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Pehnke, A.: Reformpädagogik aus Schülersicht

Rezension von Jürgen Göndör, 23.8.2005

Rezension zu: Pehnke, Andreas (Hrsg.): Reformpädagogik aus Schülersicht. Dokumente eines spektakulären Chemnitzer Schulversuches der Weimarer Republik.
Schneider-Verlag, Hohengehren 2002.
Grundlagen der Schulpädagogik Band 43
Jahresgabe des WEE
Rezensent: Jürgen Göndör

Heute ist der Begriff ‚Schulreform’ durch den inflationären Gebrauch und durch die einseitige Inanspruchnahme von Veränderungen der Schulwirklichkeit durch die Schul- bzw Kultusmi-nisterien zu Lasten der Schüler und Lehrer im Misskredit geraten. ‚Jede Woche werde eine neue Sau durchs Dorf getrieben’ – Dieser Satz kennzeichnet den Unmut an der pädagogischen Basis und auch die Resistenz von Alltagsunterricht gegen diese ‚Reformen von oben her’, die oft wenige Monate darauf das Papier nicht wert waren, auf dem sie geschrieben waren.


In der Reformpädagogik gab es offensichtlich eine breite Zustimmung des ‚Bodenpersonals’ zu Veränderungen der Schule. Auf dem restriktiven Boden des kaierlichen Paukunterrichts gedieh im ausgehenden 19. Jahrhundert der Gedanke, dass Schule anders sein müsse. ‚Vom Kinde aus’ wurde Schulen neu gedacht. Die staatliche Schulaufsicht war noch nicht im heutigen maße formiert und so gab es landauf landab Nischen, in denen pädagogisch experimen-tiert wurde.

Nicht überall waren die Versuche so spektakulär wie z.B. in Berlin, in der Schulfarm Scharfenberg oder in Hamburg in der Versuchsschule in der Telemannstraße (um nur einige Bei-spiele zu nennen) – oder eben in Chemnitz in der ‚Gruppe Müller’. Pehnke stellt die ‚Entwicklungsbedingungen der Chemnitzer Versuchsschulpädagogik an den Anfang seiner Dokumentation. Wieder einmal wird deutlich, wie der Krieg, der ‚Vater aller Dinge’ die reformpädagogischen Ansätze von 1912-1914 zum Erliegen bringt. Nach dem 2. Weltkrieg war davon nichts mehr übrig – erst nach fast 60 Jahren ermöglicht die vorliegende Dokumentation von Pehnke ein differenziertes Bild der Ansätze „vom Kinde her“ nachzuvollziehen.

Die Chemnitzer Schulreformen wurde von unten nach oben durchgeführt. Im Beispiel der Gruppe Müller standen die betroffenen Schüler, das ganze Kollegium einer Schule (der damaligen Humboldtschule und die Eltern hinter dem Versuch, die Schularbeit im Sinne der neu-pädagogischen Forderungen zu treiben. Es gab keine Basis eines freiwilligen Zusammenschlusses reformpädagogisch aufgeschlossener Lehrer, sondern das ganze bisherige Kollegium der Mädchenabteilung der 21. Bezirksschule (Humboldtschule) entschloß sich, die Schularbeit im Sinne reformpädagogischer Bestrebungen zu gestalten. (S. 17) Aufgenommen wurden nur Kinder, die sich freiwillig meldeten. (S. 43) und deren Eltern ausdrücklich zugestimmt hatten.

