel einer Kartoffel. Die Szenen erlauben auch, das schwierige tägliche Leben einer Bauern- und einer Arbeiterfamilie sowie die kapitalistische Ausbeutung zu zeigen, aber auch die bürgerliche Ideologie, welche die Schulbücher jener Epoche beherrscht.

Für die Realisation fragt Yves Allegret seine Kumpanen der Gruppe Lacoudem: Marcel Duhamel, Jacques und Pierre Prévert (die etwas später die Agit-Prop-Gruppe „Octobre“ bilden werden), sowie Eli Lotar (welcher ein Jahr später die Fotos zum Film „Las Hurdes“ von Luis Buñuel machen wird). Für die Rolle der Arbeiterfrau überzeugt er die junge Tänzerin Isabell Kloukowski, für die Rolle des Mädchens fragt er den Maler André Masson um dessen Tochter Lily an. Da er auch einen Schauspieler in reiferem Alter braucht, überzeugt sein Film-Kollege Jean Tarride seinen Vater Abel Tarride (66 jähriger Schauspieler, u.a. 1921 im Film „Pour Don Carlos“), die Rolle des Bevollmächtigten der Halles de Paris zu spielen.

Der Film wird 1932 fertiggestellt und im August präsentiert ihn Yves Allégret am Gewerkschaftskongress in Bordeaux, dessen Hauptorganisatoren Odette und Rémy Boyau auch die Verantwortlichen der Cinémathèque CEL sind. Die Kongressteilnehmer/innen nehmen den Film sehr lebhaft auf.

Rémy Boyau stellt den Film in einem langen Artikel (mit Fotos) vor im Oktober 1932 in der Nummer 1 von „L’Éducateur Prolétarien“ . Dies ist die neue Zeitschrift des Mouvement Freinet, die mit dem Schuljahrbeginn den alten Titel “L’Imprimerie à l’École” in einen kämpferischeren Titel wandelt. Angekündigt wird der Film als exzellente „Propaganda für alle Werke der Arbeiterschaft und der Kooperativen“, verkäuflich als 550 Meter im 33mm-Standardfilmformat, aber auch im reduzierten Filmformat 9,5mm (von Pathé-Baby) in 30 Rollen à 10 Meter oder 15 Rollen à 20 Meter ...unter der Bedingung, dass mindestens 100 Subskriptionen (zum Preis von 360 bis 720 F) eingehen.

Anderseits ist der Enthusiasmus von Boyau rasch abgekühlt, weil sein Appell für 100 Subskriptionen wenig Echo fand.
« Prix et Profits » wird dann auch von der “Groupe Octobre” benutzt....

Die Presse der politischen Rechten und Extremen Rechte beginnt diesen Film zu attackieren durch Artikel im „L’Écho de Paris“, und in “L’Action Française”... Dies als Vorspiel für die weit gespannte Aktion, welche Charles Maurras persönlich im Dezember 1932 lanciert gegen den Lehrer Freinet in St-Paul de Vence, verstärkt durch alle reaktionären Provinzzeitungen.

In der Tat, in dieser Periode des Aufstiegs der faschistischen Diktaturen, die in Frankreich im Februar 1934 seinen Höhepunkt erreichen wird, passte es gut, denjenigen zu bekämpfen, der eine Bewegung der revolutionären Pädagogik belebte, der sich als Verstärker verstand und der es in diesem 1932 wagte, sich einerseits mit Publikationen für Kinder (es erscheint im Februar das erste Heft der Bibliothèque de Travail) zu beschäftigen und andererseits im Oktober eine Zeitschrift mit dem Titel “L’Éducateur Prolétarien” zu lancieren sowie als drittes einen Film “Prix et Profits” zu produzieren, der den Kapitalismus entlarvt.

Es wird die “Affaire Freinet de St-Paul” (1932/33) sein, die Freinet trotz einer starken Mobilisierung der republikanischen und laizistischen Kräfte zwingen wird, freiwillig den öffentlichen Schuldienst zu quittieren, aber auch im Jahr 1935 das Experiment der Ecole de Vence zu schaffen.

Wir bemerken auch, dass praktisch alle Lehrer, welche die Cinémathèque CEL anführten, unmittelbar darauf ähnliche Attacken wie Freinet erlitten. Es war also sicherlich nicht ein simpler und unglücklicher Zufall.

