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title: Der Einfluss der Freinet-Bewegung auf die Modernisierungen im spanischen Bildungssystem by Breul, Lukas |
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Titel: | Der Einfluss der Freinet-Bewegung auf die Modernisierungen im spanischen Bildungssystem |
Autor: | Breul, Lukas | Sprache: | deutsch |
Quelle: | Universität Lüneburg | Quellentyp: | Internetveröffentlichung |
veröffentlicht am: | DD.MM.2005 | | |
url: | http://www.hausarbeiten.de/faecher/vorschau/120692.html |
Text:
Inhaltsverzeichnis und Textauszug
1. Einleitung... 2
2. Das heutige spanische Schulsystem... 2
3. Die jüngere Geschichte - von 1920 bis zum modernen Spanien... 4
4. Célestin Freinet – eine Kurzbiographie... 6
5. Der Einfluss der Freinet-Bewegung auf das spanischen Bildungssystem... 8
6. Fazit... 12
7. Literatur und Quellen... 13
<b>1. Einleitung</b>
Eine der jüngsten westeuropäische Demokratie, Spanien, verfügt heute über ein reformiertes Bildungssystem, das Anschluss an andere europäische Länder gefunden zu haben scheint. Die zu Grunde liegenden reformpädagogischen Konzepte entstammen in mancher Hinsicht der Freinet-Bewegung, die - je nach politischer Lage - Einfluss auf die pädagogische Blickrichtung nehmen konnte. In dieser Arbeit wird das heutige spanische Schulsystem erläutert und neben der Biographie Célestin Freinets, als Begründer neuer Lehrmethoden, die jüngere Geschichte des Landes sowie der Einfluss dieser reformpädagogischen Bewegung auf die Entwicklung des spanischen Bildungssystems vorgestellt.
<b>2. Das heutige spanische Schulsystem</b>
In Spanien besteht Schulpflicht vom sechsten bis zum sechzehnten Lebensjahr, der Besuch von öffentlichen Schulen ist kostenlos. Vor der Einschulung ist es in Spanien üblich, die Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren in eine Vorschule zu schicken. Es handelt sich hierbei um die Educación Infantil bzw. Prescolar, der Besuch ist freiwillig. Die Schulform für sechs bis zwölfjährige SchülerInnen nennt sich Educación Primafia (Primarstufe). Ab dem 13. bis zum 17. Lebensjahr besuchen sie die Educaciön Secundada Obligatofla (ESO), was mit der Sekundarstufe in Deutschland zu vergleichen ist. Die ES0 gliedert sich in zwei Zyklen von jeweils zwei Jahren und lässt im letzten Jahr Wahlfächer zur Spezialisierung zu. Nach dem erfolgreichen Abschluss sind die SchülerInnen Graduado/a en Educaciön Secundada Obligatorla. Vergleichbar ist dies mit der Mittleren Reife in Deutschland.
An die ESO schließt auf freiwilliger Basis für 16 bis 18jährigen SchülerInnen die Educación Postobilgatoda an. Hier können sich die SchülerInnen zwischen einer fachlich-praktischen Ausbildung (mittlere Berufsausbildung) und einer gymnasialen Weiterbildung, dem Bachillerato entscheiden. Dieser gymnasiale Zweig ist der Oberstufe an deutschen Gymnasien sehr ähnlich. Man kann hier zwischen vier verschiedenen Vertiefungen wählen: Kunst, Naturwissenschaften und Gesundheit, Geistes- und Sozialwissenschaften sowie Technik. Innerhalb von zwei Jahren können die SchülerInnen den Grad Bachiller erreichen, was mit dem Abitur zu vergleichen ist. Mit diesem Abschluss haben die SchülerInnen folgende Möglichkeiten:
<ul>
<li>Sie können mittlere und höhere Universitätsstudiengänge belegen. Bei dieser Option müssen sie zunächst eine Auswahlprüfung, die Selectividad, in Madrid ablegen.
<li>Die Bachiller haben die Möglichkeit eine höhere Berufsausbildung zu beginnen.
<li>Ebenso kann eine mittlere Berufsausbildung begonnen werde. Die Zugangsvoraussetzung ist der Titel Graduado/a en Educación Secundaria Obligatoria. Am Ende erhält man hier den Abschluss Techniker/in in einer Fachrichtungen.
</ul>
Höhere Berufsausbildung: Zugangsvoraussetzung ist das Bachiller oder der Abschluss als Techniker/in der mittleren Berufsausbildung (Técnico auxillar). Die SchülerInnen können aus 75 Fachrichtungen auswählen, die in einem oder zwei Schuljahren gelehrt werden (Kombination aus Schulbesuch und Praktikum in einem Betrieb). Sie erhalten den Titel Técnico/a superior/ especialista (Höh. TechnikerIn) in der gewählten Fachrichtung. Dieser Abschluss berechtigt SchülerInnen auch ohne Selectividad eine, dem erlernten Beruf verwandte Fachrichtung an der Universität zu studieren. Das Studium in Spanien umfasst drei Zyklen von jeweils zwei Jahren. Die Studenten/innen verlassen die Universität meist im Alter von 24 Jahren.
<b>3. Die jüngere Geschichte - von 1920 bis zum modernen Spanien</b>
In einem kurzen Abriss wird nach Agudo et al. (1997) die Geschichte des Landes erläutert: Unter der Regierung von König Alfons XIII. (1886-1931) kam es in den 1920er Jahren zu Aufständen der Arbeiter aus Industrie und Landwirtschaft, so dass mit Einverständnis des Königs General Primo de Rivera die Macht übernahm. Unter seiner Diktatur wurden intellektuelle Kritiker ausgewiesen und staatsmonopolistische Industriekonzerne gegründet. 1930 dankte Rivera aufgrund zunehmender wirtschaftlicher Schwierigkeiten ab. Die republikanische Bewegung Spaniens hatte an Gewicht gewonnen, so dass auch König Alfons XIII. auf weitere Machtansprüche verzichtete und ins Exil ging.
Nach dem Ende der Monarchie bildete sich eine Koalition aus Republikanern und Sozialisten, die nach einer provisorischen Regierungsphase die Wahlen 1930 gewann. In einer gemeinsamen Konstitution wurden die Trennung von Kirche und Staat und das allgemeine Wahlrecht für Frauen verankert. Regierungschef war Manuel Azaña, ein intellektueller Jurist und überzeugter Demokrat. Er wollte Militär und Kirche entmachten sowie die Bildung des Volkes und eine ausgewogene soziale Entwicklung fördern. Der gescheiterte Militärputsch von 1932 zeigte allerdings, dass das Heer die politische Macht nicht abtreten wollte. In den damals mächtigsten politischen Gruppierungen dominierten antiklerikale Tendenzen. So wurde im Mai 1931 ohne Eingreifen der Regierung hingenommen, dass in Madrid Kirchen und Klöster angezündet wurden. Die Verfassung sah eine Säkularisierung der Orden vor, die katholische Kirche Roms galt hier sogar als verfassungsfeindlich. Obwohl etwa 10 000 neue Schule errichtet wurden, fehlten etwa 350 000 Schulplätze, so dass sich religiöse Gemeinschaften unter dem Mantel von Bildungsvereinen neu gruppierten, um ihre Macht nicht zu verlieren.
1933 wurden Aufstände von Anarchisten, vor allem im Süden der Republik, mit äußerster Härte von Regierungstruppen erstickt. Im gleichen Jahr verließen die Sozialisten die Regierung, Azaña musste abtreten und das Land radikalisierte sich nach Wahlen in Rechts- und Linksparteien. Die radikale Zentrumspartei gewann nach geringer Wahlbeteiligung. Am 5. Oktober 1934 riefen die Sozialisten, gefolgt von den Kommunisten und Anarchisten zu einem revolutionären Streik auf. General Francisco Franco Bahamonde (1882-1975) kommandierte von Madrid aus das Militär, das sie blutig niederschlug. Franco, zum obersten Militärchef ernannt, förderte die Bildung einer antirepublikanischen Gruppierung innerhalb der Armee, der sich viele Monarchisten und Antidemokarten anschlossen. Bei Neuwahlen im Jahr 1936 stand dieser radikalen rechten Gruppe eine Volksfront aus Arbeiterparteien und Republikanern, die eine Generalamnestie für die Aufständischen der Oktoberrevolution forderten, gegenüber, die die Wahl klar gewannen und Azaña wieder als Regierungschef einsetzten.
[...]
Schlagworte:
Examensarbeit
kein Summary verfügbar
Notiz:
Grinverlag - Volltext 4,99 €
Autor: Dipl.-Ing. Lukas Breul
Fachbereich: Pädagogik - Schulwesen, Bildungs- u. Schulpolitik
Kategorie: Hausarbeit
Institution: Universität Lüneburg
Jahr: 2005
Seitenzahl: 13
Note: keine
Veranstaltung: Bildungsreformen in Europa
Literaturverzeichnis: ~ 5 Einträge
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ID: 3103 | hinzugefügt von Jürgen an 04:02 - 9.1.2008 |
title: Célestin Freinet (1896 - 1966). Ateliers als Forschungswerkstätten. Biographisches und Ideengeschichtliches by Hagstedt, Herbert, Ahntal (D) |
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Titel: | Célestin Freinet (1896 - 1966). Ateliers als Forschungswerkstätten. Biographisches und Ideengeschichtliches |
Autor: | Hagstedt, Herbert, Ahntal (D) | Sprache: | deutsch |
Quelle: | Baltmannsweiler, Schneider, in: Basiswissen Sachunterricht. Bd. 1: Geschichte und historische Konzeptionen des Sachunterrichts. S. 139-142 | Quellentyp: | Artikel aus Sammelband |
veröffentlicht am: | DD.MM.2008 | | |
url: | |
Text:
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Schlagworte:
lit_2008-art, Pädagogik; Freinet-Pädagogik; Reformpädagogik; Erziehungsziel; Kindgemäßheit; Bildungsgeschichte; Schulbibliothek; Grundschule; Schüler; Experiment; Freie Arbeit; Unterricht; Geschichte (Histor); Atelier; Naturwissenschaftlicher Unterricht; 20. Jahrhundert; Freinet, Célestin;
kein Summary verfügbar
keine Notizen verfügbar
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ID: 4620 | hinzugefügt von Jürgen an 03:33 - 19.4.2014 |
title: Planung für ein Seminar by Hövel, Walter |
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Text:
Planung für ein Seminar:
Die Freinetpädagogik
Freinetgeschichte
Das Leben der Freinets, Texte des Schäfers Matthiew, Invariablen und die politischen Ziele
Grundeinstellungen
Kinderbild, Demokratie, Kinderrechte, Mehrheiten, Kreis, selbständiges, selbstorganisiertes Lernen
Grundthemen
Klassenrat, Kinderparlament, Kooperation, Erkundung der Welt, Druckerei und Korrespondenz
Grundbegriffe
Freier Ausdruck, Tasten und Versuchen, Fragen zur Welt, Text Libre und Methode Naturelle
Werkzeuge
Ateliers, Arbeits- und Darstellungstechniken, Einstiege, Bilderkartei, Begegnungen, Präsentation, Menschenschattenspiel, Filmen, Lernen im Dorf und in der Region
Umgang
Eigene Themen, Schreiben und Lesen, Vom eigenen Schreiben Freier Texte bis zur Dichterlesung, Sprachen, Sprache, Sprechen, Gruppe, elektronische Medien, Lernen und Lehren, Lernumgebung, Lernlandkarten, Lerngänge, Rollenspiel, Boaltheater, Glück, Freiheit, Leben, Essen und Gesundheit
Begegnungen
Projekte, Lernwerkstätten, Eigene Fragen, Individualisierung, Vernetzung, Diversität, Heterogenität, Leadership, Leiten, Kompetenzen, Internationalismus, Reformpädagogik, Lern- und Schulentwicklung, Altersmischung, Inklusion, Konstruktivismus und Systemik
Fächer
Deutsch, Fremdsprachen, Mathematik, Naturwissenschaften, Kunst, Musik, Sport, Religion, Textil, Werken, Philosophie, Psychologie und Soziologie
Lehrer*innenbildung
Rolle der Lehrkräfte, biographisches Lernen, Elternarbeit und eigene Fort- und Weiterbildung
Prüfungsleistungen
Beherrschung der Inhalte und Methoden der Freinetpädagogik
Aufgaben zwischen den Seminaren
Entwurf eines eigenen Handlungskonzeptes zur Implantierung von Veränderung im Lernen
Lesen von Texten meiner Homepage www.walter-hoevel.de und Dokumentation der Umsetzung eines Beispiels in der Praxis in Verbindung mit dem Gelesenen
Schlagworte:
summary:
-
keine Notizen verfügbar
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ID: 5569 | hinzugefügt von Jürgen an 18:29 - 2.7.2021 |
title: Die Arbeit mit Freinet-Pädagogik by Kalbfleisch, Tobias |
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Text:
Die Arbeit mit Freinet- Pädagogik in der Hauptschule<p>
Inhaltsverzeichnis:<p>
Einleitung S. 3<p>
1. Zur Situation der Hauptschule S. 4<p>
2. Elemente der Freinet- Pädagogik S. 5<p>
3. Arbeiten mit Freinet in der Hauptschule S. 7<p>
3.1. Beziehung zwischen Lehrern und Schülern S. 7<br>
3.2. Der Unterricht mit Freinet in der Hauptschule S. 9<p>
3.2.1. Die Arbeit mit Freinet im Sprachunterricht S. 9<br>
3.2.2. Konkrete Beispiele zum Deutschunterricht S. 10<p>
3.3. Der naturwissenschaftliche Unterricht S. 12<p>
3.3.1. Der Geographieunterricht S. 13<br>
3.3.2. Der Mathematikunterricht S. 14<p>
4. Resümee S. 16<p>
5. Literaturverzeichnis S. 18<p>
Schlagworte:
Seminararbeit, hausarbeiten.de
summary:
-
Notiz:
Bewertung: 1, Kosten: 6,99 €
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ID: 1522 | hinzugefügt von Jürgen an 12:12 - 28.10.2002 |
title: Der aktuelle Bildungsdiskurs im Spiegel der Reggio-Pädagogik by Kempmann, Ann-Kathrin |
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Titel: | Der aktuelle Bildungsdiskurs im Spiegel der Reggio-Pädagogik |
Autor: | Kempmann, Ann-Kathrin | Sprache: | deutsch |
Quelle: | München, Grin | Quellentyp: | Monographie |
veröffentlicht am: | DD.MM.2017 | | |
url: | https://www.grin.com/document/432691 |
Text:
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitung
2. Frühkindliche Bildung
2.1 Das Trias Erziehung – Bildung – Betreuung
2.2 Der Bildungsauftrag in der Frühpädagogik
2.3 Frühe Kindheit
2.4 Frühkindliche Bildungsforschung in Deutschland
2.5 Bildungspläne der Bundesländer
3. Die Kindertagesbetreuung in Deutschland
3.1 Die Kindertagesstätte als institutionelle Betreuungsform
3.2 Die Kindertagespflege als private Betreuungsform
4. Reggio-Pädagogik
4.1 Die konzeptionelle Entwicklung der Reggio-Pädagogik
4.2 Die Biografie von Loris Malaguzzi
4.3 Das Menschenbild der Reggio-Pädagogik
4.3.1 Das Bild vom Kind
4.3.2 Die Rolle Erwachsener: Eltern und Erzieher
4.4 Besonderheiten und Grundsätze der Reggio-Pädagogik
4.4.1 Die Bedeutung von Identität und Gemeinschaft
4.4.2 Die Vorstellung von Bildung und Lernen
4.4.3 Die Bedeutung von Projekten
4.4.4 Beobachtung und Dokumentation
4.4.5 Der Raum als dritter Erzieher
4.5 Kritik an der Reggio-Pädagogik
5. Vergleich des Bildungsverständnisses des frühkindlichen Bildungs-diskurses mit dem Bildungsverständnis im Konzept der Reggio- Pädagogik
6. Resümee
7. Anhang
8. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Das Thema Bildung hat seit der Aufklärung in allen historischen Epochen zu kontroversen Diskussionen geführt. Immer wieder wurden Bildungsreformen gefordert und Änderungen eingeleitet (...) Die aktuelle Bildungsdebatte in Deutschland wird von den Ergebnissen der PISA-Studie angestoßen“ (Thesing 2004, S. 13).
Die Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse 2001 hat bis heute erheblichen Einfluss auf den frühkindlichen Bildungsdiskurs, der in der vorliegenden Arbeit thematisiert wird. Die Ursache für das schlechte Abschneiden in der PISA-Studie wurde nicht ausschließlich in der Schule gesucht, sondern ebenso im vorschulischen Bereich. Es wurden vielfältige Vorschläge zur Reform der Kindertageseinrichtungen unterbreitet. Unter anderem wurde ein früherer Schuleintritt, eine stärkere schulische Ausrichtung des Kindergartens[1], der Ausbau der Angebote für unter 3-Jährige, eine gesonderte Sprachförderung für Kinder mit Migrationshintergrund und der Ausbau der Ganztagesbetreuung gefordert (vgl. Otto / Rauschenbach 2008, S. 14; Fthenakis 2003, S. 13). Die PISA-Studie war einer der zentralen Auslöser dafür, dass die frühkindliche Bildungsdebatte so intensiv in Medien, Wissenschaft und Politik diskutiert wurde. Es ist darauf hinzuweisen, dass die PISA-Studie zwar die Defizite der 15-jährigen Schüler[2] feststellt, jedoch gibt es keinen Beleg dafür, dass diese in irgendeinem Zusammenhang mit der frühen Kindheit stehen (vgl. ebd., S. 14; ebd., S. 13). Umso erstaunlicher ist es, dass die damals vorgebrachten politischen Forderungen genau auf diesen Bereich abzielen. 2004 reagierten die Bundesländer mit der Veröffentlichung ihrer Bildungspläne auf die frühkindliche Bildungsdebatte[3] (vgl. Textor 2016). Diese werden unter anderem in dieser Abschlussarbeit hinsichtlich der Bildungsverständnisse sowie der Vorstellung vom Kind thematisiert.