Die Humboldtschule war keine Schule des finanzkräftigen Bürgertums oder gar der pädago-gisch informierten Bildungselite, sondern „mehr als 80 %“ (S. 24) waren schlicht Arbeiter-kinder. Eine damals durchgeführte „empirische Erhebung zur Schülerpopulation“ (S. 35ff) gibt einen bemerkenswerten Einblick in die Familien-, Wohn- und Lebensverhältnisse der Kinder. Darüber hinaus wird über die Kinder-Erwerbsarbeit berichtet. Der Jahresbericht Müller macht eindringlich deutlich, wie der Zwang zur Mitarbeit und die Ausbeutung der Kinder durch die eigenen Eltern jede Lernmotivation aushöhlt und die Kinder so systematisch zu „Lug und Trug“ (S. 41) erzogen werden: „Woher sollen bei einer solchen Überlastung [50 – 60 Wochenstunden Arbeit neben der Schule, Einfügung von JG] Zeit und Lust zu Schularbeiten kommen? Fehlt einem solchen Kinde nun etwa noch ausreichender Schlaf [ca. 44 % der Kinder schlafen mit dem Bruder in einem Bett, Einfügung durch JG], so kann es kaum in der Schule aktiv mitarbeiten; es ruht aus oder ist zerfahren und nervös.“ (S. 42)

Vorgestellt werden auch die „konzeptionellen Vorüberlegungen“ für die Gruppe Müller:

  1. Stete Rücksicht auf die natürliche Entwicklung jedes Kindes.
  2. Gestaltung der Gruppengemeinschaft in Anlehnung an das wirkliche Gruppenleben: Zusammenleben verschiedener Altersstufen und beider Geschlechter.
  3. Gemeinsame Erziehung unter Verzicht auf gemeinsamen Unterricht. Bei dem sich gegenseitig ergänzenden ineinander greifen von Erziehung und Unterricht hat ers-tere als das Wertvollere zu gelten.
  4. Ziel des Gemeinschaftslebens soll sein: Erziehung zur Selbsttätigkeit, Selbständigkeit und gegenseitiger Hilfe.
  5. Weitergehende Zeitnahme der Kinder an der Verwaltung der Gruppe: Mitverant-wortlichkeit.
  6. Gruppen- und Einzelunterricht unter Zuhilfenahme der älteren Kinder: Helfersys-tem.

Auch ohne den Klassenunterricht in der Jahrgangshorde ist es beeindruckend die Übersicht über von den Kindern gewählten und behandelte Themen zu lesen. Vollkommen ungewöhn-lich erscheint das Stichwort ‚Körperpflege’ in dieser Übersicht für den heutigen Pädagogen, der Kinder nur unter dem Leistungsgesichtspunkt ‚Deutsch-Mathe-Englisch’ kennt und beur-teilt. „Häufige Aussprachen und Unterhaltungen in Klassenversammlungen oder mit kleineren Gruppen von Kindern dienten dazu, das Verständnis für vertiefte Leibespflege zu wecken.“ (S. 47). Damit meint Müller auch den unbefangenen Umgang mit dem völlig unbekleideten Körper in der Klasse.

Der Jahresbericht Müller über das erste Versuchsjahr 1924/25 schließt mit den Erfahrungen mit den neuen pädagogischen Grundlagen. Erschreckend, so urteilt Müller, ist die mangelnde Einsicht mancher Eltern in den Geist der neuen Erziehung, die sich bei der Berufswahl, beim Ausstellen von ‚falschen’ Entschuldigungen und dem fehlenden Interesse am Schulleben ihrer Kinder zeigt. Von den Kindern beichtet er (von wenigen Ausnahmen abgesehen) durch die Bank von guten Erfolgen (S. 48). Eltern und Kinder (!) seien nach einem halben Jahr mit der Weiterführung der Gruppe auf dieser Grundlage einverstanden. Es hatten sich mehr als doppelt so viele Kinder angemeldet, wie aus der Gruppe durch die Altersmischung ausgeschieden sind.