4 Die Freinet-Pädagogik als Film-Objekt

Im Jahre 1946 macht Jean-Paul Le Chanois einen Besuch bei der Ecole Freinet in Vence. Dieses ehemalige Mitglied der “Groupe Octobre” der 30er Jahre, ist ein aktives Mitglied der Kommunistischen Partei PCF und kennt Freinet’s Ruf seit langem, auch über die Erfahrungen seiner Freunde am Film „Prix et Profits“, zudem hatte seine Freundin Suzanne Cointe eine herzliche Beziehung zur Ecole de Vence, wo ihr Neffe im Internat lebte. Im Gedenken an diese durch die Nazis in Berlin enthauptete Widerstandskämpferin (vgl. L’orchestre Rouge) trifft Le Chanois Célestin und Elise Freinet. Das Filmprojekt “L’École Buissonnière” nimmt Gestalt an. Elise schreibt am Szenario (publiziert mit Filmfotos im BT Nr 100; 1950). Der Film wird produziert von der Coopérative Générale du Cinéma Français CGCF, unter der Kontrolle der PCF. Die Aufnahmen finden mit zahlreichen Kindern der Ecole Freinet im Freien in der Nähe von Vence und im Studio in Nizza statt. Der Film erzählt in Form einer Romanze einen Teil des Lebens von Célestin Freinet: von den Anfängen der Schuldruckerei bis zur Affäre von St-Paul. Aber mit einem generösen Happy End, zum Ruhm der laïzistischen Schule und der Neuen Erziehung.

Unterdessen entwickelt sich gegen Ende 1948 ein schwerer Konflikt zwischen Freinet und der PCF, während der Film vollendet wird. Die Freinets haben ihre Mitgliedschaft bei der PCF suspendiert aufgrund von Feindseligkeiten, die sich gegen sie richten, weil sie sich weigern, das 1947 gegründete ICEM und die CEL den Bewegungen der PCF einzugliedern. Die Filmgesellschaft CGCF zwingt Le Chanois, den Namen Freinet vom Vorspann zu streichen. Später (1952) wird die CGCF verurteilt, wegen Nicht-Einhalten des Vertrags, dem Vorspann anzufügen: “Matériel scolaire et do*****ents de l’Institut Coopératif de l’Ecole Moderne. Techniques Freinet Cannes”, sowie “Dieser Film ist gewidmet : Mme Montessori (Italie), Pestalozzi (Suisse), Ferrière (Suisse), Bakulé (Tchécoslovaquie), Decroly (Belgique), Freinet (France).

1949 kommt “L’École Buissonnière” in die Kinosäle und wird sehr grossen Erfolg haben, sowohl in Frankreich als auch im Ausland. (1. Preis Festival Knock-le-Zout; Preis Festival Karlovy Vary; unter dem Titel „Passion for Life“ bester Auslandfilm in den USA). Mit einem exzellenten Bernard Blier in der Rolle des Lehrers Monsieur Pascal (= Freinet) wird der Film zu einem vorzüglichen Propagandaargument für die Darstellung der pädagogischen Ideen der Ecole Moderne.

In der Zeitschrift L’Educateur Nr. 10 vom 5. Februar 1949 warnt zwar Freinet:

    „Dieser Film ist nicht gerade ein Film über unsere (pädagogischen) Techniken, den die Kameraden erwarten ... aber ein an das grosse Publikum gerichteter, den der Regisseur natürlich etwas romantisiert hat und vor allem wegen der Gefahr eines Boykottes musste er wesentliche Elemente des Dramas auslassen: die Laizität, der Kampf der Kirche, die Untertöne der reaktionären Politik... Der Regisseur hielt sich vor allem daran, dem Publikum die psychischen und humanen Vorteile unserer Techniken zu zeigen, einer Pädagogik auf der Basis der Interessen und Bedürfnisse der Kinder. Und es ist ihm, meiner Ansicht nach, perfekt gelungen.(....)"


1996 wurde aus Anlass des 100. Geburtstages von Freinet ein Film-Hommage gedreht und am Fernsehen gesendet: „Les enfants d’abord“, ein zweistündiger Dokumentarfilm gedreht von der Schwedin Suzanne Forslund in Co-Produktion mit TV-Sendern in Frankreich, Schweden und Kanada (und Klassen aus den drei Ländern).

Im gleichen Jahr 1996 produzierte die ICEM und die PEMF (ex-CEL) einen 52-minütigen Dokumentarfilm „Le Mouvement Freinet“, realisiert von Henri Portier.

Dieses cinématographische Erbe der Freinet-Bewegung wurde in einem Doppel-DVD-Köfferchen und einem 16-seitigen Büchlein zuammengefasst:
« L’École buissonnière ». Herausgegeben von Doriane Films : www.dorianefilms.com

Henri PORTIER (ICEM, atelier Cinéma)
(Übersetzung P. Jakob)

Henri Portier : Extraits de sa Contribution au Colloque Universitaire de Saint-Etienne du 24/11/2000 :
« Cinéma-École : Aller-Retour ».
( éd. : Publications de l’Université de Saint-Étienne – 2001 )

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