Die vorliegende Arbeit thematisiert den frühkindlichen Bildungsdiskurs in der institutionellen Kindertagesbetreuung. Die an diesen Diskurs herangetragenen Forderungen und Vorstellungen von Bildung werden mit dem Bildungsverständnis des pädagogischen Konzeptes der Reggio-Pädagogik verglichen. Schaut man sich die pädagogischen Konzepte der institutionellen Kindertagesbetreuung in Luxemburg an, dann wird deutlich, dass die großen Maison Relais-Trägerorganisationen Arcus, Elisabeth und Caritas Jeunes & Familles mit ihrer Konzeption auf die inhaltlichen Bestandteile der Reggio-Pädagogik zurückgreifen. Das pädagogische Welt-Atelier-Konzept wurde aus der Reggio-Pädagogik abgeleitet und beinhaltet das Bild vom kompetenten Kind sowie das Bildungsverständnis der Reggio-Pädagogik. Maison Relais existieren seit dem Jahr 2005 und ergänzen als außerschulisches Betreuungsangebot das Bildungssystem in Luxemburg[4] (vgl. Horn et al. 2011, S. 5 ff.). Durch meine Arbeit als Educatrice graduée an einer Maison Relais in Luxemburg hat sich das Interesse an der frühkindlichen Bildung sowie an der Reggio-Pädagogik intensiviert. Die vorliegende rein literaturgestützte Masterarbeit vereint beide Themen, behandelt jedoch gezielt die frühkindliche Bildungsdebatte in Deutschland. Die an diesen Diskurs herangetragenen Forderungen sowie Vorstellungen vom Bildungsverständnis werden mit der Vorstellung von Bildung in der Reggio-Pädagogik in Kapitel 5 bezugnehmend auf die Forschungsfrage: „Welche wichtigen Bildungsaspekte werden in der Reggio-Pädagogik benannt, die im aktuellen Bildungsdiskurs nicht oder nur am Rande auftauchen?“ verglichen.
Dazu wird im ersten thematischen Kapitel der frühkindliche Bildungsdiskurs thematisiert. Es wird unter anderem auf das Trias Erziehung, Bildung und Betreuung sowie auf den Bildungsauftrag in der Frühpädagogik eingegangen. Danach wird die frühe Kindheit thematisch behandelt. Anschließend wird der derzeitige Stand der frühkindlichen Bildungsforschung aufgezeigt, um sodann mit den Bildungsplänen der Bundesländer fortzufahren. Kapitel 3 legt die Rahmenbedingungen der Kindertagesbetreuung in Deutschland dar, die neben der Kindertagesstätte als institutionelle Betreuungsform, auch die Kindertagespflege beinhaltet. Im Anschluss daran thematisiert Kapitel 4 ausführlich die Reggio-Pädagogik. Es wird die konzeptionelle Entwicklung beschrieben sowie die Besonderheiten der Reggio-Pädagogik aufgeführt. Des Weiteren werden wichtige Grundsätze, das Bild vom Kind und die Vorstellung von Bildung und Lernen dargelegt. Darüber hinaus werden die Rollen der Erzieher und die der Eltern in Bezug zum Kind untersucht. Kapitel 5 vergleicht die Bildungsverständnisse des frühkindlichen Bildungsdiskurses mit dem Bildungsverständnis im Konzept der Reggio-Pädagogik. Die Arbeit wird durch ein Resümee abgerundet.
2. Frühkindliche Bildung
Die länderübergreifenden Schulleistungsstudien wie TIMMS (Trends in International Mathematics and Science Study) und PISA (Programme for International Student Assessment) haben dazu geführt, dass viele Länder ihre Bildungssysteme neu überprüft und reguliert haben. In diesem Zusammenhang und im Zuge von neuen Forschungserkenntnissen aus den Neurowissenschaften sowie Bereichen der Psychologie wird die frühe Kindheit als bedeutsame Phase der individuellen Bildung begriffen und als erster Schritt im lebenslangen Lernen angesehen (vgl. Stamm 2010, S. 11). Die Autorin Stamm betont, dass diese Entwicklung die Pädagogik unvorbereitet trifft und dass die frühe Kindheit ein vernachlässigtes Thema darstelle. Es gibt ihrer Meinung nach nur wenige Antworten darauf, was frühkindliche Bildung ist, in welchem Zusammenhang sie mit der Betreuung und Erziehung stehe und was sie beinhalte bzw. wozu sie dient (vgl. ebd.). Schäfer kritisiert, dass „(...) in der gegenwärtigen Debatte um frühkindliche Bildung wahllos alles als Bildung bezeichnet wird – gleichgültig ob es sich um eine spezifische Förderung (zum Beispiel der Muttersprache) handelt, um eine Technik, die Kinder beherrschen sollten (vielleicht den Umgang mit Computern), um soziales Einfühlungsvermögen oder ‚Kompetenzen’ in einem Lernbereich“ (Schäfer 2011a, S. 29).
Die Bedeutung der frühkindlichen Bildung lässt sich zudem nur indirekt aus der PISA-Studie ableiten, dadurch, dass diese sich auf den Leistungsstand von Schülern bezieht. Weigl geht auf den Aspekt ein, dass die PISA-Studie zwar zu der Ansicht führe, dass Bildungsprozesse bei Kindern bereits vor Schuleintritt gefördert werden sollten, dennoch fehle der konkrete Zusammenhang zur frühkindlichen Bildung (vgl. Weigl 2010, S. 1). Die Autoren Otto und Rauschenbach bestätigen ebenso, dass bei der PISA-Studie hinsichtlich der schulischen Leistung kein Zusammenhang zum vorschulischen Bereich festgestellt wurde (vgl. Otto / Rauschenbach 2008, S. 14). Fthenakis betont, dass die PISA-Studie eine Reflexion der Pädagogik der frühen Kindheit erforderlich mache. Dennoch kritisiert er vorschnelle bildungspolitische Maßnahmen, die zum Beispiel eine frühe Einschulung sowie den verstärkten Deutschunterricht vor dem Übergang in die Grundschule als Reaktion auf die PISA-Studie fordern (vgl. Fthenakis 2003, S. 13). Der Autor Weigl kritisiert, dass in bildungspolitischer Hinsicht der Eindruck entstehe, die Schuld für das Versagen des Schulbetriebs bei der Frühpädagogik zu suchen (vgl. Weigl 2010, S. 2). Das ist insofern problematisch, weil sich als Konsequenz hieraus ergeben würde, dass schulisches Lernen bereits im Kindergarten, in Kindertagesstätten und ähnlichen Betreuungssettings durchgeführt werden müsse. Der Autor Schäfer positioniert sich für eine frühkindliche Pädagogik, die eine Kultur des Lernens gestaltet. Er führt aus: „(...) Bildungsprozesse können nur da dauerhaft initiiert und gesichert werden, wo die Aktivität des Kindes durch soziale Bedingungen getragen und unterstützt, durch sachliche Anregungen herausgefordert und durch strukturelle Bedingungen dauerhaft gesichert wird“ (Schäfer 2011b, S. 11). Die Grundlage dieser Kultur besteht nach Schäfer in der Beteiligung des Kindes an den dargebotenen Möglichkeiten, die von der Pädagogik aus geschaffen werden sollten (vgl. ebd.).
In der Fachliteratur stehen sich laut Gisbert grundsätzlich zwei unterschiedliche Anschauungen frühkindlicher Bildung gegenüber:
1. „Bildung richtet sich (...) auf Aspekte wie Motivation und Interesse oder ganz allgemein auf eine positive Lerndisposition.“
2. Bildung richtet sich auf die „(...) gezielte Vorbereitung auf die Schule (...) der Erwerb schulbezogener Kompetenzen (ist) das erklärte Ziel“ (Gisbert 2003, S. 87).
Carle und Wenzel nennen ebenfalls die zwei Anschauungen, die den frühkindlichen Bildungsdiskurs kennzeichnen. Die vorschulische Bildung, in anderen Worten frühkindliche Bildung, beinhaltet zum Einen das Verständnis der schulvorbereitenden Funktion der Kindertageseinrichtungen. Andererseits betonen gerade die Kindertagesstätten als Ort frühkindlicher Bildung in ihrem Selbstverständnis den eigenen Bildungsbeitrag unabhängig von schulischen Kriterien (vgl. Carle / Wenzel 2007, S. 186). Die Autoren Sieber und Wittmann unterscheiden zwischen Bildung als Selbstbildung und Bildung als instrumentellen Kompetenzerwerb. Die instrumentelle Bildung ist ihrer Meinung nach ein Prozess „(...) durch den Menschen personale (Schlüssel-)Qualifikationen und eine deutliche Orientierung an der Arbeits- und Berufswelt erhalten“ (Siebel / Wittmann 2014, S. 39). Die Lerninhalte sind bei diesem Bildungsverständnis in Lehrplänen festgeschrieben und werden mittels didaktischer Methoden vom Lehrpersonal gestaltet und dokumentiert, in anderen Worten benotet (vgl. ebd.). Unter selbstreferentieller Bildung verstehen die Autoren die Bildung als „(...) Prozess der Entwicklung von Fähigkeiten, die es einem Menschen erlauben zu lernen, sein eigenes Leistungspotenzial zu entwickeln, eigenständig und –verantwortlich zu handeln, Probleme zu lösen und Beziehungen einzugehen“ (ebd.). Hierbei geht es nicht darum festgelegtes Wissen vermittelt zu bekommen, sondern vielfältige Kompetenzen zu entwickeln. Als Kompetenzen nennen die Autoren:
- Personale Kompetenz: Entwicklung der Identität
- Soziale Kompetenz: Entwicklung der Beziehungsfähigkeit
- Lernmethodische Kompetenz: das Lernen lernen
- Inhaltliche Kompetenz: Aufnahme von Basiswissen, damit sind grundlegende Zusammenhänge gemeint
- Orientierungskompetenz: Unterscheiden, bewerten und entscheiden können (vgl. ebd., S. 38 f.).
Der Autor Weigl spricht sich dafür aus, das bisherige Bildungsverständnis zu erweitern. Es geht darum alle Lern- und Bildungsprozesse in den Vordergrund zu rücken unabhängig von Bildungsinstanzen und vorgegebenen Lehrplänen. Er kritisiert, dass es immer wieder zu Vermischungen von schulischer Problematik und frühpädagogischen Ansätzen in der Bildungsdebatte kommt. Es ist somit durchaus ratsam, die frühkindliche Bildung und die schulische Bildung voneinander zu differenzieren und sich die Unterschiede bewusst zu machen (vgl. Weigl 2010, S. 3 f.).
Bisher wurde die Entwicklung des frühkindlichen Bildungsdiskurses ausgehend von der Veröffentlichung schulischer Bildungsstudien beschrieben. Es handelt sich hierbei um den Ausgangspunkt dieser Arbeit. Obwohl es sich um schulische Bildungsstudien handelt, wirkte sich die Veröffentlichung der Studie auch auf den vorschulischen Bereich aus und ihre Institutionen aus. Dies führte unter anderem zu unterschiedlichen Auffassungen von Bildung. In der nachfolgenden Darstellung des frühkindlichen Bildungsdiskurses werden bestimmte, für die Ausarbeitung relevante thematische Schwerpunkte gewählt, da die Tragweite des Diskurses zu groß ist und infolgedessen im Rahmen dieser Masterarbeit nicht umzusetzen wäre. Der frühkindliche Bildungsdiskurs wird dabei hinsichtlich seiner Auffassungen von Bildung untersucht. Das erste Unterkapitel beschäftigt sich zunächst mit dem Trias Erziehung, Bildung und Betreuung, welches insbesondere den rechtlichen Förderungsauftrag widerspiegelt. Verschiedene Positionen werden zu dem Trias dargelegt, um aufzuzeigen, wie die drei Begriffe zueinanderstehen und was darunter verstanden werden kann. Danach werden die Entwicklungen in Deutschland aufgezeigt, die zu dem offiziellen Bildungsauftrag in der Frühpädagogik geführt haben. Schließlich wird die frühe Kindheit dargelegt, die Vorstellung des Kindes, die in direkter Verbindung zu der pädagogischen Haltung des Erziehers steht und dementsprechend Einfluss auf die Bildungsprozesse des Kindes nimmt, hinsichtlich selbstinitiierter bzw. fremdinitiierter Lernprozesse. Im Anschluss daran wird die frühkindliche Bildungsforschung und ihre Entwicklung in Deutschland prägnant wiedergegeben, da die Forschungsergebnisse zu dem „neuen“ Bild vom Kind beigetragen haben und dementsprechend relevant für die vorliegende Masterarbeit sind. Der Zusammenhang zwischen den Forschungsergebnissen und diesem Diskurs wird aufgezeigt. Daran anschließend werden die Bildungspläne der Bundesländer thematisiert bezugnehmend auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Hierzu wird in erster Linie Sekundärliteratur herangezogen, die sich auf verschiedene Analysen unterschiedlicher Autoren bezieht.
2.1 Das Trias Erziehung – Bildung - Betreuung
„Kindertagesstätten hatten schon immer einen offiziellen Bildungsauftrag, allerdings verbunden mit Erziehung und Betreuung, wobei in der Diskussion der vergangenen Jahre vielfach die Betreuung und speziell die erweiterten und flexiblen Öffnungszeiten mehr Gewicht hatten als die Intention Bildung“ (Thesing 2004, S. 45).
Thesing geht in seinem Zitat auf den festgeschriebenen Förderauftrag der Kindertagesbetreuung in Deutschland ein und kritisiert zugleich, dass die Betreuung bisher im Vordergrund stand. Der § 22 SGB VIII beinhaltet für Tageseinrichtungen und Kindertagespflege in gleichermaßen einen Förderungsauftrag:
„(3) Der Förderungsauftrag umfasst Erziehung, Bildung und Betreuung des Kindes und bezieht sich auf die soziale, emotionale, körperliche und geistige Entwicklung des Kindes. Er schließt die Vermittlung orientierender Werte und Regeln ein. Die Förderung soll sich am Alter und Entwicklungsstand, den sprachlichen und sonstigen Fähigkeiten, der Lebenssituation sowie den Interessen und Bedürfnissen des einzelnen Kindes orientieren und seine ethnische Herkunft berücksichtigen“ (§ 22 SGB VIII Absatz 3).
Es gibt eine große Anzahl verschiedener Sichtweisen über den Bedeutungsgehalt des Bildungsbegriffs. Der Autor Fichtner empfiehlt, „(...) dass der Begriff nur aus gesellschaftlichen Zusammenhängen der jeweiligen Zeit heraus zu verstehen ist und seine Deutung darüber hinaus vom subjektiven Standpunkt des Benutzers abhängt“ (Fichtner 2007, S. 23). Allgemein wird unter dem Bildungsbegriff der Erwerb von Wissen und Kenntnissen verstanden. Fichtner betont allerdings, dass Bildung vielmehr ein umfassender Prozess der Selbstbildung jedes einzelnen Menschen sei. Der Begriff dürfe nicht ausschließlich auf schulisches Wissen und gesellschaftliche Verwertung reduziert werden (vgl. ebd., S. 24 f.). Der zwölfte Kinder- und Jugendbericht unterstützt diese Auffassung: „Bildung ist mehr als das, was Institutionen bei jenen hervorbringen, die sie besuchen, ist mehr als ein messbares Ergebnis an abfragbaren Wissensbeständen. Bildung ist ein offener und unabschließbarer Prozess, der von den Menschen selbst gestaltet wird[5] “ (BMFSFJ 2005, S. 103). Betreuung und Erziehung werden hierbei als Bedingungen von Bildung angesehen. Der Bericht geht darauf ein, dass eine eindeutige Abgrenzung der Begriffe schlichtweg nicht möglich ist. Bei den Begriffen Erziehung und Bildung handelt es sich um Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft, hingegen wird Betreuung als abgeleiteter Begriff gesehen. Betreuung beinhaltet jedoch Funktionen, die für Erziehungs- und Bildungsprozesse unabdingbar sind (vgl. ebd., S. 105 f.). Berg-Winkels differenziert das Trias wie folgt, unter Bildung versteht sie die „(...) aktive Aneignung der Welt, der Kultur und der Natur von Geburt an. Erziehung beschreibt die Gesamtheit der Verhaltensweisen und Aktivitäten von Erwachsenen im verantwortlichen Umgang mit Kindern. Unter Betreuung versteht man die umfassende Sorge für das leibliche und seelische Wohlbefinden der Kinder“ (Berg-Winkels 2010, S. 25).