Ein besonderes Kapitel widmet Müller der Jahresabschlussbeurteilung Die Lehrergruppelehnte über alle Meinungsverschiedenheiten hinweg Ziffernzensuren wurden unisono ab. Statt dessen gab es Berichtszeugnisse. Müller beleuchtet eindrücklich die Auswirkungen der Zif-fernzensuren auf die Kinder – ein Aspekt, der in der heutigen Diskussion fehlt. (S. 49) Damals wie heute gab es gegen die Berichtszeugnisse erheblichen Widerstand: von den Eltern, weil durch die ‚vollständigen, wahrheitsgetreuen Beurteilungen’ (S. 49f) unangenehme Rückschlüsse auf häusliche Verhältnisse und Erziehungsversäumnisse möglich wurden, von den Betrieben, weil sie nicht in der Lage – und auch nicht Willens waren – von den einfach zu verstehenden Ziffernnoten (eine 2 ist halt eine 2) auf die differenzierten Berichtszeugnisse umzudenken. Ganz deutlich wird hier der Unterschied zwischen dem Interesse an Arbeitskräften, von der Schule in brauchbare Kategorien vorsortiert und lebendigen Menschen, die ihr Leben erfüllt gestalten wollen. Leider kennt die Deutsche Verfassung keinen Anspruch auf Glück. So bleibt Müller nur der Kompromiß, der wie immer in solchen Fällen auf dem Rücken der Kinder und Pädagogen ausgetragen wird: Bericht + Zeugnisse.

Die konzeptionellen Vorüberlegungen schließen mit einem Kapitel über Feste und Feiern ab. Müller unterscheidet zwischen verordneten Schulfesten und Festen, die im Klassenleben ver-ankert sind. Auch dann, wenn bei der Planungder Feste, die ganz in der Hand der Kinder liegt, nicht immer der berühmte ‚rote Faden’ sichtbar sei, hätte diese Gestaltung durch die Kinder eine ganz andere Qualität für deren Entwicklung. Die Vorbereitung sei das wirklich Wichtige. Müller legte auch Wert darauf, dass Feste auch zu einem Fest für die Eltern werden sollen. (S. 55)

Auf den folgenden 50 Seiten dokumentiert Pehnke Schülerzeugnisse aus der Gruppe Müller. Ob es nun um die Edukation, die jahrgangsübergreifende Zusammensetzung der Klasse, die Selbstverwaltung oder um Probleme in der Gruppe geht – zu jedem und allem haben die Kin-der kleine Berichte geschrieben, die Pehnke ausführlich vorstellt. Teilweise sind es Jahresberichte, Schüleraufsätze, Eintragungen ins Klassenbuch (das ja von Kindern geschrieben wurde – kein Verwaltungsdokument des Lehrers), Berichte über Feste oder traurige Anlässe, über Vorträge und Ausstellungen, oder über den Landschulheimaufenthalt. Es entsteht ein sehr lebendiges Bild der Schullebens und der inhaltlichen Arbeit der Gruppe Müller.

Der Bericht über das 2. Versuchsjahr beginnt wieder mit den konzeptionellen Vorüberlegun-gen Müllers. Ein Schwerpunkt liegt diesmal auf der Einrichtung der Selbstverwaltung der Gruppe, auf Erziehung und Unterricht und dem Leben und der Arbeit in der Klassengemeinschaft. Müller legt genau Rechenschaft darüber ab, welcher Unterricht für die ganze Klasse angesetzt war (Turnen, Baden, Singen, Spielen – zusammen 5 h pro Woche), wie viel Übstunden es in Teilgruppen gab (sprachliche und rechnerische Übungen – zusammen 4 h für jedes Kind) und wie viel Zeit für Klassen- und Generalversammlungen notwendig waren (ca. 10 h pro Woche). Müller betont, dass es dabei nicht um einen festen Stundenplan gehe, son-dern um Durchschnittswerte, die sich jederzeit für die einzelnen Kinder sehr verschieben können. Es sei auch ganz unterschiedlich gewesen, wie viel Zeit die Kleinen mit den Großen gearbeitet hätten, ob es schulfreie Tage gegeben habe oder Schulfestlichkeiten, Besuche oder Schulwanderungen diese Zeitaufteilung beeinflusst hätten. Auch seien die Kursstunden für die Kinder freiwillig gewesen, infolge dessen sei die Gesamtgruppe nur einen Teil der Schul-zeit beisammen.

