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Dietrich, Ingrid: Handbuch der Freinet-Pädagogik

Rezension von Jochen Hering, 11.4.2002

Ingrid Dietrich: "Handbuch Freinet-Pädagogik"

Ein Handbuch mit Herz und Verstand

Im letzten Jahr ist das "Handbuch der Freinet-Pädagogik" erschienen, herausgegeben von Ingrid Dietrich, mit Beiträgen von Freinet-Pädagoglnnen, die sich ihren formulierten. Vorstellungen und Ansprüchen täglich wieder in ihrer Praxis stellen müssen. Das Spektrum reicht von der Grundschule über die Hauptschule; eine Schule für Lernbehinderte, die Sekundarstufe 1 und II und die Gesamtschule bis hin zur Erzieherinnenausbildung in einer Fachschule für Sozialpädagogik Daneben widmen sich einzelne Aufsätze im besonderen dem Fremdsprachenunterricht, dem Mathematikunterricht und den Naturwissenschaften.


In meinem Lexikon finde ich unter Handbuch:

    "zusammenfassende Gesamtdarstellung eines Fachgebietes".

Was erwarte ich mir - nach mittlerweile 15jähriger Mitarbeit in der Freinet-Bewegung von so einem "Handbuch", bzw. einer "praxisbezogenen Einführung", wie das Buch im Untertitel heißt?

Ich erwarte zunächst eine Übersicht über die "Essentials" dieser Pädagogik, eine Erinnerung an ihr ursprüngliches Anliegen, "in der täglichen Praxis eine andere Wirklichkeit vorwegzunehmen", eine Praxis also, die Kindern Selbst-Bewußtsein, Eigenständigkeit und Kritikfähigkeit vermittelt, durch ein kooperatives und selbstorganisiertes Klassenleben, innerhalb dessen die Kinder entlang ihrer Bedürfnisse, Interessen und Fähigkeiten ihr Lernen zunehmend selbst in die Hand nehmen. Mit anderen Worten: Ich erwarte einen Blick auf die Pädagogik Célestin und Elise Freinets, der zeigt, wie verkümmert, reduziert und entpolitisiert gegenüber ihrer Vision von "Schulleben" und "Lernen" die heute so wohlfeil gehandelten Konzepte von offenem Unterricht, Wochenplanarbeit oder Freiarbeit sind.

Daneben erwarte ich mir von einem "Handbuch der Freinet-Pädagogik" Antworten auf eine Fälle praktischer Fragen:

  • Welche charakteristischen Merkmale trägt "Freinet-Unterricht?
  • Wie muß ich mir den Klassenraum einer "Freinet-Klasse" vorstellen? Was gehört grundsätzlich zu seiner Einrichtung?
  • Wie sieht der Tagesablauf /~ Wochenablauf in einer Freinet-Klasse aus?
  • Wie sieht die, Rolle des Lehrers in einem freinetpädagogisch orientierten Unterricht aus? Was muß der Lehrer / die Lehrerin im Vergleich zum traditionellen Unter-richt können, bzw. neu lernen?
  • Wie und wo kann Mann / Frau Freinet-Pädagogik lernen?
  • Wie stellen sich Disziplinschwierigkeiten aus dem Blickwinkel der Freinet-Pädagogik dar?
  • Welche Rolle spielt der staatliche Lehrplan?
  • Geht Freinet-Pädagogik auch in Fächern, die gemeinhin als "systematisch aufgebaut" und nur in entsprechenden Lernschritten zu bewältigende ausgegeben werden, wie z.B. Fremdsprachen oder Mathematik
  • usw. usw.

Um es sofort zu sagen: Dieses "Handbuch", das Ingrid Dietrich' mit der Hilfe langjährig praktizierender Freinet-Pädagoglnnen zu-sammengestellt hat, hat meine Erwartungen erfüllt. Der einleitende Artikel "Freinet-Pädagogik heute" gibt eine anschauliche Übersicht über Grundsätze und Techniken der Freinet-Pädagogik, die in den nachfolgenden Aufsätzen aus der Praxis für den Leser lebendig nachvollziehbar werden.