Schäfer unterscheidet den Erziehungs- von dem Bildungsbegriff folgendermaßen: „Während unter Erziehung die Reaktionen einer Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache verstanden wird, rückt der Bildungsbegriff eher das eigenwillige und selbständige Handeln des Individuums bei seinen Lernprozessen in den Mittelpunkt sowie deren Beziehungen zu einem übergreifenden soziokulturellen Zusammenhang“ (vgl. Schäfer 2014, S. 13). Fichtner sieht in der Erziehung ein „(...) absichtsvolles Einwirken des Erwachsenen auf den Entwicklungsprozess und damit eben auch auf Bildungsprozesse des Kindes“ (Fichtner 2007, S. 29). Bildung als Aneignung betont hingegen die eigenständige Tätigkeit des Kindes. Die Erziehung hat das Ziel, diese Aneignungsprozesse zu unterstützen bzw. zu ermöglichen (vgl. ebd.). Thesing beschreibt Erziehung und Selbstbildung des Kindes ebenfalls als Dialog: „Erziehung vermittelt zwischen dem kulturellen Anliegen und den Selbstbildungsaktivitäten des Kindes. Sie kann nicht verstanden werden als ein einseitiges Durchsetzen von erzieherischen Intentionen. Somit sind Erziehung und Selbstbildung kein Widerspruch, sondern bedingen sich gegenseitig“ (Thesing 2004, S. 54). Liegles Bildungsverständnis kommt dem von Thesing sehr nah. Liegle definiert die Erziehung als Aufforderung zur Bildung: „Bildung als Aneignungstätigkeit hätte keinen Gegenstand und keine Entfaltungschancen ohne die unterstützende und stimulierende Vermittlung von Seiten der Umwelt; Erziehung als vermittelnde Tätigkeit müsste ins Leere laufen, könnte sie nicht auf die Aneignungsfähigkeit und Aneignungsbereitschaft der Kinder setzen“ (Liegle 2008, S. 99). Erziehung und Bildung sind seiner Meinung nach komplementär und beinhalten eine Relation von vermittelnder und aneignender Tätigkeit (vgl. ebd., S. 99 f.).
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass es bis heute keine einheitliche Definition des Bildungsbegriffs gibt. Graichen konstatiert:
„Der Bildungsbegriff ist der Begriff in der deutschen Pädagogik, dem im Laufe der Zeit häufig mehr unterschiedliche Bedeutungen und Inhalte zugeschrieben wurden als irgend einem anderen Fachausdruck. Das heißt, es existiert keine einheitliche Definition darüber, was Bildung ist, und dies macht den Bildungsbegriff zu einem der ungenauesten Termini in der Pädagogik“ (Graichen 2002, S. 16).
Bildung ist und bleibt ein unklarer Begriff, der seit dem Erscheinen der PISA-Studie zu einem öffentlichen Begriff geworden ist, „(...) mit dem unterschiedliche Deutungen, Forderungen und Hoffnungen verbunden werden“ (Fichtner 2007, S. 26). Bevor der Bildungsauftrag der frühen Kindheit im nachfolgenden Kapitel thematisiert wird, sollen vorab noch einige Perspektiven der Bildung dargelegt werden. Harring et al. beschreiben die Entwicklung, dass „(...) im Mainstream der Bildungsdiskussion ein Einvernehmen darin zu erkennen [ist], dass Bildung keineswegs nur etwas darstellt, das ausschließlich in der Schule stattfindet. Dies ist dahingehend als eine neue Perspektive zu verstehen, da die bisherige auf Kinder und Jugendliche bezogene empirische Bildungsforschung vornehmlich von der Schulforschung geprägt war“ (Harring et al. 2007, S. 8). In der heutigen Bildungsdebatte hat die Institution Schule nach wie vor eine dominierende Stellung, dennoch widmet sich die Bildungsforschung nun zunehmend den Lernprozessen in außerschulischen Kontexten (vgl. ebd.). Verschiedene Arbeiten haben zur Diskussion von verschiedenen Bildungsorten geführt und darüber hinaus zu einer Ausweitung des Bildungsbegriffs (vgl. Furtner-Kallmünzer et al. 2002, Dohmen 2001, BMFSFJ 2005, Otto / Rauschenbach 2004, Rauschenbach / Düx / Sass 2006, Tully 2006). Die Orte, an denen Bildungsprozesse stattfinden, gliedern sich nun in drei Bereiche:
- Formelle Bildung
- Nicht-formelle Bildung
- Informelle Bildung (Harring et al. 2007, S. 8).
Unter formaler Bildung versteht man Lernprozesse, die in eigens dafür errichteten Institutionen erfolgen, d.h. Schule, Ausbildung und Hochschule sind Orte formalen Lernens (vgl. BMFSFJ 2005, S. 127). Formales Lernen ist zielgerichtet und mit einer bestimmten formalen Qualifizierung bzw. Zertifizierung verbunden (vgl Overwien 2006, S. 46). Die Schule als Ort formaler Bildung weist aufgrund ihres streng reglementierten Organisationscharakters und hinsichtlich der Selektionsgewalt einen hohen Grad an Formalisierung auf (vgl. BMFSFJ 2005, S. 128). Nicht-formelle Bildungsorte sind zwar durch eine klare institutionelle Strukturiertheit und Rechtslage gekennzeichnet, sie stellen jedoch eine andere Form von Lerngelegenheiten bereit. Die Lernprozesse zeichnen sich durch eine offene Angebotslage und freiwillige Nutzung bzw. Inanspruchnahme aus. Im Fokus stehen hier die Vermittlung von sozialen und personalen Kompetenzen sowie die Förderung und Beteiligung an politischen und gesellschaftlichen Prozessen. Die Bildungsziele dieser Einrichtungen sind nicht streng festgeschrieben und die erworbenen Kompetenzen werden auch nicht zertifiziert (vgl. Rauschenbach et al. 2004, S. 32 f.; Harring et al. 2007, S. 9). Harring et al. erläutert: „Vor allem die Kinder- und Jugendhilfe sowie die Institutionen der vorschulischen Bildung können nach diesem Verständnis als Orte der nicht-formalen Bildung gesehen werden“ (Harring et al. 2007, S. 9). Unter informeller Bildung versteht Dohmen alle bewussten als auch unbewussten Lernprozesse, die abseits von organisierten, strukturierten und kontrollierten Lernarrangements fernab von öffentlichen Bildungsinstitutionen stattfinden (vgl. Dohmen 2001, S. 18 ff.). Das situative Lernen, welches ungeplant stattfindet und beiläufig, vielleicht auch unbemerkt geschieht, steht hier im Vordergrund. Familie, Peer Group sowie die Medien sind klassische informelle Bildungsorte (vgl. ebd., Harring et al. 2007 S. 9; Rauschenbach et al. 2006, S. 7). Rauschenbach et al. sieht die Orte des informellen Lernens als Voraussetzung und zugleich Fortsetzung formeller und nicht-formeller Bildungsprozesse (vgl. Rauschenbach et al. 2006, S. 7).
Das nächste Kapitel widmet sich nun dem Bildungsauftrag der frühen Kindheit. Es werden unter anderem die Entwicklungen in Deutschland aufgezeigt, die zu dem Bildungsauftrag in der Frühpädagogik geführt haben.
2.2 Der Bildungsauftrag in der Frühpädagogik
Es wird fortwährend darüber diskutiert, inwieweit Kindertageseinrichtungen als erste Stufe des Bildungswesens gesehen werden können. Laut Liegle kann die Geschichte der Frühpädagogik in Deutschland als „(...) eine Geschichte der Trennung zwischen (‚sozialpädagogisch’ orientiertem) Kindergarten und Schule“ aufgefasst werden (Liegle 2008, S. 86). Was hat sich in der Zwischenzeit getan? Wie hat sich diese Auffassung geändert? Die damalige Bundesbildungsministerin Annette Schavan erläutert: „Lange Zeit herrschte die Auffassung vor, Bildung beginne in der Schule, der Kindergarten sei zum Spielen da. Das hat sich geändert. Heute verstehen wir den Kindergarten als Lernort, alle Bundesländer haben entsprechende Bildungspläne erlassen. Deshalb ist es sinnvoll, dass beide Einrichtungen sich stärker abstimmen“ (Schavan 2007, S. 35). Die Perspektive auf die institutionelle Kindertagesbetreuung hat sich somit geändert. Die Kindertagesstätte wird nun als Ort der Bildung aufgefasst. Liegle geht des Weiteren auf den Aspekt ein, dass Spielen und Lernen gar kein Widerspruch in sich ist (vgl. Liegle 2008, S. 87). Der Orientierungsplan für Bildung und Erziehung für die baden-württembergischen Kindergärten enthält sogar ein eigenes Kapitel zum Thema Spielen und Lernen. Es wird dargelegt, dass Spielen und Lernen für Kinder ein und dasselbe ist und trotzdem viele Erwachsene hierin einen Widerspruch sehen:
„Im Spiel verwirklichen sich sowohl die allgemein menschlichen Lerngrundsätze wie auch die spezifischen Bedingungen des kindlichen Lernens auf ideale Weise (...) Ist es wirklich so, dass im Kindergarten nicht gelernt wird, dass das Spielen mit der Kindergartenzeit aufhört, dass in der Schule kein Platz fürs Spielen ist, dass Spielen und Lernen Gegensätze sind? Spielen ist die dem Kind eigene Art, sich mit seiner Umwelt auseinanderzusetzen, sie zu erforschen, zu begreifen, zu ‚erobern’ (...) Spiel, Lernen und Entwicklung sind also untrennbar verbunden[6] “ (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport 2011).
Nach dem Verständnis des Orientierungsplans kann es keine strikte Trennung von Spielen und Lernen bei Kindern geben. Sie bedingen sich gegenseitig. Ebenso kritisch wird die räumliche Trennung gesehen, in der das Spielen dem Kindergarten und der Schule das Lernen zugeschrieben wird. Bereits in den sechziger Jahren erfuhr die Kindertagesstätte eine deutliche Aufwertung, dadurch, dass Sozialisationsforscher einen Zusammenhang zwischen vorschulischer Förderung und späterem Schulerfolg feststellten. Infolgedessen wurden mehr Kindergartenplätze gefordert (vgl. Aden-Grossmann 2002, S. 164). Der Blick auf die Kindertagesstätte als Einrichtung änderte sich: „Er galt nicht mehr primär als eine soziale Einrichtung für Kinder, deren Mütter berufstätig sein mußten, sondern als eine familienergänzende Bildungseinrichtung, durch deren Besuch auch Kinder aus dem Bildungsbürgertum profitieren konnten“ (ebd.).
Die Kindertagesstätte hat sich von einer sozialfürsorgerischen Notfalleinrichtung für Kinder berufstätiger Mütter zu einer anerkannten Bildungsstätte entwickelt. Bereits 1970 erkannte der Bildungsrat die Kindertagesstätte als Teil des Bildungswesens an. Aden-Grossmann merkt an, dass diese Entscheidung jedoch keine politischen Konsequenzen nach sich zog (vgl. ebd., S. 316). Das Bestreben lag ausschließlich in den kompensatorischen Angeboten für Kinder aus bildungsfernen Schichten. Schließlich wurde dieses Bestreben in den darauffolgenden Jahren durch die Ausweitung des Betreuungsangebots überlagert. Seit 1996 haben alle Kinder vom dritten Lebensjahr an einen gesetzlichen Anspruch auf einen Kindergartenplatz (vgl. ebd., S. 317). Dies hat unter anderem zu „(...) einer Erhöhung der Versorgungsquote für drei- bis sechsjährige Kinder geführt“ (Fthenakis 2004, S. 388). Als Nebeneffekte führt Fthenakis des Weiteren die teilweise verschlechterten Rahmenbedingungen und Vernachlässigung der Weiterentwicklung des Betreuungssystems dieser Altersgruppe an (vgl. ebd.). 2001 wurde schließlich die von der OECD durchgeführte internationale Vergleichsstudie veröffentlicht und löste einen nachhaltig wirkenden Schock über den Bildungsstand deutscher Schüler aus. Die Studie ergab, dass in Deutschland nach wie vor die soziale Herkunft ausschlaggebend für den Bildungserfolg ist[7] (OECD 2001). Die Studie führte dazu, das Schulsystem kritisch zu hinterfragen und darüber hinaus wurde die vorschulische Erziehung in den Blick genommen. Laut Fthenakis haben die Berichte der Delphi-Befragungen 1998, die Resultate der PISA-Studie sowie die Empfehlungen des Forum Bildung im Jahr 2001 zu einer anhaltenden politischen Debatte hinsichtlich der Bildungsqualität in Tageseinrichtungen geführt (vgl. Fthenakis 2004, S. 389). Er führt weiter aus: „Ausgehend von einer Neubewertung der Bedeutung früher Lernprozesse begann man in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre international den Bildungsauftrag der Tageseinrichtungen neu zu konzeptualisieren (...) In Deutschland begann Mitte der neunziger Jahre eine Auseinandersetzung bezüglich der Konzeptualisierung von frühkindlicher Bildung und der Bedeutung, die frühen Bildungsprozessen in der kindlichen Entwicklung zukommt“ (ebd., S. 389 f.). Während in anderen europäischen wie zum Beispiel England, Norwegen und Schweden viele Fragen zur Bildung in den frühen Kindheitsjahren bereits seit Jahren diskutiert und Ansätze erfolgreich umgesetzt werden, fängt die Diskussion hierzulande jetzt erst richtig an (vgl. Oberhuemer 2003, S. 38 ff.). Das dritte Kapitel dieser Arbeit ergänzt dieses Unterkapitel, indem es den gesetzlich verankerten Bildungsauftrag der Frühpädagogik thematisiert. Im nachfolgenden Kapitel wird nun der Perspektivenwechsel der frühen Kindheit behandelt, indem das bisherige Verständnis von Kindheit dem aktuellen gegenüber gestellt wird.
2.3 Frühe Kindheit
„Der Lebensabschnitt ab der Geburt bis zum Eintritt in die Schule wird als Frühe Kindheit (Early Childhood) bezeichnet. Diese in etwa ersten sechs Lebensjahre unterteilen sich in die Phasen des Säuglingsalters (1. Lebensjahr), des Kleinkindalters (2. und 3. Lebensjahr) und des Kindergarten- bzw. Vorschulalters (4. bis 6. Lebensjahr)“[8] (Wagner o.A.).
Durch die Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen hat sich heutzutage die Erkenntnis durchgesetzt, dass Kinder schon von Geburt an eigenständige Subjekte mit spezifischen Kompetenzen sind (vgl. Maywald 2002, S. 39). Die Erkenntnisse der Säuglings- und Kleinkindforschung, der Hirn- und Sprachforschung und der Entwicklungspsychologie haben schließlich zu diesem Perspektivenwechsel der frühen Kindheit geführt. Die neuen Erkenntnisse führen „(...) zu einem Kind, das zunehmend eigenständiger die Welt erforscht, zu einem Kind also, das Fragen stellt und sich Hypothesen ausdenkt, die sich aus seinen vergangenen Erfahrungen herleiten; zu einem Kind, das Antworten sucht und dafür die sozialen und kulturellen Instrumentarien zu nutzen lernt, die ihm sein Umfeld zur Verfügung stellt“ (Schäfer 2012, S. 157). Fthenakis führt aus, dass das Kind nicht länger als Objekt der Bildungsbemühungen anderer gesehen wird, sondern als „(...) Subjekt im Bildungsprozess behandelt, als kompetent handelndes Wesen, das seine Entwicklung, sein Lernen und seine Bildung ko-konstruiert“ (Fthenakis 2003, S. 26). Darüber hinaus ändert sich auch die Rolle der Erwachsenen, sowohl der Erziehungsberechtigten als auch der Erzieher im kindlichen Bildungsprozess. Schäfer formuliert ihre Aufgabe wie folgt: „Sie werden heute weniger dazu gebraucht, den Kindern das Wissen vorzuordnen, das sie für die Bewältigung ihrer Zukunft zu benötigen scheinen, als dafür, dass sie ihnen den Rahmen vorstrukturieren, innerhalb dessen sie selbständig handeln und denken können“ (Schäfer 2012, S. 157).
Laut der Autorin Oberhuemer verschiebt sich das Bild des Kindes „(...) von einem unreifen, hilfsbedürftigen und erwachsenenabhängigen Wesen hin zu einer Sichtweise von Kindern als eigenständige Individuen mit großem Entwicklungspotenzial und als Träger eigener Rechte“ (Oberhuemer 2004, S. 370). Oberhuemer und Dahlberg geben einige Beispiele der früheren Verständnisse von Kindern wieder:
- Das Kind als „tabula rasa“, insofern als Rezipient und Reproduzent von Wissen und Kultur nach John Locke
- Das „unschuldige“ Kind nach Jean Jacques Rousseau
- Das biologische, „sich entwickelnde“ Kind, ohne Bezug zum jeweiligen sozialen und kulturellen Kontext nach Jean Piaget
- Das „objektivierte“ Kind der Entwicklungsdiagnostik
- Das „sozialisierungsbedürftige“ Kind der Sozialwissenschaften (vgl. ebd., S. 371; Dahlberg 2004, S. 18 ff.).