„In diesen Stunden widmeten sich die Großen in der Hauptsache den Kleinen: sahen ihre Hefte durch, lasen, schrieben oder rechneten mit ihnen oder sorgten anderweitig für deren Beschäftigung: Die oder jene Gruppe ging wohl auch mit ihren Kleinen spielen oder spazieren oder hielten kleine Besprechungen. Bei geeigneten Gegenständen fanden immer im Beisein der Kleinen und Kleinsten auf Klassenversammlungen und unterrichtliche Besprechungen statt ... Die Kleinen unter sich, ebenso die Helfer-, Tisch- und Arbeitsgruppen führten im Gesamtverband der Klasse ihr besonderes Ei-genleben. Besonderer Wert wurde gelegt auf die menschliche Verbindung der Kinder untereinander und mit dem Lehrer: Gruppen- und Einzelaussprachen. Knaben und Mädchen führten das gesamte Klassenleben gemeinsam.“ (Müller, S. 113)

Es gab auch aus organisatorischen Gründen mit einer 3. Gemischten Klasse gemeinsame Ba-destunden. Diese Gemeinsamkeit wurde über die organisatorische Notwendigkeit hinaus ausgedehnt. Es gab gemeinsame Ausflüge, Klassenfeiern und gemeinsames Klassenleben bei Vorträgen, Erzählen, Singen und Spielen.

„Als ungeschriebenes Klassengesetz oder besser als Grundlinien einheitlicher Lebensgestaltung können folgende Gedanken gelten:

  1. Sei immer willig zur Arbeit für die Schule oder die Klasse!
  2. Sei immer Bereit zur Hilfe!
  3. Nimm immer Rücksicht auf Deine Mitmenschen!
  4. Sage immer die Wahrheit, aber sei auch gerecht und suche auszusöhnen!
  5. Lerne auch zur rechten Zeit und am rechten Ort zu schweigen!
  6. Bekämpfe und meide allen Klatsch, aber bringe alles zur Sprache, was den guten Geist der Schule oder der Klasse gefährden kann!
  7. Kümmere Dich auch außerhalb der Klasse um Ordnung, Reinlichkeit und Ruhe im Schulhaus!
  8. Benimm Dich in der Öffentlichkeit und daheim so, dass man die Humboldtschule achten kann!
  9. Meide alle hässlichen und gemeinen Redensarten, Schmierereien und Witze. Suche Deine Gesellschaft nur bei anständigen und sauberen Menschen!
  10. Bemühe Dich um die Gesunderhaltung und Kräftigung Deines Körpers!
  11. Verzichte auf Alkohol und Nikotin!
  12. Suche allen Schund (Buch, Schmuck, Kino, Bild, Theater) zu meiden!
  13. Verzichte während Deiner Schulzeit auf die Mitgliedschaft in Vereinen, verzichte insbesondere auch auf politische und religiöse Jugendgruppen!
  14. Bemühe Dich, immer anderen ein Vorbild zu sein!
Das alles durchzuführen ist natürlich den Kindern ebenso in nur beschränkten Maße möglich als den Erwachsenen“ (Müller, S. 113f)

Es folgt eine Auflistung der Themen, mit denen sich die Gruppe Müller beschäftigt hat. Er resümiert: „ Nehmen wir noch hinzu (zu den Klassenberichten und Protokollen auf mehreren hundert Seiten, Einfügung JG), dass einzelne Gruppen sogar Niederschriften über Ihr Grup-penleben und ihre Sonderbesprechungen angefertigt haben, so ist fast alles Denken und Erleben der Kinder fixiert worden, zumal es auch nicht an zahlreichen gegenseitigen Beurteilungen und Bekenntnissen des persönlichen Innenlebens fehlt.“ (Müller, S. 120)

Auf über 100 Seiten wird wieder das Schuljahr aus Schülersicht dargestellt. Auch sind (ca. 10 Seiten) dem Bauernkriegsfestspiel und der Fahrt ins tschechische Weipert gewidmet, den Höhepunkten des 2. Versuchsschuljahres.

