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Hering/Hövel: Immer noch der Zeit voraus (2)

Rezension von Anton Strobel, 11.4.2002

Kindheit, Schule und Gesellschaft aus dem Blickwinkel der Freinet-Pädagogik - eine Buchbesprechung von Anton Strobel

Das Buch, das zum 100. Geburtstag von C. Freinet herauskam, hat einen recht anspruchsvollen Titel, wenn man bedenkt, daß in diesem Buch Texte einer Pädagogik abgedruckt werden, die Freinet schon nach dem. 1. Weltkrieg formuliert hatte und die lange Zeit dem Leser nicht mehr zugänglich waren. Ich frage mich: Wenn das, was ein französischer Volksschullehrer vor 60 Jahren geschrieben hatte, an der Schwelle des 21. Jahrhunderts wirklich noch der Zeit voraus sein sollte In diesem Schriftwerk fehlt völlig die Terminologie der aktuellen wissenschaftlichen Pädagogik.


Auch die Überschriften zu den einzelnen Texten wirken recht simpel:

    Schluß mit den Schulbüchern
    Verlaßt die Übungsräume
    Die Schwätzer
    Vom Pferd das keinen Durst hat
    Adler steigen keine Treppen.

Dem Leser, der ebenso skeptisch wie ich an dieses Buch herangeht, möchte ich anheimstellen, irgendwo in dem Buch einmal 2 bis 3 Seiten anzulesen. vielleicht entzündet sich bei ihm eine ebenso große Faszination wie bei mir, die zum Weiterlesen animiert und so die anfänglichen Vorbehalte gegenüber diesem Buch ad absurdum führt. Freinets einfache Sprache tut richtig gut, weil er dennoch durch sie Substantielles ausdrückt. Ich hätte mir gewünscht, daß mir diese Texte schon früher zugänglich gewesen wäre, da sie mich vor allerlei pädagogischen Dummheiten bewahrt hätten.

In dem Buch schreiben auch heutige Autoren, die sich der Freinet-Pädagogik verpflichtet fühlen. Wir erfahren etwas über Lernwerkstätten, warum sich Lehrerlnnen dort treffen, wie sie durch kooperative Arbeitsformen und durch die Sicherheit in der Gruppe dem allenthalben zu beobachtenden Einzelkämpfersyndrom begegnen können. Wir erfahren etwas über die Fragwürdigkeit der Fehlerkorrektur bei Klassenarbeiten, durch die sehr viel Energie verbraucht und dennoch nicht der Lernprozeß gefordert wird. Wir erfahren etwas über einen anderen Mathematikunterricht, bei dem durch den freien mathematischen Ausdruck die Schüler nicht unterrichtet sondern aufgerichtet werden. Wir erfahren last not least auf Seite 38 etwas über den Charakter und die psychischen Verfassung der heutigen Kinder: "Eine große Anzahl der Kinder verhält sich so, als seien sie an das Vorabendprogramm des Fernsehens angeschlossen: ihr schulisches Verhalten ist ein Reflex auf schnelle Schnitte ... Sie sind nervös, können sich nicht konzentrieren, bedürfen der immer neuer Reize ... können nicht mit sich allein sein, behalten nichts, strengen sich nicht an - kurz: das Konstante ihrer Persönlichkeit ist die Flüchtigkeit ... ".

Fügen wir dieser Beschreibung die dramatischen Befunde von Kinderärzten hinzu, dann ist die Katastropphe fast perfekt. Bei immer mehr Kindern werden Defizite bei den körperlichen Grunderfahrungen diagnostiziert, beispielsweise können schon viele nicht mehr rückwärts gehen. Das Schwinden der Sinne wird durch die einschränkenden Lebensverhältnisse erzwungen. Was wir den Kindern durch einseitiges kognitives Training, meist noch mit Hilfe moderner Medien vorn "reindrücken", geht hinten nicht nur wieder verloren, sondern verstärkt das Verkümmern der Persönlichkeit. Die Folge sind immer mehr seelische und körperliche Krüppel.

Wenn wir einiges, was unsere moderne Gesellschaft den Heranwachsenden an Selbsterfahrung, an gestalterischem Tun; an inneren Bildern, an der ganzen PaIette der Sinnlichkeit geraubt hat, wieder zurückgeben, läßt sich da fortschreitender Verkümmern der kindlichen Persönlichkeit ein Stück weit aufhalten. Die schulische Lernumgebung muß so gestaltet werden, daß Kinder sich bewegen, fühlen, beobachten, experimentieren und forschen können. Wenn sie auch noch im freien Ausdruck über das Malen, das Schreiben, die Musik, ja sogar über die Mathematik befreien können, statt zum flüchtigen Konsumenten degradiert zu sein, wird Ihnen auch wieder ein Stück Menschenwürde zurückgegeben. Daß sowohl Freinets Pädagogische Texte als auch die Beiträge der heutigen Ausgabe genau in diese Richtung zielen, spricht für die Aktualität dieses Buches.

Anton Strobel
Lemwerkstatt Mannheim

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