All diese Vorstellungen spiegeln das Kind als Objekt von Bildungsbemühungen seitens der Erwachsenen wieder. Dahlberg fasst zusammen: „Die bisherigen Bilder über Kinder (...) beschreiben ein sehr ‚armes’ Kind, schwach und passiv, unfähig und unterentwickelt, abhängig und isoliert“ (Dahlberg 2004, S. 27). Die Autorin sieht die Kinder und Pädagogen als „(...) aktive Co-Konstrukteure von Wissen und Kultur und als Bürger mit Rechten, Pflichten und Möglichkeiten“ (ebd.). Laut Oberhuemer besteht die Rolle des Pädagogen nun mehr „(...) in einer partnerschaftlichen Haltung, in der Erwachsene und Kinder mit Hilfe von relevanten Situationen, Ereignissen und Dingen gemeinsam Verständnis und Wissen konstruieren“ (Oberhuemer 2004., S. 373). Die Autorin Smith vertritt das Verständnis der Kindheitssoziologie: „Die Kindheitssoziologie betrachtet Kinder als unabhängige soziale Akteure, nicht als Noch-nicht-Erwachsene, die erst durch einen Prozess von Sozialisierung und Erziehung zum Erwachsenen werden (...) Der Blick richtet sich darauf, wie das individuelle Kind die Welt erlebt und versteht. Als Folge werden nun Kinder eher als Menschen verstanden, man begegnet ihnen mit Achtung und Anerkennung ihrer Fähigkeiten“ (Smith 2004, S. 76). Vertreter der Kindheitssoziologie hinterfragen normative Modelle, die darlegen, was Kinder wann können sollen und was nicht (vgl. ebd.). Kindheitssoziologen sowie Befürworter der Kinderrechte sehen die Kinder als eigentliche Akteure. Kinder sollen ihre eigene soziale Welt konstruieren und darüber hinaus als Personen geachtet werden, als Subjekte und nicht passiv von außen geprägte Objekte sozialer Überlegung bzw. Kontrolle. Die Kinder sind als Teilnehmer der sozialen Prozesse zu sehen (vgl. Freeman 1998, S. 436). Sowohl die Kindheitssoziologen als auch die Befürworter der Kinderrechte behandeln Kinder als Individuen und nicht als kollektive undifferenzierte Gruppe. Faktoren wie Geschlecht, Rasse und Ethnizität sowie die sexuelle Orientierung, Behinderung und weitere Faktoren sind somit von großer Bedeutung (vgl. Smith 2004, S. 77).
Abschließend bleibt festzuhalten, dass Kindheit weltweit sehr verschieden gesehen und bewertet wird und somit eine kulturelle und gesellschaftliche Konstruktion darstellt. Laut Nutbrown gibt es „(...) eine ganze Reihe von Perspektiven über Kindheiten, Kinder und die Rechte der Kinder in unterschiedlichen sozialen Kontexten. Diese haben ihren Ursprung in individuellen Erfahrungen, Glaubens- und Wertesystemen. Weltweit wird Kindheit je nach Gesellschaft anders konstruiert“ (Nutbrown 2004, S. 121). Die Perspektive der frühen Kindheit bzw. das Bild des Kindes findet Beachtung in den Bildungsplänen der Bundesrepublik Deutschland und wird in Kapitel 2.5 erneut aufgegriffen und hinsichtlich des Bildungsverständnisses dargelegt. Das folgende Kapitel widmet sich dem Zusammenhang zwischen der frühkindlichen Bildungsforschung und der derzeitigen Bildungsdebatte.
2.4 Frühkindliche Bildungsforschung in Deutschland
„Durch die Erkenntnisse der Säuglings- und Kleinkindforschung, Entwicklungspsychologie, Hirnforschung und Sprachforschung hat die Idee vom Kind, das etwas kann und das seine Entwicklung, eingebettet in soziale und kulturelle Bezüge, in hohem Maße mitbestimmt, seit den 1990er Jahren neue Unterstützung bekommen“ (Schäfer 2014, S. 20).
Verschiedene Forschungsdisziplinen haben somit erheblich zu dem in Kapitel 2.3 behandelten Perspektivenwechsel der frühen Kindheit beigetragen. Im Folgenden sollen nun einige Erkenntnisse der Bildungsforschung in Deutschland erwähnt werden. Die Autorinnen Biedinger und Becker untersuchen in ihrer Studie den Einfluss des Vorschulbesuchs auf die Entwicklung und den langfristigen Bildungserfolg von Kindern. Dabei ließen sich mehrheitlich positive Einflüsse auf die Entwicklung feststellen, die teilweise mit langfristigen Bildungserfolgen einhergingen. Sie betonen allerdings den Aspekt, dass die Wirkung nicht unerheblich von der Qualität der vorschulischen Einrichtungen abhängig zu sein scheint[9] (vgl. Biedinger / Becker 2006). Es existieren laut Biedinger und Becker kaum Studien über den deutschen Vorschulbereich und dessen Wirkung, deswegen wurden hierzu Sekundärdaten herangezogen (vgl. ebd.). Laut den Autoren Fried und Voss besteht allgemein Einigkeit darüber, dass sowohl die Entwicklung als auch die Bildung von Kindern erheblich durch die Quantität und Qualität vorschulischer Erziehung geprägt ist (vgl. Fried / Voss 2010, S. 199 ff.). Internationale Wirkungsstudien belegen zudem empirisch konsistent die positive Wirkung der institutionellen Vorschulerziehung (vgl. Bergs-Winkels 2010, S. 18)[10]. Der Autor Nagel konstatiert: „Es gilt inzwischen als gesichert, dass eine längere institutionelle Kindbetreuung die Entwicklungschancen der Kinder und damit ihre Bildungsbiografie positiv beeinflusst“ (Nagel 2009, S. 12).
An dieser Stelle sollte man jedoch hinterfragen, an welchen Kriterien die Autoren die positive Wirkung festmachen. Wie wird Bildungserfolg in den vorliegenden Studien definiert bzw. woran wird dieser gewertet? Welches Bildungsverständnis vertreten die Studien? Diese und viele weitere Fragen können in Hinblick auf den Bildungsdiskurs gestellt werden. Der Bildungsdiskurs hat eine unglaubliche Tragweite in viele Richtungen. Zur Beantwortung dieser Fragen müssen die Studien näher betrachtet und daraufhin untersucht werden. Dies ist jedoch nicht Bestandteil dieser Abschlussarbeit. Dieses Kapitel soll lediglich den Zusammenhang zwischen Bildungsforschung und der derzeitigen Bildungsdebatte aufzeigen. Es soll die Reaktionen betrachten, die durch die Bildungsforschung ausgelöst wurden.
Die Autorin Berg-Winkels führt aus, dass die Bildungspläne der Bundesländer als Reaktion auf die eben genannten Forschungsergebnisse zu deuten sind: „Als Reaktion auf diese Forschungsergebnisse werden mittlerweile in allen Bundesländern Deutschlands Bildungsvereinbarungen getroffen, die auf die Verbesserung von Bildungsinstitutionen oder –programmen zielen und Inhalte der Förderungen im Elementarbereich festschreiben. Der Bildungsauftrag von vorschulischen Bildungsinstitutionen umfasst dabei die gesamte frühkindliche Phase, also die Bildung von Geburt an“ (Berg-Winkels 2010, S. 18). Die Bildungspläne der Bundesländer werden im nachfolgenden Kapitel 2.5 thematisiert. Als weitere Reaktion auf die vorliegenden Forschungsergebnisse, insbesondere von den internationalen Vergleichsstudien TIMSS, PISA und IGLU (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung), wurden 2003 die Bildungsberichte in Auftrag gegeben[11] (vgl. KMK 2003).
„Die Ergebnisse von PISA wirkten wie ein Schock: Fünfzehnjährige in Deutschland schneiden im internationalen Leistungsvergleich beim Lesen, in mathematischer und naturwissenschaftlicher Grundbildung schlecht ab, Deutschland liegt im internationalen Vergleich im unteren Mittelfeld (...) Diese wenig schmeichelhaften Ergebnisse der PISA-Studie haben eine intensive Bildungsdebatte ausgelöst, die längst überfällig war. Sie bezieht sich in einem umfassenden Sinne sowohl auf Bildung als auch auf die Institutionen der Bildung – das ist das Neue an dieser Debatte und darin liegt ein wichtiger Fortschritt im Vergleich zu früheren bildungspolitischen Debatten. Schule hat dabei einen prominenten, doch keineswegs exklusiven Stellenwert. Andere Orte der Bildung von Kindern und Jugendlichen sind längst genauso zu einem Thema und Gegenstand dieser Debatte geworden“[12] (Rauschenbach et al. 2004).
Die Institutionen von Bildung, zu denen auch mittlerweile die Kindertagesstätte durch ihren offiziellen Bildungsauftrag gezählt wird, wurden durch die Forschungsergebnisse zunehmend in den Fokus gerückt. Bei der Kindertagesstätte handelt es sich zwar um nicht-formelle Bildungsprozesse, dennoch sind die Institutionen der vorschulischen Bildung als Orte von Bildung anzusehen. Der rechtlich festgeschriebene Förderungsauftrag § 22 SGB VIII bestätigt dies (siehe Kapitel 2.1, 2.2, 3.1). Laut Fröhlich-Gildhoff gibt es in der Bildungsforschung „(...) einen Widerspruch zwischen innovativer, engagierter Praxis- und Programmimplementierung einerseits und einer fehlenden empirischen Absicherung der Wirkungen in der Praxis andererseits“ (Fröhlich-Gildhoff 2012, S. 39). Das Problem liegt zum Einen in der großen Komplexität des Gegenstandes, welches ein Grundproblem der Wirkungsforschung im sozialen Bereich ist. Zum Anderen bestand die frühpädagogische Bildungsforschung aus drei klassischen Forschungstraditionen:
- die entwicklungspsychologische Grundlagenforschung,
- die soziologische Kindheitsforschung
- und die elementarpädagogische Forschung, die sich jedoch vermehrt mit der Weiterentwicklung von pädagogischen Grundlagenkonzepten beschäftigte (vgl. ebd.).
Die Problematik lag darin, dass die drei Forschungstraditionen unverbunden nebeneinander standen. Es gab keine systematische empirische Bildungsforschung für den Bereich der Kinder unter sechs Jahren (vgl. ebd., S. 39 f). Mittlerweile hat sich in diesem Bereich etwas getan. Drei große large-scale-Studien, NEPS[13], NUBBEK[14] und BIKS[15] wurden in Deutschland realisiert, um diese Wissenslücke zu schließen. Nachfolgend sollen nun die Bildungspläne der Bundesländer hinsichtlich ihrer Bildungsverständnisse thematisiert werden, um sich anschließend den Rahmenbedingungen der Kindertagesbetreuung in Deutschland zu widmen.
2.5 Bildungspläne der Bundesländer
„Die bundesweite Einführung von Bildungs- und Erziehungsplänen im Elementarbereich stellt eine fundamentale Neuerung im Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland dar und ist der Bildungs- und Leistungsdebatte nach PISA geschuldet“ (Röhner 2014, S. 601). Der Beschluss der Kultus- und Jugendministerkonferenz zum „Gemeinsamen Rahmen für die frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen“ schaffte 2004 die Voraussetzungen für die Bildungs- und Erziehungspläne auf Bundesebene (vgl. JMK 2004, S. 39 ff.). Laut der Autorin Röhner wurde mit diesem Beschluss der maßgebliche politische Impuls gesetzt, der die Entwicklung von Kindertagesstätten zu Bildungseinrichtungen ermöglichte. Darüber hinaus wurde laut Röhner durch die Einführung der Erziehungs- und Bildungspläne die Bedeutung des Elementarbereichs als erste Bildungsstufe anerkannt (vgl. Röhner 2014, S, 601). Die Autorin führt aus: „Erstmals wurde in der Bundesrepublik Deutschland damit zwischen allen Bundesländern sowie zwischen dem Jugendhilfe- und Schulbereich eine verbindliche Vereinbarung über die Aufgaben der vorschulischen Bildung und Förderung getroffen“ (ebd.). Der gemeinsame Rahmen der Kultus- und Jugendministerkonferenz beinhaltet die Grundsätze der Bildungsarbeit in den vorschulischen Kindertageseinrichtungen, „(...) der durch Bildungspläne auf Länderebene konkretisiert, ausgefüllt und erweitert wird. Innerhalb des gemeinsamen Rahmens gehen die Länder eigene, den jeweiligen Situationen angemessene Wege der Ausdifferenzierung und Umsetzung“ (JMK 2004, S. 39).
Grundsätzlich lassen sich unterscheiden:
- Bildungspläne der ersten Generation, bei denen es um die Konkretisierung des Bildungs- und Erziehungsauftrages von Kindertageseinrichtungen ging - mit dem Ziel, eine höhere Bildungsqualität zu erreichen und bisher vernachlässigte Bildungsbereiche (z.B. mathematisch-naturwissenschaftliche und technische Bildung, Sprachförderung) zu beleben.
- Bildungspläne der zweiten Generation, bei denen eine größere Altersspanne (z.B. 0 bis 10 Jahre) und die in diesem Zeitraum bedeutsamen Übergänge beachtet werden und in denen nicht mehr auf die Kindertageseinrichtungen fokussiert wird, sondern alle Lernorte (Familie, Kindertagespflege, Schule, Medien, Peergroup usw.) Berücksichtigung finden[16] (Textor 2016).
Die Bildungspläne der ersten Generation konzentrieren sich darauf den Erziehungs- und Bildungsauftrag der Kindertageseinrichtungen für unter sechs Jahren zu konkretisieren und verbindlich festzulegen (vgl. Fthenakis 2007, S. 63 f.). Nach dem Beschluss der deutschen Jugendministerkonferenz sollten 2004 folgende sechs Bildungsbereiche einem vorschulischen Bildungsplan zugrunde gelegt werden:
a) Sprache, Schrift, Kommunikation
b) Personale und soziale Entwicklung
c) Mathematik, Naturwissenschaft, (Informations-)Technik
d) Musische Bildung – Umgang mit Medien
e) Körper, Bewegung, Gesundheit
f) Natur und kulturelle Umwelten (Nagel 2009a, S.15).
Ein Nachteil der Bildungspläne der ersten Generation besteht darin, dass diese sich zu sehr an der Struktur des Bildungssystems orientieren. Sie stellen die Kinder zwar in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen, jedoch bleibt eine Individualisierung ihrer Lernprozesse nahezu ausgeschlossen. Die Forderung der meisten deutschen Bildungspläne liegt weiterhin im Programmatischen. Es wird nicht zwischen Lernfeldern und den zu stärkenden Kompetenzen des Kindes unterschieden, dementsprechend bleiben informelle Bildungsprozesse unberücksichtigt (vgl. ebd., S. 15 f.). Es finden sich auch in der Namensgebung der Bildungspläne Unterschiede. An dieser Stelle sollen nur einige genannt werden. Es gibt den Bayerischen Erziehungs- und Bildungsplan für Kinder in Tageseinrichtungen bis zur Einschulung, die Bildungs- und Erziehungsempfehlungen für Kindertagesstätten in Rheinland-Pfalz, das Berliner Bildungsprogram für Kitas und Kindertagespflege sowie den Orientierungsplan für Bildung und Erziehung in baden-württembergischen Kindergärten und weiteren Kindertageseinrichtungen etc.[17] (vgl. Bildungsserver 2017). Der Autor Nagel erklärt dies wie folgt: „Hinter diesen Bezeichnungen liegen unterschiedliche Vorstellungen bezüglich der Art der Steuerung dieses Bildungsbereichs“ (Nagel 2009a, S. 16). Nach Nagel dienen die Bildungspläne „(...) einmal als Instrument zur Sicherung von Bildungsqualität und/oder als Innovationsansatz, zum anderen als Instrument zur Steuerung des Bildungssystems und des Bildungsverlaufs“ (ebd.). Bodenburg und Kollmann begründen die verschiedenen Bezeichnungen der Bildungspläne wie folgt:
„Jedes Bundesland wählte für seine Richtlinien eine andere Bezeichnung, die auch auf seine besondere Charakteristik hinweist. So gibt es beispielsweise einen verbindlichen ‚Bildungs- und Erziehungsplan’ in Bayern, einen ‚Orientierungsplan für Bildung und Erziehung’ als Vereinbarung der Landesregierung mit Kommunalen Landesverbänden in Baden-Württemberg und Grundsätze zur verbindlichen Umsetzung mit einer ‚Qualitätsentwicklungsvereinbarung’ im Berliner Bildungsprogramm (...) Fünf Bundesländer erklären ihre Leitlinien mit der Einführung für verbindlich; in den anderen Bundesländern gibt es Angaben zur Selbstverpflichtung auf der Grundlage des jeweils gültigen Kindertagesgesetzes“ (Bodenburg / Kollmann 2009, S. 22).
Alle Bildungspläne der ersten Generation beschränken sich auf den institutionellen Rahmen hinsichtlich ihres Geltungsbereiches.
Die Bildungspläne der zweiten Generation stellen nicht die Bildungsinstitution, sondern das Kind in den Vordergrund. Darüber hinaus sind die Bildungspläne institutionenübergreifend, lernortorientiert und die Bildungsprozesse werden individuell auf das Kind hin ausgerichtet (vgl. Nagel 2009a, S. 17). Nagel betont, dass die Prinzipien der Pläne der zweiten Generation am konsequentesten in Hessen und Thüringen umgesetzt werden: „Sie sind institutionenübergreifend und für den vorschulischen und schulischen Bereich gültig (von 0 bis 10 Jahren), in Thüringen explizit auch für die Kindertagespflege“ (ebd., S. 17 f.). Die Pläne der zweiten Generation akzentuieren folgende Basiskompetenzen:
- Stärkung lernmethodischer Kompetenz: Kompetenzen, die den Erwerb von Wissen fördern. Hierzu werden Formen von Metakognition und Selbststeuerung eingesetzt sowie Reflexion.