Im dritten Versuchschuljahr war das letzte der Gruppe Müller, weil „Kollegium und Elternrat (immer als Ganzes gesehen) dem Versuch nicht gewachsen waren.“ (Müller, S. 234f) Kinder und Eltern standen einmütig zur Gruppe Müller und haben das auch durch ihre Unterschriften bestätigt. Dieses einmütige Votum wurde vom Lehrerkollegium und Elternrat übergangen. Im Brennpunkt der Differenzen stand die Koedukation. „Das Chemnitzer Schulamt hat im dritten Versuchsjahr Bestimmungen erlassen, die die gemeinsame Körpererziehung dermaßen einschränkte, dass fast nichts mehr übrig bleibt.“ (Müller, S. 234)

Zwei Müttern im Elternrat der Schule, die selbst kein Kind in der Gruppe hatten, veranlassten den Vorsitzenden zum Protest gegen das seit Beginn des Schulversuchs in der Gruppe durch-geführten Nacktbadens. Das Baden wurde ganz eingestellt. Jetzt protestierte die Schulleitung. Der Elternrat unterstützte den Protest seines Vorsitzenden nicht und dieser legte zusammen mit den beiden Müttern das Mandat nieder. Damit war der Fall in der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Die ausgeschiedenen Mitglieder des Lehrerrates wurden dazu gedrängt wieder einzutreten, aber der Preis war die Verzicht auf die gemeinsame Nacktheit überhaupt. „Dadurch wurden körperliche, sittliche und geschlechtliche Dinge den Kindern der Gruppe wie-der so in den Vordergrund gedrängt, daß die durch jahrelange Erziehung und Gewöhnung wiedererworbene Harmlosigkeit in diesen Fragen arg erschüttert und gefährdet wurde. ... So musste die Stimmung und Arbeit der ganzen Gruppe geschädigt werden.“ (Müller, S. 233) Sehr engagiert und überzeugend nimmt Müller in seinem Jahresbericht für die Koedukation und die Nacktheit Stellung – aber es nützt nichts. Da Müller seine Gruppe so nicht weiterfüh-ren und sie auch kein anderer Lehrer übernehmen will, endet das Experiment am Ende des Schuljahrs.

Natürlich finden sich diese Turbulenzen auch in den Berichten der Kinder wieder. Sie sind enttäuscht und traurig, dass ihre Gruppe ‚zerstört’ wurde und verarbeiten den Bruch auf ihre Weise (als hilflose Opfer). Es ist beeindruckend, dass die Kinder den Anlaß der Auflösung der Gruppe klar erkennen und auch den Stellenwert des Nacktbadens in diesem Zusammenhang einordnen können. Trotzdem wird deutlich, wie wichtig ihnen die Gruppe, die Selbstverwaltung und das Klassenleben ist. Der Beschluß, die Gruppe Müller ist kein einsamer Entschluß Müllers, sondern ein Entschluß der Klasse.

Das folgende Kapitel ist der Formenlehre und der Geometrie und weiteren Projektarbeiten gewidmet. Wie jedes Mal zunächst die konzeptionellen Vorüberlegungen Müllers. Der Geo-metrie geht die Formenlehre vorher. Formenlehre findet auch „mit dem Baukasten, mit Plastilin, Ton oder Sand, beim Stäbchenlegen, beim Spiel mit geometrisch regelmäßigen Holz- oder Metallplättchen [statt]. ... Natürlich handelt es sich auf den Unter- und Mittelstufe nicht darum, die einzelnen Gebilde formen- bzw. raumkundlich richtig zu benennen oder gar zu definieren, sondern darum, das Kind zur schnellen und sicheren Erfassung charakteristischer Merkmale und zur Zurückführung von Lebensformen auf einfache Grundformen zu befähigen.“ (Müller, S. 304) Montessori und Waldorf lassen grüßen. Statt Text-Beiträgen aus Schü-lersicht finden sich diesmal Abdrucke aus dem Schülerheften für Formenlehre und Geometrie seines Schülers Otto Janka. Es folgen 18 Seiten ausgewählte Projektarbeiten.

