Freinet-Online

Skip to: site navigation/presentation

Peschel, Falko: Offener Unterricht

Rezension von Jürgen Göndör, 13.2.2003

Falko Peschel: Offener Unterricht, Teil 1 Keine Besprechung - aber ein Appetizer

Das Buch "Offener Unterricht" beginnt mit einer Bestandsaufnahme von dem, was so schulläufig unter 'offenem Unterricht' verstanden wird. Peschel stellt fest, daß der Unterricht freundlicher geworden ist - aber auch, daß offener Unterricht nichts mit einer positiven Einstellung zum Kind zu tun haben muß. Vor allem stellt er aber fest, daß seine Suche an vie-len Schulen erfolglos war. Die Lehrer hatten immer die Zügel in der Hand, bestimmten den Freiheitsraum der Kinder. Offen an diesem Unterricht war, daß die Kinder wählen konnten, ob sie dieses oder jenes Arbeitsblatt zuerst oder eben später aufüllten, in welcher Reihenfolge die die gestellten Aufgaben aberledigten, mit welcher SchülerIn sie zusammenarbeiten wollten. Das Tagesergebnis dieses 'offenen Lernens' war in der Regel dürftig. Selbst Wochenpläne gerieten zu konkreten Aufgabenstellungen. Nur in der Kür der Wochenpläne gab es etwas mehr Abwechslung: Noch mehr Aufgaben.


Bestenfalls war der Unterricht nicht mehr Lehrerorientiert sondern 'Materialorientiert'.

Auszug aus einem Wochenplan:

    Übe das Wochendiktat zum Frühling im Igelheft. Fülle das Arbeitsblatt zum "ck" aus
    Ließ das Frühlingsgedicht auf S. 105 im Lesebuch und lerne es auswendig.
    Rechne die Aufgaben auf Seite 43 und 44 im Mathematikbuch
    ...
    Male ein Unterwasserbild aus blauen Farben wie das an unserer Wand.
    Flötenkinder: Am Mitwoch Instument mitbringen und unser Musikstück noch mal üben.
    Freiarbeit: Du kannst Übungen zum Einmaleins oder zum Diktat machen [S.11]

Ganz schnelle dürfen dann auch noch die Pumuckel-Figuren auf den Arbeitsblättern ausmalen.

So stellt Peschel vor, was z.B. das Landesinstitut Soest unter Wochenplan versteht:

Der Wochenplan legt fest, welche Pflich- und Wahlaufgaben die Schüler bearbeiten sollen [...]. die Schüler bestimmen selbst, z.T. in Absprache mit den Partnern, die Reihenfolge der Bearbeitung, die Sozialform, ihr Arbeitstempo, den Umfang der erwünschten Hilfen und der freiwilligen Aufgaben. Der Lehrer berät und hilft bei dieser Arbeit. Im Laufe der Grundschulzeit tritt er mit seinen Vorgaben zurück und ermöglicht, daß der Schüler schrittweise Aufgaben für den Wochenplan selbst auswählt und sebstverantwortlich die freie Zeit nutzt.

Dabei beziehen sich Wahl- und Pflichtaufgaben auf den aktuellen Lernstoff. Peschel stellt fest, daß er dem letzten Satz - das Zurücktreten des Lehrers mit seinen Vorgaben - nie im Zusammenhang mit Wochenplanunterricht nie begegnet ist.

Ähnlich sieht er die Freie Arbeit:

"Dabei ist die Freie Arbeit kein durchgehendes Unterrichtsprinzip, sondern beschränkt sich auf Übungsphasen, die durch Informationsunterricht bzw. die Einführung bestimmter Inhalte ergänzt werden. Oft wird die freie Arbeit auch wie ein eigenes Fach behandelt, daß heißt es gibt jeden Tag bzw. in der Woche bestimmte Stunden "Freier Arbeit". Im Allgemeinen stützt sich diese Freie Arbeit dann auf ein größeres Angebot von Lern- und Übungsmaterialien, die entsprechend dem Curriculum auf die aktuellen Lerninhalte der Klassenstufe abgestimmt sind [...]. [S. 16]

Entsprechend fällt sein Urteil aus:

  • Es ist meist kein eigenes Erarbeiten von neuen Themen durch den Schüler möglich
  • Die Abhängigkeit vom (geschlossenen) Material ermöglicht keine qualitative Verbesserung des Zuganges zum Stoff
  • Die "Lehrerrolle" verlagert sich ins Material, das aber starr ist und nicht auf das lernende Individuum reagieren kann
  • Das Material ist eher willkürlich nach Vorhandensein denn nach Qualität zusammengestellt
  • Großer Motivationsaufwand innerhalb der Materialien - Lernen wird als billige Unterhaltung verkauft und dadurch wird die intrinsische Motivation des Kindes ... beschnitten
  • Lernen wird zum "Aberledigen" möglichst vieler Aufgaben - anstatt zu einer qualitativen Auseinandersetzung mit Inhalten ...
  • Schule wird schnell zur Beschäftigungstherapie, bei der die Arbeit des einzelnen Kindes ... oft gar nicht zu begründen ist und stattdessem dem Lehrplan ... zugeschrieben wird

Ähnlich beurteilt er den Projektunterricht:

"Wenn Projekte zu Hobbywochen oder Pressepräsentationen ver-kommen, lassen sich die Ziele des Projektlernens nicht mehr erfüllen" [S. 26]:

  • Der Projektunterricht wird selten als "richtiger" Unterricht, sondern als Bonbon im Schulalltag angesehen ...
  • Die eigentlichen Ziele des Projektunterrichts (Demokratie, Erwerb methodischer und inhaltlicher Kompetenz durch eigene bzw. gemeinsame Problemlösung einer Ernstsituation) werden meist weder beabsichtigt noch verfolgt - der Projektbegriff kennzeichnet alles, was keine "richtige" Schule ist
  • Weder Schüler noch Lehrer empfinden Projektunterricht als berechtigte bzw. effektive Unterrichtsmethode, sondern eher als auflockernde "Hobbywoche" - mit der Folge, daß die bei Projekten entwickelte "Lernbegeisterung nicht mit effektivem Lernen in Beziehung gebracht wird - und entsprechend nicht als längerfristiges Unterrichtsprinzip anerkannt wird.

Selbst neumodischen Lernarrangements wie Werkstattunterricht und Stationslernenkan Peschel nicht viel positives abgewinnen:

  • Die Qualität der Angebote ist oft bedenklich
  • Lernen wird zum "Aberledigen" möglichst vieler Aufgaben - anstatt einer qualitativen auseinandersetzung mit Inhalten bzw. der Anwendung und des Ausbaus eigener Lernmethoden
  • Großer Zeitaufwand zur Herstellung der Angebote
  • Angebote werden "konstruiert", um den Anspruch an fächer-übergreifendes oder ganzheitliches Arbeiten zu erfüllen

Nachdem nun Peschel wie ein enfant terrible im Porzellanladen kein gutes Stück der modernen Unterrichspraxis heil gelassen hat fragt man sich zu Recht: "Ja wie denn dann?".

Peschel bleibt keine Antwort schuldig: In zwei Bänden beschreibt er einen Offenen Unterricht" der den Kindern

  • die organisatorisch Freiheit zugesteht, wo und mit wem sie arbeiten wollen,
  • der ihnen erlaubt, den eigenen Lernweg zu wählen (methodisch),
  • ihr Lernthema frei zu bestimmen (inhaltlich),
  • ihnen die Bestimmung von Entscheidungen bezüglich der Klassenführung bzw. des gesamten Unterrichts, der (langfristigen) Unterrichtsplanung, des konkreten Unterrichtsablaufes, gemeinsamer Vorhaben usw., die Bestimmungen des sozialen Miteinanders bezüglich der Rahmenbedingungen, dem Erstellen von Regeln und Regelstrukturen zugesteht (sozial)
  • und letzlich auch die Beziehung zwischen Lehrer/Kindern und Kindern/-Kindern (auf "Gleichberechtigung" abzielende "innerschulische" und "überschulische" Beziehung ermöglicht.

Wie dieses Lernabenteuer über 4 Jahre in einer Grundschulklasse funktioniert - zur Zufriedenheit der Eltern und der Schulleitung, Wie sich in dieser Lernumgebung schon für die Sonderschule vorgemerkte Kinder ver-halten, wie sich schwierige Kinder entwickeln, wie diese Kinder dann in weiterführenden Schulen zurechtkommen und wie ihr "Leistungsstand" gegenüber regulär beschulten Kindern ist -

muß man dann aber selbst nachlesen:

Falko Peschel: Basiswissen Grundschule, Band 9 und Band 10
Offener Unterricht - Idee, Realität, Perspektive und ein praxiserprobtes Konzept zur Diskussion
Teil I: Allgemeindidaktische Überlegungen
Tel II: Fachdidaktische Überlegungen

mehr dazu: Offener Unterricht (mit Diskussionsforum)

PS: Bitte erst Band I lesen!

Jürgen Göndör

Copyright © by Freinet-Online. Alle Rechte vorbehalten.

[ Zurück ]