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Reformpädagogik Konkret: Leben und Werk des Lehrers Carl Friedrich Wagner

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Veröffentlicht am Sonntag 04 Juli 2004 05:26:36 von Juergen
paedcom.jpgAdrian Klenner hat eine umfangreiche und sehr lesenswerte Dissertation über den Hamburger Reformpädagogen Carl Friedrich Wagner vorgelegt und gleichzeitig einen tiefen Einblick in die Gedankengänge der ‚Pädagogik vom Kinde aus‘ gewährt. En passant wird auch die Versuchsschule an der Telemannstraße 10 vorgestellt, an der die damaligen einzelnen Reformgedanken an einer Schule gebündelt umgesetzt wurden: Arbeitsunterricht, Schülerselbstverwaltung, selbständiges Arbeiten, Schullandheim, Koedukation, Kunsterziehungsbewegung, Schulgemeinde. In der Telemannstraße ist von 1919 bis 1933 daraus eine gelungene, funktionsfähige und hochinteressante Schule gestaltet, die auch heute noch ihresgleichen sucht und als Referenzschule dienen könnte. Der Ansatz weißt viele Parallelen zur Pädagogik C. Freinets auf: Vor allem im "Freien Ausdruck", im "Arbeitsunterricht" und in der "Präsentationen der Arbeitsergebnisse". Eine ausführliche Darstellung mit Vergleich zur Freinet-Pädagogik ist in Vorbereitung.

Wagners Verdienst ist es, den alltäglichen Unterricht aus seiner Wissenshierarchie (Lehrer weiß alles und belehrt die unwissenden Schüler) zu befreien und die gleiche Augenhöhe von Schüler und Lehrer im Lernprozeß herzustellen. Der Lehrer ist nicht Showmaster, der Lernprozesse moderiert, sondern Kamerad der Schüler, der die Schüler darin unterstützt, ihren Lerneifer zu befriedigen. Carl Rogers (Lernen in Freiheit) hat dafür den Begriff „Facilitator“ geprägt, jemand, der ohne eigene Ziele im Hinterkopf Schülern hilft, ihren eigenen Lerninteressen zu folgen und dabei erfolgreich zu sein. Falko Peschel (Offener Unterricht, 2000) hat in einem 4-jährigen Versuch an einer Grundschule belegt, daß Schüler auf diese Art viel mehr als sonst lernen, auch dann, wenn das herkömmliche Schulsystem für sie schon die Umschulung an die Sonderschule vorgesehen hat. Wagner hat sich mit seinem Reformunterricht auch in den schwierigen Nachkriegsjahren bewähren können, in denen nicht nur die äußerst desolate Schulsituation (es fehlte an allem) zu bewältigen war, sondern eine Generation Kinder mit schlimmsten Kriegserfahrungen, großen Unterschieden im ‚Lernstand‘ und mit durch die (Kriegs-)Verhältnisse vor 1945 geprägten Sozialverhalten (Verwahrlosung) in die Schulen drängten bzw. gedrängt wurden.

Vieles von dem, was die Lehrer damals entwickelten, entstand vor dem Hintergrund des Unterrichts im Kaiserreich. Vieles, was die Lehrer damals entwickelten, ist an heutigen Schulen selbstverständlich: Verzicht auf die Prügelstrafe, Koedukation, ...) . In vielen Punkten hat die Schulentwicklung nach 1945 jedoch gegenüber der Reformpädagogik einen rückschrittlichen Weg eingeschlagen (Selbstverwaltung, Selbsttätigkeit, Arbeitsunterricht, ...).

Möglicherweise sind die Probleme der Schule heute - nicht erst seit PISA - auf diesen unterschiedlichen Denkansatz von Schule zurückzuführen. Es muß doch zu denken geben, daß Chancengleichheit über Jahrzehnte intensiv propagiert wurde und PISA jedoch gezeigt hat, daß dieses Konzept fast ohne jede sichtbare Spur in der Gesellschaft geblieben ist, ja negative Erfolge zeitigt: Politikverdrossenheit, . Der Versuchsschule an der Thelemanstraße ist - und das legt Klenner überzeugend dar - es jedoch gelungen dieses Konzept (ohne den Begriff zu kennen) ausgesprochen effizient zu realisieren.