Die letzten 40 Seiten beschäftigen sich mit dem weiteren Schicksal der Versuchsschule bis zu ihrem Ende 1933. Müller übernimmt zwar wieder eine Klasse, aber nun zu veränderten Bedingungen, allerdings mit folgendem Fazit: „Das Gesamtbild der Klasse war in Bezug auf Benehmen, Arbeitswille und Leistung ebenso unbefriedigend wie im Vorjahr. Rüpelhaftigkeit der Jungen, Klatschsucht der Mädchen und Unverträglichkeiten führten fast täglich zu Kon-flikten. Die Klasse war auch den Verpflichtungen, die ihr die Hausaufsicht brachte, nicht gewachsen. Beschwerden der aufsichtführenden Lehrkräfte waren nicht selten. Es fehlte fast allen Kindern an Selbstzucht und Gewissenhaftigkeit. Verschlimmert wurden diese Mängel durch feige Ausreden um sich der Verantwortung zu entziehen. Die Unehrlichkeit kam ferner in Diebstählen (aufgeklärte und unaufgeklärte) zum Ausdruck. Ein Junge wurde sogar gerichtlich belangt und wegen versuchter Erpressung (er hatte einem Fachlehrer, mit dem er zahlreiche Auseinandersetzungen gehabt hatte, anonym einen Drohbrief geschrieben und ei-nen Geldbetrag von 5 Mark zu erlangen versucht) verurteilt.“ (Müller, S. 337f) Das Lehrerkollegium kommt zu einer ähnlichen Einschätzung der Lage in der Versuchsschule.

Die Schulaufsicht – damals wie heute – hat zwar dem Erfolg der Versuchsschule Rechnung getragen, ist jedoch blind für dessen besonderen Rahmenbedingungen. Es wird behauptet, dass viele Impulse von den Regelschulen übernommen worden seien. Eine Fortsetzung dieser erfolgreichen Arbeit wird jedoch nicht unterstützt. Wenn es wirklich so erfolgreich gewesen wäre, so argumentiert die Behörde, dann hätten sich ja alle Lehrer diesem Versuch angeschlossen. (S. 343). Das sei jedoch nicht der Fall gewesen und somit ... (bla, bla, bla)

Damit ist der Erfolg dieser Gruppe personalisiert, der weiteren Verbreitung jedoch wirksam ein Riegel vorgeschoben. Ohne diesen Pädagogen (Fritz Müller) ist das nicht wiederholbar. Eine Sichtweise, die sich leider auch im Klappentext wiederholt: Die Mähr vom „offenbar begnadeten Pädagogen“, der eine „einzigartige pädagogische Atmosphäre“ schafft, findet sich auch bei A. S. Neill. Dessen Schule besteht allerdings auch 20 Jahre nach seinem Tod immer noch.

Die Versuchschule in Chemnitz wurde durch die brutalen Maßnahmen des NS-Regims been-det. Das Kollegium wurde zerschlagen, entlassen oder strafversetzt. Ein Versuchsschullehrer mutierte zum übereifrigen SA-Mann (S. 345). Eine besonders üble Rolle haben ausgerechnet die „christlichen Elternvereine“ gespielt, die die faschistischen Machthaber baten, die Ver-suchschulen in Dresden (Humboldtschule und Schule Bernauerstraße) aufzulösen. Sie wurden als ‚marxistisch’ gebrandmarkt und in Normalschulen überführt. Ende. Aus.

1964 haben ehemalige Schüler des Schulversuches ihre Gedanken zu diesem ‚einzigartigen Schulversuch’ niedergeschrieben – andere folgten. 1991 hat Walter Janka in seiner Autobio-graphie auch über seine Zeit in der Versuchsschule berichtet. Weitere Erinnerungsberichte aus den letzten Jahren des vergangenen Jahrhunderts folgen – allerdings scheint hier der ‚Verklärungsprozeß’ bereits in vollem Gange.

Den Abschluß dieser außergewöhnlichen Dokumentation bildet ein Quellen und Literaturverzeichns. Anzumerken wäre noch, dass sich die Versuchschulen in Dresden in einem Versuch-schulverbund u.a. mit Hellerau in Dresden befand (S. 19), in der A. S. Neill seine berühmte Schule Summerhill startete.

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