- Stärkung der Widerstandsfähigkeit (Resilienz), in anderen Worten, die Stärkung der Kompetenz im Umgang mit Veränderung und Belastung.
- Positiver Umgang mit Diversität: beinhaltet das Verständnis von und den Umgang mit Differenz. Vielfalt wird als Chance und Gewinn betrachtet. Unterschiede, die sich aus einer erweiterten Altersmischung, Geschlecht, kulturellen bzw. sozialen Hintergründen sowie aus besonderen Bedürfnissen (Kinder mit Entwicklungsdefiziten sowie hochbegabte Kinder etc.) ergeben, werden für gemeinsame Lernerfahrungen genutzt.
- Stärken des Kindes betonen: bisher ging es um die Identifizierung und Beseitigung bzw. Kompensation kindlicher Schwächen. Im Gegensatz hierzu sollen nun in erster Linie die Stärken des Kindes hervorgehoben werden. Sie sollen erkannt und weiterführend gestärkt werden, damit das Kind ein positives Selbstbild entwickeln kann und in schwierigen Situationen weiß, seine Stärken gezielt einzusetzen (vgl. ebd., S. 18 ff.).
Bei den vorgetragenen Punkten handelt es sich um thematische Schwerpunkte der neuen Bildungspläne. Bodenburg und Kollmann äußern bezugnehmend auf die thematische Ausarbeitung der Bildungspläne folgende Kritik: „Obwohl es inzwischen selbstverständliches Wissen ist, dass die Grundlagen für das Lernen in der Zeit vor und in den ersten drei Jahren nach der Geburt entstehen, fehlt in allen Bildungsplänen ein differenziertes Eingehen auf den speziellen Arbeitsbereich der unter Dreijährigen und deren primäres soziales Umfeld“ (Bodenburg / Kollmann 2009, S. 23). Ein weiterer Kritikpunkt kann laut Nagel darin gesehen werden, dass die Bundesländer es nicht geschafft haben „(...) sich bundeseinheitlich bei der Umsetzung auf gemeinsame Grundlinien zu verständigen“ (Nagel 2009b, S. 195). Das führt zu verschiedenen Auffassungen darüber, wie Bildung und Bildungsprozesse stattfinden sowie zu Differenzen, was die Formulierung der Bildungsziele und der zugehörigen Altersspanne angeht. Gemeinsamkeiten finden sich im allgemeinen Verständnis von Kind bzw. Kindheit und in den gewählten Lern- und Erfahrungsbereichen. Allen Plänen liegt das Verständnis zugrunde, dass Entwicklungsfortschritte nicht im Vergleich mit anderen Kindern gesehen werden, sondern individuell betrachtet und bewertet werden (vgl. ebd.). Die Autorin Röhner betont die verschiedenen Ausrichtungen der Bildungspläne:
„Ein Teil der Bildungspläne richtet sich an einem modifizierten Situationsansatz aus (z.B. Berlin, Hamburg, Saarland) und betont das Lernen in sozialen Kontexten und Bezügen. Ein konkurrierendes Konzept, das die Bedeutung frühen Lernens in zentralen fachlichen Domänen akzentuiert, ist im Bayrischen Bildungs- und Erziehungsplan verwirklicht, der erstmals ein ko-konstruktives Verständnis frühkindlicher Bildung in Anlehnung an den internationalen frühpädagogischen Diskurs entwickelte (...) Neben dem modifizierten Situationsansatz und dem neuen ko-konstruktivistischen Ansatz frühkindlicher Bildung ist der Selbstbildungsansatz weiterhin in der curricularen Konzeption einzelner Bildungs- und Erziehungspläne repräsentiert“ (Röhner 2014, S. 603).
Die Autorin verweist darauf, dass je nach Autorengruppe unterschiedliche frühpädagogische Konzeptionen erkennbar und vielfach auch Mischformen vorhanden sind (vgl. ebd.). Der Autor Nagel erläutert zum Bildungsverständnis der Bildungspläne Folgendes: „Allen Bildungsplänen liegt ein Bildungsverständnis zugrunde, dass der Bildungsprozess des Kindes ein Selbstbildungsprozess ist, in dem das Kind sich seine Welt selbständig konstruiert. Kinder erwerben ihr Wissen von der Welt und ihre Fähigkeiten, indem sie die Welt neugierig erforschen“ (Nagel 2009b, S. 195). Unterschiede gibt es lediglich in der Ausrichtung und Gestaltung der Lern- und Bildungsprozesse. Der Autor führt aus: „Der kleinere Teil der Pläne betont das Eigenständige des selbständigen, konstruktiven Lernprozesses, der auf Beobachten, Erkunden und Erprobung beruht, der selbstgesteuert, aus eigener Sicht und Motivation geschieht, mit der freien Entscheidung, ob andere Personen einbezogen werden sollen oder nicht“ (ebd.). Andere Personen sollen so wenig wie möglich in den Bildungsprozess eingreifen. Diesem Ansatz steht der ko-konstruktivistische gegenüber, der laut Nagel in der Mehrzahl der Pläne vorhanden ist. Der ko-konstruktivistische Ansatz betont, „(...) dass kindliche Lernprozesse in den meisten Fällen im sozialen Kontext stattfinden und die Konstruktion der kindlichen Welt auch mit der Unterstützung von bzw. der Auseinandersetzung mit anderen Personen geschieht. Dem pädagogischen Personal bzw. den Erwachsenen kommt hier explizit eine pädagogische Verantwortung zu“ (ebd.). Der zentrale Unterschied zwischen dem Selbstbildungs- und dem ko-konstruktivistischem Ansatz liegt in der Haltung des pädagogischen Fachpersonal bzw. der Erziehungsberechtigten zum Kind. Der ko-konstruktivistische Ansatz spricht dem Erwachsenen Verantwortung zu.
Es gibt unterschiedliche Auffassungen darüber, wie die Lern- und Bildungsprozesse aussehen bzw. vonstattengehen in Hinblick darauf, wie sie insbesondere von außen gestaltet werden sollen. Inwieweit sollen die Bildungsprozesse sich durch selbstinitiierte Aktivitäten des Kindes auszeichnen und fremd-initiierte Anregungen zugelassen bzw. bewusst genutzt werden, um den Bildungsprozess zu gestalten? Die zwei Ansätze präferieren jeweils eine unterschiedliche Vorstellung davon, wie die Bildungsprozesse gestaltet werden sollen. Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei vielen Bildungsplänen um Mischformen der verschiedenen pädagogischen Ansätze. Einige Aspekte werden erneut in Kapitel 5 aufgegriffen und thematisiert.
Das dritte Kapitel wird nun die Rahmenbedingungen frühkindlicher Bildung darlegen, die neben der Kindertagesstätte als institutionelle Betreuungsform auch die Kindertagespflege als private Form beinhaltet. Es werden somit verschiedene Formen und Institutionen vorschulischer Erziehung, Bildung und Betreuung vorgestellt.
3. Die Kindertagesbetreuung in Deutschland
Eltern haben grundsätzlich das Recht, zwischen den verschiedenen Leistungen der Kinderbetreuung zu wählen, insofern dies nicht mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist (vgl. § 5 SGB VIII). Das bedeutet, dass sie grundsätzlich zwischen Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege wählen dürfen. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) formuliert in § 22 die Grundsätze der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege und definiert beide Formen wie folgt:
„(1) Tageseinrichtungen sind Einrichtungen, in denen sich Kinder für einen Teil des Tages oder ganztägig aufhalten und in Gruppen gefördert werden. Kindertagespflege wird von einer geeigneten Tagespflegeperson in ihrem Haushalt oder im Haushalt des Personensorgeberechtigten geleistet. Das Nähere über die Abgrenzung von Tageseinrichtungen und Kindertagespflege regelt das Landesrecht (...)“ (§ 22 SGB VIII Absatz 1).
Bereits durch den § 1 Absatz 1 SGB VIII hat jeder junge Mensch ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und zudem auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit (vgl. § 1 SGB VIII Ansatz 1). Dieser Leitsatz zieht sich durch das gesamte SGB VIII und formuliert demnach auch den Rechtsanspruch für die Kinder einer Kindertageseinrichtung. Die Förderung und Erziehung werden somit nicht nur von den Eltern übernommen, sondern auch von den jeweiligen Fachkräften der Einrichtung.
In den letzten Jahren wurden einige Änderungen im achten Sozialgesetzbuch (SGB VIII) vorgenommen, bewirkt wurden diese durch die Verabschiedung vom Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG), dem Kinder- und Jugendhilfeerweiterungsgesetz (KICK) im Jahre 2005 sowie durch die Einführung des Kinderförderungsgesetzes (KiföG) im Dezember 2008. Der daraufhin neu formulierte § 22 SGB VIII beinhaltet für Tageseinrichtungen und Kindertagespflege in gleichermaßen einen Förderungsauftrag:
„(3) Der Förderungsauftrag umfasst Erziehung, Bildung und Betreuung des Kindes und bezieht sich auf die soziale, emotionale, körperliche und geistige Entwicklung des Kindes. Er schließt die Vermittlung orientierender Werte und Regeln ein. Die Förderung soll sich am Alter und Entwicklungsstand, den sprachlichen und sonstigen Fähigkeiten, der Lebenssituation sowie den Interessen und Bedürfnissen des einzelnen Kindes orientieren und seine ethnische Herkunft berücksichtigen“ (§ 22 SGB VIII Absatz 3).
Zudem ist der § 24 SGB VIII ab dem 1. August 2013 neu in Kraft getreten. Dieser regelt, wann ein Anspruch auf Förderung in Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege besteht. Aufgrund dieser Änderung besteht nun ein Rechtsanspruch auf frühkindliche Bildung, Erziehung und Betreuung bereits ab dem vollendeten ersten Lebensjahr (vgl. § 24 SGB VIII Absatz 2). Zuvor richtete sich der Förderanspruch nach dem Bedarf des Kindes bzw. der Erziehungsberechtigten, wenn dieser für die Entwicklung des Kindes zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit erforderlich war und die Erziehungsberechtigten einer Erwerbstätigkeit nachgingen, diese aufnahmen bzw. arbeitssuchend waren (vgl. § 24 SGB VIII Absatz 3 bis zum 31.07.2013). Darüber hinaus gibt es den gemeinsamen Rahmen der Länder für die frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen. Der Beschluss der Kultus- und Jugendministerkonferenz am 03. und 04.06.2004 beinhaltet die Grundsätze der Bildungsarbeit in Kindertageseinrichtungen und wird durch die Bildungspläne auf Landesebene konkretisiert, ausgefüllt und erweitert[18] (vgl. KMK 2004). Nachfolgend wird die Kindertagesstätte als institutionelle Form der Kindertagesbetreuung vorgestellt.
3.1 Die Kindertagesstätte als institutionelle Betreuungsform
Kindertageseinrichtungen sind Einrichtungen der freien und öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe und gewährleisten ebenso wie die Kindertagespflege die Kindertagesbetreuung nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz. Die Kinder verbringen einen Teil des Tages oder den ganzen Tag in einer Kindertageseinrichtung und werden dort in Gruppen gefördert. Die in einer Kindertageseinrichtung tätigen Erzieherinnen und Erzieher arbeiten anhand von pädagogischen Konzepten und stehen bezüglich der Erziehung, Bildung und Betreuung in Austausch mit den Erziehungsberechtigten (vgl. Frühe Chancen 2016)[19].
Es gibt verschiedene Träger von Kindertageseinrichtungen. Dazu zählen öffentliche Träger, freie Träger mit gemeinnützigem Hintergrund, privatgewerbliche Träger und sogenannte Betriebs- bzw. Unternehmenskindertageseinrichtungen. Träger öffentlicher Kindertageseinrichtungen sind die jeweilige Kommune, also die Landkreise und kreisfreien Städte. Kindertageseinrichtungen freier Träger unterteilen sich hingegen in kirchliche Träger und Träger der freien Wohlfahrt (vgl. Textor o.A)[20]. Tageseinrichtungen in kirchlicher Trägerschaft sind an eine Kirchengemeinde angebunden und arbeiten nach Erziehungskonzepten, die christliche Werte und Normen beinhalten. Zu den freien großen Wohlfahrtsverbänden zählen:
[...]
[1] Der vorliegende Begriff beinhaltet alle vorliegenden Formen der institutionellen Kindertagesbetreuung in Deutschland. Siehe hierzu auch Kapitel 3.
[2] Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichwohl für beide Geschlechter.
[3] vgl. http://www.kindergartenpaedagogik.de/1951.html, Stand: 2016, abgerufen am 31.01.17.
[4] https://issuu.com/caritas.luxembourg/docs/konzept_welt-atelier, Stand: 2011, abgerufen am 06.02.17.
[5] http://www.jugend.rlp.de/fileadmin/downloads/bildung/zwoelfter-kjb.pdf, Stand: 2005, abgerufen am 10.02.17.
[6] http://www.kindergaerten-bw.de/site/pbs-bw-new/get/documents/KULTUS.Dachmandant/KULTUS/Projekte/kindergaerten-bw/Oplan/Material/KM-KIGA_Orientierungsplan_2011.pdf, Stand: 2011, abgerufen am 27.02.17.
[7] https://www.oecd.org/germany/33684930.pdf, Stand: 2001, abgerufen am 02.03.17.
[8] http://www.kindergartenpaedagogik.de/2071.html, Stand: o.A., abgerufen am 03.04.17.
[9] http://www.mzes.uni-mannheim.de/publications/wp/wp-97.pdf, Stand: 2006, abgerufen am 23.03.17.
[10] Die Autorin bezieht sich hierbei auf folgende Studien: British Cohort Studies, Carolina Abecederian Study, Early Childhood Longitudinal Study, Effective Provition of Pre-School Education Project, European Child Care and Education Study, Head Start Family and Child Experiences Survey, High/ Scope Perry Preschool Project, National Longitudinal Survey of Children and Youth, NICHD Study of Early Child Care, Study of Cost, Quality and Child Outcomes in Child Care Centers.
[11] http://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2003/2003_01_01-Bildungsbericht-erste-Befunde.pdf, Stand: 2003, abgerufen am 10.04.17.
[12] http://www.akjstat.tu-dortmund.de/fileadmin/Weiterfuehrende_Links/nonformale_und_informelle_bildung_kindes_u_jugendalter.pdf, Stand: 2004, abgerufen am 07.04.17.
[13] https://www.neps-data.de/de-de/projektübersicht.aspx, Stand: o.A., abgerufen am 11.04.17.
[14] http://www.nubbek.de, Stand: o.A., abgerufen am 11.04.17.
[15] https://www.uni-bamberg.de/biks/, Stand: 2017, abgerufen am 11.04.17.
[16] http://www.kindergartenpaedagogik.de/1951.html, Stand: 2016, abgerufen am 06.04.17.
[17] http://www.bildungsserver.de/Bildungsplaene-der-Bundeslaender-fuer-die-fruehe-Bildung-in-Kindertageseinrichtungen-2027.html, Stand: 2017, abgerufen am 15.04.17.
[18] http://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2004/2004_06_03-Fruehe-Bildung-Kindertageseinrichtungen.pdf, Stand: 2004, abgerufen am 01.12.16.
[19] vgl.http://www.fruehe-chancen.de/themen/kinderbetreuung-international/bildungs-und-betreuungssysteme/das-bundesdeutsche-system/das-bundesdeutsche-system/, Stand: 2016, abgerufen am: 01.12.16.
[20] vgl. http://www.kindertagesbetreuung.de/formen.html, Stand: o. A., abgerufen am 01.12.16.
Schlagworte:
lit-2017_buch, Masterarbeit,
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title: Begriffsbildende Annäherung an die Naturwissenschaft. z.B. Wärme (Kommentar zu A.M. Mislin B 39) by Lèmery, Edmont (F) |
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Titel: | Begriffsbildende Annäherung an die Naturwissenschaft. z.B. Wärme (Kommentar zu A.M. Mislin B 39) |
Autor: | Lèmery, Edmont (F) | Sprache: | deutsch |
Quelle: | in: Bindestrich-40, p. 34 | Quellentyp: | Artikel aus Zeitschrift |
veröffentlicht am: | 12.12.2001 | | |
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ID: 881 | hinzugefügt von Peter an 12:12 - 28.10.2002 |
title: Freinetpädagogik an Lernhilfeschulen by Ohlmes, Judith |
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Text:
Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitung S.3
2. Definition von Lernschwäche S.4
3. Grundsätze der Freinet- Pädagogik in Bezug auf ihre
Anwendbarkeit an Schulen für Lernhilfe S.5
3.1 Tastendes Versuchen S.6
3.2 Freier Ausdruck S.8
3.2.1. Freier Text und Schuldruckerei S.9
3.3 Freie Arbeit S.11
3.4 Arbeitsateliers S.13
4 Erfahrungen einer Lehrerin, die an Lernhilfeschulen nach
Freinet unterrichtet S.15
5 Fazit S.16
6 Literaturverzeichnis 20
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1. Einleitung
Die Reformpädagogik des beginnenden 20. Jahrhunderts hatte das Ziel, eine Pädagogik zu schaffen, die den Bedürfnissen des Kindes angepaßt war. Ein französischer Pädagoge, der sich nach einer Kriegsverletzung im 1. Weltkrieg (auch aus Eigennutz) eine Pädagogik erdachte, die ihm das Unterrichten und den Schülern das Lernen erleichtern sollte, ist Célestin Freinet. Sein schulpädagogisches Ideal verfolgte die Absicht, eine Schule zu schaffen, die ohne Klassenunterschiede und Privilegien für alle Kinder des Volkes zugänglich war 1 . Freinets Schülerschaft gestaltete sich aus Kindern vom Land, die dem heute vorherrschenden Leistungsdruck nicht ausgesetzt waren und- nach heutigen Kriterien- nicht als lernschwach zu charakterisieren sind.