Walter Hövel etwa beschreibt so konkret und ausführlich die Arbeit im Klassenrat und die Organisation der gemeinsamen Arbeit, daß ich mich als Leser der notwendigen Einsicht, schon ab der nächsten Woche ähnlich zu arbeiten, kaum noch verschließen kann. Mit Lutz Wendelers Beitrag "Die Freinet-Pädagogik, die Naturwissenschaften und die Sekundarstufe II oder, von der Kunst, einen Cocktail zu mixen" belegt die Lebendigkeit und Aktualität der Grundgedanken Célestin und Elise Freinets auch am Ende dieses Jahrhunderts. In Wendelers Aufsatz kommt eine Denkrichtung innerhalb der deutschen Freinet-Pädagogik zu Wort, die zeigt, wie sehr neuere und aktuelle Ansätze systemischen und ökologischen Denkens einerseits der Freinet-Pädagogik verwandt sind und sie andererseits in neuem Licht zeigen und fortführen. Ulrike Waterkamp beschreibt, wie selbst eine organisatorisch in sich selbst erstarrte Gesamtschule doch wieder mit "Inseln" durch-setzt werden kann, keine Fluchtinseln, sondern Inseln, auf denen für LehrerInnen und SchülerInnen Freude am Lernen und gemeinsamem Tun neu entsteht.

Ahnlich ansprechend sind auch die anderen Beiträge dieses Buches.

Der Anhang stellt für alle mit Freinet-Pädagogik befaßten eine wertvolle Arbeitshilfe dar. Er enthält eine Liste der Schriften Célestin und Elise Freinets; die Publikationen der französischen und deutschen Freinet-Bewegung, weitere Bücher, Aufsätze und Filme zum Thema.

Und das Glossar gibt jeder Leserin die Möglichkeit, ,anhand der eigenen Fragen ins Buch einzusteigen, zu so unterschiedlichen Stichworten wie "Arbeiterkinder", "Ateliers", "Freier Ausdruck", "Gewalt", "Klassenzeitung", "Rechtschreibung" oder Wandzeitung.

Mich persönlich hat beim Blättern und Stöbern in diesem Buch am meisten eine Stelle aus dem Beitrag Rolf Wagners "Schule verändern! Freinet-Unterricht in der Grundschule" angesprochen. Es geht um Lernstörungen, Leistungsverweigerungen, Auffälligkeiten oder ähnliches, also all das, was für manche LehrerInnen den Schulalltag oft anstrengend, bisweilen vielleicht sogar unerträglich macht. Rolf. Wagner nimmt statt der "gestörten Kinder" eine "gestörte Schule" in den Blick. Wen die folgenden Zeilen ähnlich ansprechen wie mich (der ich zur Zeit in der Grundschule feststelle, wie sehr ich als Lehrer selbst Lernstörungen produzieren kann oder eben nicht und sie eher auflöse), der sollte sich dieses Buch zum Stöbern, Blättern und zur kritischen Erinnerung, die zumindest ich immer wieder brauche, auf den Schreibtisch legen.

Ich gehe davon aus, daß verhaltensauffällige Kinder oder Kinder, die die Leistungen in der Schule verweigern, weil sie sich wehren. Sie rebellieren gegen bestimmte Normen des lehrerzentrierten Unterrichts (Frontlunterricht), die sehr oft darin bestehen, daß alle kinder still auf dem Platz sitzen müssen, daß sie ständig ihre spontanen Reaktionen untrdrücken müssen und mit allen SchülerInnen gemeinsam eine allemein gestllte Aufgabe an einem bestimmten Platz zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer von Erwachsenen vorgegebenen weise lösen müssen. Diese Normen führen zu Konflikten mit denen an der Schule beteiligten Erwachsenen. Diese Erwachsenen definieren dann das sie störende Verhalten als "Lernstörung" ...

Ich glaube, daß die Regelschule, so wie sie sich heute darstellt, sehr wenige Möglichkeiten für ungestörtes kindliches Verhalten und Lernen zuläßt. Die Kinder können nicht durch Erfragen und Erkunden, durch neugieriges Ertasten, Ausprobieren und Umfunktionieren von Gegenständen, durch Gespräche mit anderen Kindern, durch körperliche Bewegung, begleitet von unregelmäßigen Ruhepausen, in der Schule lernen....

Leider zielt Beratung in der Schule (durch ,Beratungslehrer, Schulpsychologische Dienste und Erziehungsberatungsstellen usw.) meistens darauf ab, das Verhalten der Kinder teilweise mit übelsten Manipulationen an die Situationen des Unterrichts anzupassen. Diese Art von Beratung schließt die Chance der Veränderung von Schule aus. Schule! müßte so verändert werden, daß normales kindliches Verhalten in ihr erst möglich wird."

Jochen Hering

Das Buch von Ingrid Dietrich:

Handbuch der Freinet-Pädagogik.
Eine praxisbezogene Einführung,
Weinheim 1995,

ist über die Päd. Kooperative in Bremen zu beziehen.

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