Wagner hat nach 1945 versucht, seinen Ansatz auch für andere Fächer zu entwickeln. In einem wahren Feuerwerk entwickelt er Konzepte für Zeichnen, Schwimmen, Deutsch, Handfertigkeit, Plattdeutsch, Englisch, Rechnen und Physik. Doch der Krieg hat zuviel zerstört, als daß die Kollegen nach 1945 darauf eingehen wollen oder können. Sie scheinen ihn gar nicht zu verstehen - oder wollen ihn nicht verstehen. Restaurative (hierarchische) Schulgesetze erteilen der Selbstverwaltung eine deutliche Absage - der Schulleiter leitet wieder die Schule ohne wenn und aber. Es herrscht eine große Einigkeit darüber, daß man den Kindern nun (mit den didaktischen Konzepten des Kaiserreiches und den Lehrern aus der Hitlerzeit) die „richtigen (demokratischen) Inhalte“ eintrichtern muß, „auf daß so etwas wie Auschwitz nicht noch einmal sei“.

Kein Gedanke wurde daran verschwendet, daß gerade diese (hierarchi-sche) Lernkonzeption das deutsche Schulsystem langfristig in die Irre führt.

Es ist eine Stärke und zugleich ein Manko dieser hervorragenden reformpädagogischen Dissertation, daß Klenner konsequent einen soziohistorischen Ansatz für seine Untersuchung wählt. Was sich als überaus tragfähiges Konzept zur Darstellung des Lebens von Wagner vorstellt, erweist sich als fragwürdig, wenn es um die Beurteilung seines Lebenswerkes geht.

Schon in der Arbeit selbst muß Klenner Exkurse über die Zeit des Kaiserreiches, über die Schule ... einfügen und damit seinen gewählten Untersuchungsansatz erweitern. Vollends falsch wird es nicht - aber einseitig subjektiv - wenn er Wagner als verbittert darstellt, als nach dem Kriege mit seinen Ideen gescheitert.

Man erhält durch die Darstellung Klenners allerdings den Eindruck, daß die Ideen Wagners in der Tat nach 1945 überholt gewesen seien, Schnee von vorgestern und daß nun Platz für ‚moderne‘ Konzepte sein müßte. Außerdem hält Klenner Wagner vor, daß viele Ideen der Reformpädagogik in die Hamburger Schulgesetzgebung eingeflossen sind. Wagner selbst habe die Schuld, wenn er die neuen Kollegen nicht überzeugen konnte, zu verbissen an seinen alten Versuchsschulbedingungen festgehalten habe. Das unausgesprochene Verdikt lautet salopp formuliert: ‚Altersstarrsinn‘.

Damit wird Klenner weder der Versuchschule noch Wagner gerecht.

Dieser kämpft auch nach 1945 für eine Pädagogik „vom Kinde aus“ und eine Schule, die für das Kind da sein müsse. Und er bekämpft ganz konsequent jede Entwicklung, die das Kind in eine Objektrolle drängt.

Wagner ist damals (leider) nicht bewußt, oder er kann es nicht vermitteln, daß eine Organisationsform nicht mit den Zielen der Organisationsform kompatibel sein muß. Die hierarchische Organisationsform von Schule ist nicht mit ihren demokratischen Zielvorstellungen kompatibel. Auch wenn das in jeder Präambel und jeder Schulverfassung steht.

Wenn Wagner unkonziliant gegenüber anderen Kollegen und Schulorganisationsformen ist, dann deswegen, weil seiner Erfahrung nach ein bißchen Demokratie in Erziehung und Schule nicht geht - genausowenig wie man nur ein bißchen Schwanger sein kann. Wagner setzt sich daher konsequent für die Anknüpfung an die Hamburger Versuchsschule (mit Schülerselbstverwaltung und Arbeitsunterricht) ein, weil ihm bewußt ist, daß jeder Abstrich das Prinzip „vom Kinde aus“ beschädigt und verwässert.

Ausführliche Besprechungen finden sich ab 12.7. im Internet unter

Rezensionen für die Freinet-Pädagogik

Die Dissertation (2002) an der Universität Hamburg (Carl Friedrich Wagner und seine Tätigkeit an der Hamburger Versuchschule Telemannstr. 10) ist 2003 im Verlag Dr. Kovac in der Reihe Hamburger Schriftenreihe zur Schul- und Unterrichtsgeschichte erschinen. Herausgeber und Betreuer war Prof. Dr. Reiner Lehberger). Korrektur laß Dr. Jörg, Berlin. ISBN 3-8300-1018-4.

Jürgen Göndör

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