Diese Arbeit möchte heraus arbeiten, inwieweit eine Pädagogik im Sinne Freinets an Lernhilfeschulen möglich ist. Zunächst möchte ich den Begriff „Lernhilfe“ definieren, dann einige wichtige Leitmotive des Unterrichts nach Freinet herauskristallisieren, um dann zu untersuchen, ob diese Grundsätze auch an Schulen anwendbar sind, deren Schüler Schwierigkeiten mit dem Lernen haben. Die Fülle der Prinzipien zwingt mich dazu mich gezielt auf ausgewählte Grundsätze zu beschränken.
Das im Anschluß angeführte Beispiel der Lehrerin Barbara Mahlstedt soll verdeutlichen, welche Problemfelder die Einführung dieses Unterrichtsprinzips ergeben können.
1 Jörg, Hans: Wolfsburg, 1985, S.11
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2. Definition von Lernschwäche
Der Begriff Lernschwäche bezeichnet unterschiedlich geartete Störungen der Fähigkeit zu Lernen. Allerdings ist nicht jeder Schüler, dessen Noten nicht gut sind, lernschwach, denn Schwankungen in der Leistung sind als normal anzusehen. 2 Der Gegensatz zwischen den individuellen Lernvoraussetzungen und der erforderten Leistung, die sich an Regelschulen im allgemeinen am Niveau der Klasse orientiert, muß konstant, das heißt über einen längeren Zeitraum hinweg, deutlich erkennbar sein. Ein Unterricht, der den lernschwachen Schülern gerecht werden will, muß sich folglich nach den Bedürfnissen desselben richten. Die Erarbeitung der Lernziele ist dem persönlichen Lerntempo des Schülers angemessen und der Übergang zum nächsten Teilziel erfolgt erst, wenn das vorhergehende erreicht wurde.
Lernerfolg steht in einer engen Abhängigkeit zu den Bedingungen, unter denen Kenntnisse erworben werden. Von primärer Bedeutung sind demnach nicht etwa kognitive Fähigkeiten, sondern Motivation, Emotion und soziale Faktoren. 3 Differenzen, die ihren Ursprung in der Persönlichkeit des Schülers, seinen Lernvoraussetzungen und auf schulischen und familiären Defiziten basieren, müssen relativiert werden. Die alltäglichen Probleme, die Schüler der Lernhilfeschulen mehr beschäftigen, sollten in der Gruppe thematisiert werden, um gemeinsam Lösungen zu finden. 4 Der Zugang zu Kindern und Jugendlichen mit Lerndefiziten kann wesentlich schwieriger sein. Persönliche Schwächen zuzugeben und über Probleme des Alltags zu reden, fällt diesen Heranwachsenden meist nicht leicht, aber sie bilden die Grundlage der Motivation und des Schaffens eines Interesses für die jeweilige Thematik.
Lernschwächen können durch eine stärkere innere Differenzierung des Unterrichts und einer idealen Förderung mit dem Ziel, den Lernerfolg langsam zu steigern, ausgeglichen werden.
2 Hufen, Ursula, Gießen, 1988, S.44
3 ebd., S.45
4 ebd., S.47
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3. Grundsätze der Freinet- Pädagogik in Bezug auf ihre Anwendbarkeit an Schulen für Lernhilfe
Der Unterricht an Freinetschulen liegt voll und ganz in der Selbstbestimmung der Schüler, der für Freinet, im Sinne der Reformpädagogen, zum Mittelpunkt der Geschehens wird 5 . Ihnen steht es frei zu wählen, womit sie sich wie befassen. Der Schüler plant seine Vorhaben zu Beginn einer Woche, wobei dies entweder in Form eines individuellen Wochenplans geschehen kann oder für die Klasse sichtbar auf einem Arbeitsplan. Die letztere hat den Vorteil, dass das soziale Zusammenspiel sich positiv entwickeln kann. Unter Zuhilfenahme der vom Lehrer bereitgestellten Materialien, deren Form sehr unterschiedlich ausfallen kann, gehen die Schüler den sich selbst gestellten Aufgaben nach. In Fächern mit systematischen Inhalten nutzt man ein geordnetes Kartensystem, das sich an Peter Petersen orientiert 6 . Eine Arbeitsbücherei, die Themen in einer verständlichen Sprache abhandelt, eröffnet den Schülern die Möglichkeit sich die nicht systematischen Themenbereiche zu erforschen. Damit arbeiten die Kinder auf aller unterster Ebene wissenschaftlich. 7 Ein lernschwacher Schüler ist selbstredend auf mehr Anleitung durch den Lehrer angewiesen. 8 Diese stehen dabei nicht unter Zeitdruck, jeder darf so schnell arbeiten, wie er kann. Gerade dieses Prinzip wird der Arbeit an Sonderschulen sehr gerecht, denn diese unterrichteten bereits ohne, dass ihnen das Curriculum ständig Druck macht. Insbesondere im Falle von Lernhilfeschülern, deren Lerntempo geringer ist, als das eines „normal“ befähigten Schülers, ist es wichtig ihm, die nötige Zeit zu zugestehen. Der Unterricht an Lernhilfeschulen kann, durch die geringere Klassengröße, die eine persönliche Betreuung des Individuums Schüler ermöglicht, flexibel auf dessen Bedürfnisse reagieren.
Die von Freinet selbst praktizierten und öffentlich ausgestellten Leitungskurven werden von den heutigen Freinetlehrern nicht mehr genutzt 9 . Eine
5 Kock, Renate: Frankfurt/ Main, 1995, S.104
6 Jörg, Hans: Wolfsburg, 1985, S.29
7 Ramseger, Jörg, Weinheim/ Basel, 1991, S.137
8 Hufen, Ursula, Gießen, 1988, S.47
9 Jörg, Hans: Wolfsburg, 1985, S. 31
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solches zur Schau stellen kann zu einem Gefühl des Zwangs führen, der nicht auf der Quantität bzw. der Schnelligkeit basiert, die zur Erledigung des Lernstoffes benötigt wird, sondern von der Klasse selbst. Ein schülerinterner Leistungsvergleich wird auch ohne das Zutun des Lehrers stattfinden, indem die Gruppe sich untereinander austauscht. Auch während der Entscheidungen über den Druck freier Texte und des damit verbundenen Vorlesens vergleicht die Klasse die Leistungen untereinander.
Kennzeichnend für das pädagogische Konzept Célestin Freinets, sind unterschiedliche Lerntheorien, die ich im folgenden kurz darlegen möchte.
3.1 Tastendes Versuchen
Freinet unterstellt jedem Menschen von Beginn an den Besitz eines „potential de vie“, einer universellen Lebenskraft, die sich im andauernden Drang nach der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse ausdrückt 10 . Dieser innere Antrieb zeigt sich im „tastenden Versuchen“, mit dessen Hilfe der Mensch seinen Zielen nachstrebt. Der Ursprung dieses Vorgangs läßt sich nicht in der bewußten Psyche finden, denn schon Säuglinge probieren sich aus:
„Der Zeitpunkt des Stillens naht. Das Baby wird sichtlich ungeduldig. Besäße es eine wie auch immer geartete Intelligenz oder eine besondere Fähigkeit, sich zu verhalten, so würde es auf Anhieb die richtige Lösung ansteuern. Es versucht den Sauggestus, der ihn nicht befriedigt, bringt den Mund ans Kopfkissen, sucht mit den Lippen, strampelt, und wenn sich kein merklicher Erfolg einstellt, schreit es.“ 11
Das „tastende Versuchen“ im frühen Stadium des Lebens erinnert an Lernen durch Experimente und die Erfahrung des Fehlers. Ohne die Handlung
10 Ramseger, Jörg: Weinheim/ Basel, 1991, S.115f.
11 Freinet, Célestin: Reinbek, 1980, S.55
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zuvor zu durchdenken, testet man alle Möglichkeiten leichtfertig aus und eine Unterscheidung zwischen Erfolg und Mißerfolg erfolgt. 12
Dieses Prinzip setzt sich in jeder Entwicklungsstufe, die ein Mensch im Laufe seines Lebens durchläuft, fort, wobei es sich nach Beendigung der Phase des Säuglings um zwei weitere ausdehnt:
a) das Prinzip des Empfindungsvermögens: Die sensible Reaktion auf äußere Reize führt zu mechanischen Reaktionen, die allein von
„der Macht des Antriebs und der Veränderungen der äußeren Bedingungen“ 13
abhängig sind.
b) das Prinzip der Zugänglichkeit für die Erfahrung: Die Gliederung der erfolgreichen Versuche und die Erfahrung, die das Tastende Versuchen lenken, sind erste Anzeichen von Intelligenz, deren Grad sich durch Schnelligkeit und Sicherheit messen läßt. 14
Überträgt man die Idee des „Tastenden Versuchens“ auf die Sonderschule, erkennt man, dass die selbständig gemachten Erfahrungen eines Kindes eine positive Wirkung auf seine Entfaltung und den Lernerfolg haben. Etwas zu verstehen, das nur theoretisch erklärt wird, setzt eine Begabung auf intellektueller Ebene voraus 15 , deren Existenz, insbesondere an Lernhilfeschulen, nicht unbedingt vorausgesetzt werden kann. Eine eigenhändig erlebte und gefühlte Erfahrung prägt sich tiefer ein. Dieses Prinzip trifft ebenso auf einen Schüler mit Lernschwäche zu, wie auch auf Kinder, deren Lernverhalten unauffällig ist. Experimente im Unterricht möchten die Theorie nicht aus den Klassenzimmern aussperren, sondern erst zusammengenommen kann das „perfekte Verständnis“ erzeugt werden. „Tastendes Versuchen“ bildet den Anstoß zu Fragen, wobei die Suche nach der Antwort
12 Ramseger, Jörg: Weinheim/ Basel, 1991, S.116
13 Freinet, Célestin:Reinbek, 1980, S.59
14 Ebd.
15 Ebd., S.69
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aus dem eigenen Interesse erwächst. Ich erachte „tastendes Versuchen“ als eine geeignete Methode, die insbesondere Kindern mit Lernschwierigkeiten eine Möglichkeit bietet Sachverhalte zu verstehen. Insbesondere in naturwissenschaftlichen Fächern ist die Visualisierung wichtig, deren Alltagsbezug ein erhöhtes Interesse bei dem Schüler weckt. Diese Form des aktiven Lernens führt zu einer höheren Erinnerungsleistung, die auf einer erhöhten Herstellung assoziativer Verbindungen basiert 16
3.2. Freier Ausdruck
Ebenso wichtig, wie die eigenhändig gemachten Erfahrungen, ist für den französischen Pädagogen der „freie Ausdruck“, der den Schüler in seiner Persönlichkeitsentwicklung fördern soll und die unterschiedlichsten Formen annehmen kann. Der „freie Ausdruck“ öffnet dem Kind den Weg sich individuell auszudrücken und Gedanken und Gefühle der Umwelt mitzuteilen 17 . Allein das Kind kann entscheiden, ob es sich in Form von Musik, Malerei, Dichtung, Theater, Tanz, bildnerischem Gestalten oder Textproduktion ausdrücken möchte. Die Fähigkeit dem Inneren Gestalt zu verleihen nimmt in Freinets Denken gleichermaßen einen hohen Stellenwert ein, wie die Erkundung von Umwelt, Natur und Gesellschaft 18 . Das Verlassen der gewohnten Bahnen, in denen Unterricht abzulaufen hat, drückt sich insbesondere durch dieses pädagogische Leitmotiv aus, das den Schülern zugesteht sich in jedem Fach so auszudrücken, wie sie es für richtig empfinden, was voraussetzt, dass die Schule alle notwendigen Materialien bieten kann. Das einzelne Fach repräsentiert nicht mehr eine spezifische Art und Weise sich mitzuteilen, sondern öffnet sich für alle Eventualitäten. Elemente, die sich an Regelschulen kaum miteinander vereinbaren lassen, werden an Freinetschulen zu etwas Neuem zusammengefügt, das allen Schülern gestattet sich ihrem Lerntyp entsprechend zu entfalten 19 . Ich sehe in diesem Prinzip allerdings die Gefahr, dass vereinzelte Schüler sich ausschließlich
16 Gage, Nathaniel L./Berliner, David C., Boston/ Massachusetts, 1996, S.299
17 Hans, Jörg: Wolfsburg, 1985, S.22
18 Ramseger, Jörg: Weinheim/ Basel, 1991, S.120
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auf die Form der Artikulation, die ihnen liegt, beziehungsweise in der es ihnen am leichtesten fällt sich auszudrücken, beschränken und damit andere Talente und Fähigkeiten, deren Existenz ihnen vielleicht noch gar nicht bewußt ist, außer Acht gelassen werden.
3.2.1 Freier Text und Schuldruckerei
Die zentrale Technik des Freien Ausdrucks ist der „Freie Text“, der es den Kindern ermöglicht ihr natürliches Mitteilungs- und Kommunikationsbedürfnis auszuleben, ohne dass der Kreativität Schranken gesetzt werden.
„Der freie Text muß wirklich frei sein. [...] d.h. man schreibt ihn, wenn man das Bedürfnis hat, durch Malen oder Schreiben das auszudrücken, was in einem vorgeht. [...]Der freie Text darf nicht Anhängsel an ihre schulische Arbeit sein. Er soll vielmehr Ausgangspunkt und Zentrum sein“ 20
Schreiben und Lesen zu können, war für Freinet elementar, um Erfahrungen zu machen und das eigene Handeln zu revidieren, weshalb er auch versuchte seinen Schülern die Relevanz der Beherrschung dieser Fähigkeiten zu verdeutlichen. Der Verzicht auf eine klassische Fibel basiert auf dem leichteren Verständnis, das die Schüler selbst geschriebener Lektüre entgegenbringen. Die Fertigkeit den Sinn des Gelesenen zu erfassen, ist bei dem Lesen von freien Texten gegeben 21 . Die Handlungsorientierung, die der Umgang mit Buchstaben, vor allem beim Setzen der Letter in der Druckpresse, mit sich bringt, erleichtert das Synthetisieren und Analysieren des Wortes 22 Die Notwendigkeit eines Unterrichts, dessen Anliegen es ist den gelesenen Wörtern einen Sinn zu verleihen, bestätigen die Ergebnisse der Pisa- Studie.
Die geschriebenen Texte werden der Klasse vorgelesen und der Klassenrat entscheidet, ob die Zeilen gut genug sind, um in der Klassenzeitung veröf- 19 Gehrmann,Johannes: In: Dietrich, Ingrid (Hrsg.), Weinheim/ Basel, 1995, S.207
20 Freinet, Célestin, zietiert aus: Ramseger, Jörg: Weinheim/ Basel, 1991, S.122f.
21 Hufen, Ursula: Gießen, 1988, S.50
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fentlicht zu werden. Obwohl dem Autor das Recht auf Authentizität zuge-standen wird 23 , wird sein Text sprachlich, grammatikalisch und orthographisch untersucht bis die Qualität des Manuskripts zufriedenstellend ist und es in den Druck gehen kann 24 . Ursula Hufen schreibt in ihrer Examensarbeit das soziale werde Verhalten positiv beeinflußt wird, da die Schüler gezwungen sind im Team zu arbeiten, um erfolgreich zu sein 25 . Ich halte die gemeinsame Auswahl der Texte einerseits für sehr sinnvoll, da sie die Fähigkeit Kritik zu akzeptieren fördert, ohne sich persönlich angegriffen zu fühlen, andererseits besteht die Gefahr, dass Kinder, die weniger beliebt sind, absichtlich übergangen werden und der tiefe Wunsch Erzeuger des zu druckenden Textes zu sein, Möglichkeiten des Angriffs bietet. Meiner Ansicht nach sollte die Klasse gemeinsam Regeln aufstellen, die eine Gleich-behandlung aller garantieren. Die Chance, das Kind zu sein, das seinen Text drucken darf, kann aber auch motivierenden Einfluß haben. Positiv zu werten ist auch die Tatsache, dass die Schüler lernen, eine Sache konsequent zu Ende zu bringen, um ihren selbst gedruckten Text in den Händen zu halten 26 .
Bezüglich der Schuldruckerei bin ich etwas kritisch eingestellt. Sicherlich ist es für die Kinder ein tolles Erlebnis, wenn sie das Produkt des Druckvorgangs in den Händen halten können, aber das 21. Jahrhundert bietet meiner Ansicht nach wesentlich mehr Medien zur Veröffentlichung des selbst Geschriebenen. Ich kann mir vorstellen, dass die Kinder genauso viel Freude an der Gestaltung einer Klassen- Homepage im Internet haben, die nicht nur die Möglichkeit bietet die „freien Texte“ zu lesen, sondern auch die öffentliche Präsentation der gemalten Bilder, der Aufzeichnungen von Theaterstücken etc. ermöglicht. Zusätzlich halte ich es für wichtig, den Kindern einen kritisches Verhältnis gegenüber den neuen Medien zu vermitteln. Die Zukunft unserer Kinder, die auch denen zugänglich gemacht werden sollte, die durch das Leistungsraster fallen, wird geprägt von Computern sein,
22 ebd.
23 Gehrmann, Johannes: In: Dietrich, Ingrid (Hrsg.), Weinheim/ Basel, 1995, S.211
24 Ramseger, Jörg: Weinheim/ Basel, 1991, S.123
25 Hufen, Ursula, Gießen, 1988, S.32
26 Hufen, Ursula, Gießen, 1988, S.32
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weshalb ein frühes Kennenlernen des Gerätes nur von Nutzen sein kann. Auch Schüler, die Lernschwächen in bestimmten Bereichen haben, können von der Nutzung der PCs profitieren, denn es gibt für jeden Jahrgang zu jedem Thema Lernsoftware, deren Layout Spaß macht und bildet. Das Internet bietet unzählige Möglichkeiten des Austauschs (z.B. E-mail- Freundschaften zu Partnerklassen im In- und Ausland, die zugleich die Fähigkeit aufbauen sollen sich in einer Fremdsprache auszudrücken) und/ oder die Recherche zu bestimmten Themen. Beim anfänglichen Umgang mit der Tastatur und den Buchstabenanordnungen, kann der Schüler in ähnlichen Maße synthetisieren und analysieren, wie beim Setzen der Lettern. Wirklich neu ist diese Idee nicht, denn bereits in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts gab es in einer Freinetklasse in Moussac sur Vienne, einer ländlichen Gegend zwischen Poitiers und Bordeaux in Frankreich, keine klassische Schuldruckerei mehr, sondern fünf Computer und zwei Drucker, die von den Schülern mit Begeisterung genutzt wurden 27 .
Die genannten Vorschläge, auch in Bezug auf den Unterricht an Lernhilfeschulen fordern nicht, dass die klassischen Elemente der Freinetpädagogik aus den Schulen verschwinden sollen, sondern, dass die Ideen Célestin Freinets sich ebenso weiter entwickeln, wie es der Gesellschaft eigen ist und sich nicht an ein pädagogisches Ideal des letzten Jahrtausends klammern, dessen Konzept zu seiner Zeit hervorragend war, aber den heutigen Umständen nicht entspricht.
3.3 Freie Arbeit
Die Idee der „freien Arbeit“ geht zurück auf die reformpädagogische Bewegung des 20. Jahrhunderts in Europa. Célestin Freinet empfand es als ungeheuer wichtig, dass ein Mensch manuelle Arbeit verrichtet, die so früh wie möglich produktiv ist. Trotz aller Kritik, die besagte, dass man im Interesse der menschlichen Gemeinschaft und des technisch- wissenschaftli-
27 Fries, Burkhard: In: Ingrid Dietrich (Hrsg.), Weinheim/ Basel, 1995, S.82ff.
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chen Fortschritts, die Prioritäten hin zu einem zunehmenden Wissensstand und wachsenden intellektuellen Leistungen verlagern müsse, blieb er seinem Ideal treu 28 . Das physische und intellektuelle Potential der manuellen Arbeit war in den Augen des Reformpädagogen in der Lage, Menschen zur vollkommenen Harmonie zu bewegen, da Arbeit zunächst zur harmonischen Entwicklung des Einzelnen führe, die sich zu einer sozialen Ausgeglichenheit entwickeln kann 29 . Auch Kinder verspüren schon den Willen zu arbeiten, deshalb hat Freinet nicht das Ziel, zur Arbeit zu erziehen, sondern möchte durch Arbeit erziehen, weil sie für Kinder eine natürliche Aus-drucksform sei.
Arbeit definiert Freinet als konkretes, handwerklich- praktisches Tun. Wenn also ein Kind dem Gefühl arbeiten zu wollen nachkommen möchte und dazu in der Lage ist, kann Erziehung nur dann Erfolg haben, wenn diesem Anliegen entsprochen wird 30 .
„Das Kind spielt, wenn die Arbeit seine Energie nicht ganz aufbrauchen konnte!“ 31
Die Differenzierung zwischen Arbeit mit Spielcharakter und Spiel mit Arbeitscharakter verbindet zwei Begriffe, die auf den ersten Blick völlig gegensätzlich erscheinen. Spiele mit Arbeitscharakter finden ihre Motivation, ebenso wie arbeitende Erwachsene, im Selbsterhaltungstrieb, dessen sich die Kinder bedienen müssen, um sich, nach der Beschneidung des Bedürfnisses durch Erwachsene, ihre eigene Welt zu schaffen. Spiele mit Arbeitscharakter beschreiben Spiele,
„die nach ihrer Form, ihrer Tiefe und ihren unbewußten Triebkräften in Wirklichkeit nur mehr oder weniger verspätete Erinnerungen an die Arbeit sind und all deren Merkmale haben.“ 32
28 Kock, Renate: Frankfurt/ Main, 1995, S.123
29 ebd.
30 Ramseger, Jörg: Weinheim/ Basel, 1991, S.119
31 Freinet, Célestin: Reinbek, 1980, S.82
32 ebd. S.93
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Wenn Kindern die Möglichkeit dazu gegeben würde, das Spiel gegen die Arbeit einzutauschen, so würden sie dies tun, deshalb hält Freinet es für notwendig, diese Bedingungen in der Schule zu schaffen.
3.4. Arbeitsateliers
Um dem triebhaften Wunsch nach Arbeit, der von den Kindern ausgeht, Rechnung zu tragen, verändert Célestin Freinet seinen Klassenraum in eine Werkstatt, die in unterschiedliche Ateliers unterteilt war. Die folgende Aufzählung der denkbaren Ateliers stammt von Freinet persönlich 33 , der allerdings nicht darauf besteht die Einteilung so beizubehalten, sondern sie den Bedürfnissen der Praxis anzupassen:
a) Arbeitsecke für die Arbeitsplanung und den Wissenserwerb mit Quellen-und Dokumentensammlungen
b) Arbeitsecke für naturwissenschaftliche Experimente c) Arbeitsecke für graphisches Gestalten, schriftlichen Ausdruck und Schü-lerkorrespondenz
d) Arbeitsecke für technische Medien im Unterricht e) Arbeitsecke für Versuche und Beobachtungen von Pflanzen und Tieren f) Arbeitsecke für das künstlerische und musische Schaffen, für Holz- Metall- und Keramikarbeiten g) Arbeitsecke für das hauswirtschaftliche Tun h) Arbeitsecke für Konstruktion, Mechanik, Handel, mit Geräten zum Wiegen und Messen sowie für räumliches Gestalten
Freinet entscheidet sich bewußt gegen die Nutzung mehrerer Räume und vermeidet damit:
33 Hans, Jörg: Wolfsburg, 1985, S.26
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„die anormale Trennung der geistig arbeitenden Klasse von dem Raum, in dem [...] [man sich] auch werktätig beschäftigt[...]“ 34
Freinet verurteilt die räumliche Trennung der beiden Beschäftigungsfelder aus der Tatsache heraus, dass diese Unterscheidung zwischen geistiger und handwerklicher Arbeit Ursache für den mittelmäßigen Ruf der Handwerker ist. Obwohl behauptet wird, dass Freinet sein pädagogisches Konzept von seiner politischen Meinung trennt 35 , denke ich, dass ihm das in der Frage des Klassenraumes nicht gelungen ist. Auch das Grundprinzip der Reformpädagogik, das eine Pädagogik vom Kinde aus postuliert, entspricht diesem Handeln nicht. Selbstverständlich sollte jeder der Beschäftigung nachgehen dürfen, zu der er sich hingezogen fühlt, ohne dass er aufgrund der Form, also handwerklich oder geistig, bewertet wird. Allerdings denke ich, dass der Geräuschpegel der Werkzeuge, das Musizieren etc. denjenigen, die geistig arbeiten wollen das Denken unnötig erschwert. Gerade an Schulen für Kinder, die unter Lernschwächen leiden, müssen Bedingungen herrschen, die weder die einen, noch die anderen in ihrer Arbeit behindern. Die tatsächliche Existenz dieser Schwierigkeit belegt der Bericht einer Lehrerin 36 , auf deren Erfahrungen ich im Verlauf dieser Arbeit nochmals eingehen möchte. Ich begrüße den Gedanken, dass eine Klasse immer die Möglichkeit besitzt einer handwerklichen Arbeit nachzugehen, aber der klasseneigene Werkraum müßte separat, trotzdem immer zugänglich sein. Im Gegensatz zu Freinet bewerte ich die Arbeiten nicht nach geistig und handwerklich, sondern nach den Kriterien „laut“ und „leise“, um jedem Schüler die optimalen Bedingen zu schaffen, die er für das Erreichen seiner Lernziele benötigt.
34 Freinet, Célestin: In: Hans, Jörg: Wolfsburg, 1985, S.26
35 vgl. Hans, Jörg: Wolfsburg, 1985, S.16
36 Mahlstedt, Barbara, S.213
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4. Erfahrungen einer Lehrerin, die an Lernhilfeschulen nach
Freinet unterrichtet
Das folgende Beispiel, welches die Umstellung des pädagogischen Konzepts durch eine Lehrerin auf die Prinzipien Célestin Freinets dokumentiert, beschreibt die praktische Umsetzung der Ideen des französischen Reformpädagogen. Die Frau unterrichtet eine 7. Klasse einer Lernhilfeschulen. Dagmar Mahlstedt lernte die Gedanken Freinets durch Kollegen kennen und verfolgte mit der Umsetzung das Ziel, ihrem Ideal von Unterricht ein Stückchen näher zu kommen. Zu Beginn des neuen Schuljahres fanden die Schüler einen veränderten Klassenraum vor, der von Ateliers bis hin zu Gruppenarbeitstischen und Büchern neue Möglichkeiten bot. Dagmar Mahlstehdts 37 Schüler begutachteten alles . Sie erklärte ihnen den Hinter-grund der Verwandlung, informierte sie über die künftigen Änderungen und bat sie darum, fehlendes Inventar mitzubringen. Nachdem die erste Stunde im absoluten Chaos endete, unternahm Mahlstedt einen neuen Versuch die Änderungen zu beschreiben und neue Begriffe (Verfügungszeit, Klassenkonferenz, freier Text, freies Malen/ Drucken,...) zu erklären. Die Reaktionen auf die erste Zeit der Einführung des Konzepts reichten von Unsicherheit, über Neugier, bis hin zu ersten Ideen, die im Rahmen der Schule nicht durchführbar waren. Einige Schüler konnten mit der neuen Situation, insbesondere während der Verfügungszeiten, nicht von Vertrautem lassen und beschäftigten sich ausschließlich mit den „zusätzlichen Arbeitsaufträgen“. Der andere Teil wußte nichts mit sich anzufangen, Unzufriedenheit machte sich breit, so dass die Lehrerin einen Gesprächskreis einberief, um gemeinsam Ideen für das freie Arbeiten zu finden. Durchführbar war einzig das tägliche Frühstück, für dessen Vorbereitungen wöchentlich drei Schüler verantwortlich waren. Alle empfanden das tägliche Frühstück als besonders angenehm und die Organisation durch die Schüler klappte. Mittlerweile entwickelten sich auch die Schiffs- bzw. Raketenbaupläne weiter. Skizzen wurden gezeichnet und mit enormer Begeisterung las die Gruppe Modellbaubücher und erste Modelle entstanden. Viele kamen mit ihrer Arbeit nur
37 Dagmar Mahlstedt: In: Boehncke, Heiner/ Hennig, Christoph, Reibek, 1980, S.207- 221
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schwer zurecht, alle wollten zur gleichen Zeit Barbara Mahlstedts Hilfe und Lehrerin und Schüler waren überfordert. Vier Mädchen hatten sich dazu entschlossen ein Kleid zu nähen, die reparaturbedürftigen Nähmaschinen zwangen sie zum Knöpfe annähen, das sie, nachdem das auch zu langweilig geworden war, anhand einer Wandzeitung dokumentierten. Diese Idee faszinierte die Gruppe ungemein und alle schrieben Aufsätze über Knöpfe. Die Einführung der „freien Arbeit“ ergab allerdings auch Schwierigkeiten:
Die Lehrerin war mit der neuen Situation völlig überfordert. Die Unselbständigkeit und das destruktive Verhalten einiger Schüler wurden zu einer e-normen Belastung. Der Umgang mit der neu gewonnen Freiheit, verleitete manch einen zum Nichtstun und das daraus resultierende Mißtrauen führte dazu, dass die Lehrerin kontrollierte, ob gearbeitet wurde. Auch Konflikte mit dem Kollegium, die sich darüber beschwerten, dass sich Materialien in dieser Klasse ansammelten.
Im weiteren Verlauf des Schuljahres normalisierte sich das Schülerverhalten und auch Kollegen erklärten sich bereit ihre freie Zeit in der Klasse zu verbringen und waren positiv von der Arbeitshaltung der Kinder überrascht.
5. Fazit
Grundsätzlich empfinde es als richtig und gut, an Sonderschulen für Lernhilfe nach dem schulpädagogischen Konzepts Célestin Freinets zu arbeiten, da ihr die organisatorischen Mittel, welche die Basis für einen schülerzentrierten Unterricht bilden, zur Verfügung stehen. Lernen und Lehren ohne den Druck der curricularen Lernziele im Nacken, die an Regelschulen im 45 Minutentakt in Schülerköpfe gepumpt werden müssen. Die kleine Klassengröße läßt dem Lehrer die Schüler nicht mehr als Masse erscheinen, sondern die Individualität des Schülers wird beachtet. Der Lehrende kann sich den jeweiligen Bedürfnissen anpassen und folglich da fördern, wo es tatsächlich notwendig ist.
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Das Prinzip des „tastenden Versuchens“ entspricht ebenfalls der Natur eines Kindes, das Lernschwächen hat. Ohne dass ihm bereits Gedachtes eingetrichtert wird, kommt er in den Genuß selbst denken und verstehen zu können. Das Gefühl selbständig etwas erreicht zu haben, stärkt das Selbstbewußtsein und ermutigt dazu, sich neuen Aufgaben zu stellen. Die Irrelevanz des Lehrplans läßt dem lernschwachen Schüler ausreichend Zeit sich auszuprobieren und in seinem Tempo zu arbeiten. Das Verstehen eines Prozesses, das auf eigener Beobachtung und Erkenntnis beruht, erleichtert das Lernen. Theorien, zu denen die Schüler bereits in der Praxis Erfahrungen gesammelt haben, lassen sich leichter nachvollziehen, weil das neue Wissen an bereits Verinnerlichtes anknüpfen kann. Die Möglichkeit, zum Verstehen eines Prozesses mehr als eine Form zu nutzen, kommt den unterschiedlich geprägten Lernkanälen entgegen. Kinder, denen Verstehen leichter fällt, wenn sie praktisch erfahren, haben die gleichen Chancen, wie Kinder, die Prozesse bereits nachvollziehen können, wenn sie diese durchdenken.
Auch der Gedanke des „freien Ausdrucks“ läßt sich mit Lernhilfeschulen vereinbaren. Die Möglichkeit sich in der Form auszudrücken, die der Individualität des Schülers entspricht, bietet jedem die Gelegenheit sich selbst zu finden. Auch hier können Erfolgserlebnisse entstehen, wenn ein besonderes künstlerisches Talent zu Tage tritt, dessen Existenz demjenigen bis dahin unbekannt war. Der freie Ausdruck ermöglicht es den Schülern sich immer wieder neu auszuprobieren, neue Techniken, Instrumente, Talente zu entdecken. Der „freie Text“ stellt im Idealfall eine Verbindung zwischen dem Alltag in der Familie und dem der Schule dar. Die Inhalte der „freien Texte“ stammen zumeist aus dem privaten Bereich, deren Probleme in der Schule besprochen werden können. Voraussetzung für die Erfüllung dieses Ideals ist allerdings ein fundiertes Vertrauensverhältnis, denn wenn der Lehrer die Rolle eines pädagogischen Diktators erfüllt, der sich im Extremfall Schwächen zu Nutze macht, um Schüler anzugreifen, was in meinem Dasein als Schülerin nicht unüblich war, ist die Aussicht auf tiefergehende Aufsätze gering. Ein Öffnen der Seele kann nur eintreten, wenn in der Klasse soziale Kompetenz und Empathievermögen vorherrscht. Schüler,
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welche die Erfahrung gemacht haben von der Gemeinschaft verlacht und gehänselt zu werden, werden sich die Blöße bestimmt nicht mehr geben wollen. Etwas kritischer beurteile ich die „Schuldruckerei“ an sich, da ich denke, dass eine zeitgemäßere Wahl des Mediums auch Wissen vermittelt, das im Zeitalter der fortgeschrittenen Technologie elementar ist. Der Umgang mit Computern ist heute fest in das Leben eingebunden und sollte den Schülern nicht verwehrt bleiben.
Um den unterschiedlichen Talenten der Schüler Genüge zu tun, halte ich es für sinnvoll „freie Arbeit“ zu ermöglichen. Neben den handwerklichen Kenntnissen, die erworben werden können, unterstützt dieses Prinzip die berufliche Selbstfindung. „Freie Arbeit“ in der Schule ermöglicht einen Einblick in unterschiedliche handwerkliche Prozesse, die hilfreich bei der Wahl des Berufes sein können, weil es möglich ist sich auszuprobieren, ohne daß Risiken vorhanden sind. Die Schule ist ein Ort, in dem man sich finden kann, ohne weitreichende Konsequenzen, beispielsweise den Verlust einer Lehrstelle, tragen zu müssen.
Eine Umsetzung der Theorie Freinets gestaltet sich meiner Ansicht nach nicht immer einfach und ist von verschiedenen Faktoren abhängig. Ich halte es für diffiziler, wenn es sich bei den Schülern um Ältere handelt, deren Erfahren des Unterrichts bisher von Fremden bestimmt war und die ihr Schülerdasein passiv bestritten haben. Die von Pädagogen gepriesene Freiheit kann für sie zu einer Belastung werden, die sie überfordert. Obwohl das beschriebene Beispiel der Lehrerin Barbara Mahlstedt nicht repräsentativ ist, zeigt es deutlich, wie viel Zeit Kinder, die es bislang nicht gewohnt waren eigenen Interessen nachzugehen, zur Gewöhnung benötigen. Vor der Umstellung des pädagogischen Konzepts sollten sich die Verant-wortlichen fragen, welche Konsequenzen es für die Schüler mit sich bringen kann. Daher befinde ich die Einführung dieses Konzepts zu Beginn eines Schülerlebens als sinnvoll. Insbesondere für lernschwache Schüler beurteile ich es als wichtig, dass bekannte Strukturen die Kinder ein Schulleben lang begleiten, auch um die Konzentration auf die Inhalte des Unter- richts zu lenken, die in Schülerköpfen in den Hintergrund treten können,
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wenn es interessanter ist, den neuen Klassenraum zu begutachten. Das soll nicht ausdrücken, dass um jeden Preis die althergebrachten Formen beibehalten werden soll. Meiner Meinung nach ist es vernünftig in derartigen Klassen Schritt für Schritt Elemente der Freinet- Pädagogik einzuführen. Im langfristigen Verwandlungsprozeß kann der Lehrer flexibel auf die Bedürfnisse der Schüler reagieren und das Geschehen der Aufnahmefähigkeit anzupassen.
Nichtsdestotrotz sollte die maßgebliche Figur des Unterrichts und dessen methodisch- didaktischer Organisation das Kind sein. Nur um dem Ideal eines Pädagogen Genüge zu tun, sollte man nicht gradlinig eigene Ziele verfolgen, was dem reformpädagogischen Geist der „Pädagogik vom Kinde aus“ widerspräche.
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6. Literaturverzeichnis
Freinet, Célestin: ausgewählte Texte des Pädagogen. In: Boehncke, Heiner/ Hennig Christoph: Pädagogische Texte mit Beispielen aus der praktischen Arbeit nach Freinet, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1980
Fries, Burkhard: Eine Freinet- Schule auf dem Land- in den 90ern. Kein Beitrag über die Schuldruckerei. In: Dietrich, Ingrid (Hrsg.): Handbuch Freinet- Pädagogik- Eine praxisbezogene Einführung, Beltz Verlag, Weinheim/ Basel, 1995
Gage, Nathaniel L../ Berliner, David C.: Pädagogische Psychologie, 5. überarbeitete Auflage, Beltz- Verlag, Boston/ Massachusetts, 1996
Gehrmann, Johannes: Feinet-Pädagogik in der Sekundarstufe I, In: Dietrich, Ingrid (Hrsg.): Handbuch Freinet- Pädagogik- Eine praxisbezogene Einführung, Beltz Verlag, Weinheim/ Basel, 1995
Hans, Jörg: So macht Schule Freude, eine Schule, die Kindern das Wort gibt- Freinet- Pädagogik in Texten, Dokumenten und Bildern, Immen- Verlag, Wolfsburg, 1985
Hufen, Ursula: Grundlagen der Freinetpädagogik im Unterricht bei lernschwachen Schülern (Examensarbeit), Gießen, 1988
Kock, Renate: Die Reform der laizistischen Schule bei Célestin Freinet-Eine Methode begreifender Volksbildung, Peter Lang GmbH, Frankfurt/ Main, 1985
Mahlstedt, Dagmar: Freinet- Pädagogik in der Oberstufe einer Sonderschule (Sonderschule 7. Und 8. Klasse) In: Boehncke, Heiner/ Hennig, Christoph: Pädagogische Texte mit Beispielen aus der praktischen Arbeit nach Freinet, Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 1980
Ramseger, Jörg: Was heißt „durch Unterricht erziehen“? Erziehender Unterricht und Schulreform- Studien zur Schulpädagogik und Didaktik, Bd. 5, Beltz- Verlag, Weinheim/ Basel, 1991
Schlagworte:
Seminararbeit, hausarbeiten.de, freier-Ausdruck, tastver, e-book,
summary:
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Notiz:
Bewertung: 1,
Uni Gießen
Titel: Freinetpädagogik an Lernhilfeschulen
Veranstaltung: Seminar: Einführung in die Theorie und Praxis der Freinet- Pädagogik
Autor:Judith OhlmesJahr: 2002
Seiten: 21
Archivnummer: V107985
ISBN (eBook): 978-3-640-06189-1
DOI: 10.3239/9783640061891
Dateigröße: 219 KB
Sprache: Deutsch
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ID: 1528 | hinzugefügt von Jürgen an 12:12 - 28.10.2002 |
title: Vom Klassenraum zur Lernlandschaft. Entwicklung eines Unterrichtskonzeptes im Fach Wirtschaft, Arbeit und Technik by Pötting, Silke |
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Titel: | Vom Klassenraum zur Lernlandschaft. Entwicklung eines Unterrichtskonzeptes im Fach Wirtschaft, Arbeit und Technik |
Autor: | Pötting, Silke | Sprache: | deutsch |
Quelle: | München, Grin | Quellentyp: | Monographie |
veröffentlicht am: | DD.MM.2017 | | |
url: | |
Text:
Leseprobe
Inhalt
1 Einleitung
1.1 Problemstellung
1.2 Aktualität und Forschungsstand
1.3 Zielsetzung und Vorgehen
1.4 Methodik: Handlungsorientiertes Lernen
2 Lernform
2.1 Grundlagen des handlungsorientierten Unterrichts
2.1.1 Begründung für den handlungsorientierten Unterricht
2.1.2 Anforderungen an die Lehrkraft
2.1.3 Anforderungen an den Raum
2.2 Umsetzung im WAT-Unterricht
2.2.1 Rahmenlehrplan des Unterrichtsfachs WAT
2.2.2 Unterrichtsplanung
2.3 Die Projektarbeit
3 Schulräume und Pädagogik - Ein knapper historischer Überblick
3.1 Geschichte der Schulgebäude
3.1.1 Mittelalter
3.1.2 Reform beweg и ng
3.1.3 Zeit der Aufklärung
3.1.4 Ende des 19. Jahrhunderts ״Neue“ Reformer
3.1.5 Die Wilhelminische Epoche
3.1.6 Nach dem Ersten Weltkrieg
3.1.7 Nach dem Zweiten Weltkrieg
3.2 Ausrichtung und Maße des Klassenraums
3.3 Das Mobiliar der Klassenräume
4 Räumliche Anforderungen der Ganztagsschule
4.1 Sozialformen des Lernens und ihre Anforderungen an den Raum
4.2 Die pädagogische Bedeutung der Raumgestaltung
4.3 Lebensorte״ .7.
4.4 Die Lernlandschaft als Ort des Lernens und der Freizeit
5 Realisierte Vorhaben
5.1 Erika-Mann-Grundschule, Schulumbau
5.1.1 Umgestaltung als gemeinsames Projekt
5.1.2 Flure als Lernorte
5.1.3 Brandschutz und Fluchtwege
5.2 Comenius-Schule, Klassenumbau
5.2.1 Lernformen und Raummöblierung
5.2.2 Gemeinsame Planung und Bau, Sicherheit
5.2.3 Erfahrung von Lehrern und Schülern mit dem Lernort
5.2.4 Finanzierung
6 Konzept für ein Unterrichtsprojekt ״Umbau des Klassenzimmers zur Lernlandschaft“ ”.
6.1 Problemstellung und Ablauf
6.1.1 Pädagogisch-methodische Ausführung
6.1.2 Umsetzung des multifunktionalen Podests
6.1.3 Finanzierung
6.1.4 Nachhaltigkeit
7 Fazit
8 Anhang praktische Umsetzung
1 Einleitung
Seit dem Jahr 2003 findet der flächendeckende Ausbau von Ganztagsschulen statt. Dies war anfangs eine direkt einsetzende Reaktion auf das schlechte Abschneiden der Schülerinnen und Schüler bei der ersten PISA-Studie 2001. Auf der Suche nach den Ursachen zeigten sich zwischen den PISASpitzenländern und Deutschland das mehrgliedrige Schulsystem und die Halbtagsschule als die zentralen schulorganisatorischen Unterschiede (vgl. Erdsiek-Rave, 2013, s. 11).
Die folgende Zunahme von Lernzeit und veränderte Lernarrangements, die Verstärkung der individuellen Förderung, die Schaffung neuer Sozialräume, die Bereitstellung qualifizierter Betreuungsformen sind für den Ausbau der Ganztagsschulen eine große Herausforderung. Das betrifft nicht nur organisatorische Fragen, sondern auch ihre baulichen Konsequenzen. Wie müssen Räume beschaffen sein, um sowohl den veränderten Lernformen als auch einem Anspruch von Schule als Lebensort gerecht zu werden? Da nicht überall neue Schulgebäude errichtet werden können, impliziert dies auch die Frage: Wie kann eine Schule, die als Halbtagsschule geplant wurde, mit dem gleichen Raumkonzept als ganztägige Schule organisiert werden?
Da sich die Aufenthaltsdauer von Schülerinnen und Schülern in der Schule verlängert hat, werden in der Ganztagsschule die vorhandenen Räume häufiger und multipler genutzt. Der Klassenraum ist vom Mobiliar, der Farbgebung, dem Licht und der Akustik abhängig und auch veränderbar, um der Umsetzung der Lernarrangements dienen zu können.
Wie können solche Veränderungen aussehen? Gemäß dem Konzept des handlungsorientierten Unterrichts sollten die Schülerinnen und Schüler selbst maßgeblich an der Umgestaltung ihrer Räume mitwirken. Die vorliegende Arbeit stellt exemplarisch ein fachdidaktisches Konzept vor, wie bestehende Räume gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern für die veränderten Anforderungen optimiert werden können. Gewählt wurde hierfür das Unterrichtsfach Wirtschaft - Arbeit - Technik, kurz WAT. In dem fachdidaktischen Konzept ״Umbau des Klassenzimmers zur Lernlandschaft“ geht es darum, dass die Lernenden in der Holzwerkstatt Mobiliar entwerfen und herstellen, das aus einem Klassenraum eine Lernlandschaft werden lässt.
1.1 Problemstellung
Angesichts der mit der Gesamtschule auftretenden neuen Anforderungen ist Schule als Lern- und Lebensort neu zu beschreiben. Diese Beschreibung orientiert sich im Folgenden an den Fragen:
Welches sind die neuen und alten Lernformen, die in einer heutigen Ganztagsschule praktiziert werden? Wie wird der heutige Unterricht ausgerichtet? Welches sind die Themen, die neben dem Unterricht in der Schule stattfinden sollen, weshalb man sie mit dem Begriff Lebensort bezeichnet? Prinzipiell handelt es sich bei den neuen Anforderungen zum einen um veränderte Lernarrangements und zum anderen um die ganztägige Nutzung der Schulräume.
Die Veränderung der Lernarrangements resultiert vor allem aus der Stärkung des handlungsorientierten Unterrichts, der darauf abzielt, dass die Schüler und Schülerinnen handelnd die Kompetenz zur Veränderung der Umwelt entwickeln.
Die zweite Anforderung bedeutet zunächst: Da die Lernenden nun längere Zeiten in der Schule verbringen, erfahren Räume, die bisher nur halbtägig genutzt wurden, eine häufigere und multiplere Nutzung. Dabei müssen sie nun unterschiedlicheren Bedürfnissen zwischen den beiden Polen Individualität und Gemeinschaft gerecht werden, müssen neben dem ihrer Bedeutung als Unterrichtsraum ebenso als Rückzugsmöglichkeit zum Ausruhen und Chillen funktionieren wie als Raum zum Kommunizieren mit andern und zum Austausch in der Gruppe.
Demzufolge gilt es einen neuen Begriff des Klassenraumes zu entwickeln.
1.2 Aktualität und Forschungsstand
Aufgrund steigender Schülerzahlen beriefen im September 2016 die Berliner Bildungssenatorin und die Berliner Stadtentwicklungssenatorin eine Facharbeitsgruppe für Schulraumqualität ein. Die Arbeitsgruppe formulierte die Notwendigkeit der räumlichen Voraussetzungen für eine modernere Pädagogik, die für eigenständigen Kompetenzerwerb und individuelles Lernen steht. Und für eine Bildung, die durch differenzierte Förderung der individuellen Begabungen und Interessen Potenziale und Begabungen aller Schülerinnen und Schüler fördert.
Der wissenschaftliche Beirat für Familienfragen beim Bundesfamilienministerium formuliert, dass die Schule als Lern- und Lebensort durch den längeren Aufenthalt der Schülerinnen und Schüler in der Schule von der Familie vielfältige Erziehungs- und Bildungsbereiche übernimmt (BMFSF, 2005, s. 4f). Der genannte Beirat betont in diesem Zusammenhang insbesondere die Bedeutung des Aufbaus und der Sicherung von persönlichen Beziehungen sowohl zwischen den Schülerinnen und Schülern und den Lehrkräften als auch der Lernenden untereinander.
Die Berliner Facharbeitsgruppe betont, dass sich aus den neuen Anforderungen an die Schulen auch bauliche Flerausforderungen ergeben:
״Daraus ergeben sich völlig neue pädagogische und architektonische Erfordernisse, die naturgemäß mit einem gewissen Flächenzuwachs verbunden sein müssen.“ (Facharbeitsgruppe Schulraumqualität 2017, s. 2)
Über den Zusammenhang zwischen Lernen und Raum gibt es umfangreiche Forschung. Ein aktuelles Konzept sieht im Neubaubereich die Schaffung von familiär wirkenden sogenannten Lern- und Teamhäusern vor. Doch es können nicht nur neue Schulen gebaut werden und so ist auch im Bestand ein großer Flandlungsbedarf zu erkennen. Denn der Raum ist die Rahmenbedingung für das Lehren und Lernen. Er muss die Beziehung von Lehrkraft und Schülerinnen und Schüler mit Aspekten von Sicherheit, Wohlbefinden, sozialen Kontakten ermöglichen und unterstützen. Ein maßgebliches Bedürfnis der Jugendlichen ist es, Individualität und Identität sowie Verhaltenssicherheit zu gewinnen (Rughöft 1992, s. 82). Auch ihm müssen Räume entsprechen.
1.3 Zielsetzung und Vorgehen
In der vorliegenden Arbeit sollen zunächst die für den handlungsorientierten Unterricht kennzeichnenden veränderten Lernarrangements mit den Sozialformen der Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit beschrieben werden. Anschließend geht es darum, die Bedeutung von Schule als Lebensort sowie die damit zusammenhängenden erweiterten Nutzungsbedürfnisse der Schülerinnen und Schüler in der Ganztagsschule zu umreißen. Aus diesen Beobachtungen sollen die veränderten Raumanforderungen abgeleitet werden.
Auf dieser Grundlage wird ein fachdidaktisches Konzept für die Optimierung der Räume mit geringen Mitteln vorgeschlagen, bei dem der Akzent auf der Initiative der Schülerinnen und Schüler liegt, die eigenverantwortlich und zielorientiert ihre Räume gestalten.
1.4 Methodik: Handlungsorientiertes Lernen
Das fachdidaktische Konzept für die Optimierung vorhandener Räume zielt darauf ab, gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern zunächst einen Entwurf für die Umgestaltung eines Raums zu entwickeln und diesen anschließend umzusetzen. Das didaktische Prinzip ist also das Prinzip der Selbsttätigkeit, es zielt auf die Eigenaktivität des Lernenden ab. In Bezug auf das inhaltliche Ziel heißt das konkret, dass sich die Schüler und Schülerinnen ihre Räume selbst aneignen.
Um den Umfang des Projekts zu begrenzen, geht es im Folgenden allein um eine Veränderung des Mobiliars. Dieses bildet jedoch nur einen kleinen Ausschnitt der Veränderbarkeit der Räume. Im Anschluss an die Darstellung der praktischen Umsetzung wird eine Aufstellung von anderen Raumkriterien wie Lichtgestaltung, ansprechende Farbgebung, Akustik und Raum luft, angeboten, die den Gegenstand neuer Projekte im WAT-Unterricht bilden könnten.
2 Lernform
2.1 Grundlagen des handlungsorientierten Unterrichts
Die Idee des handlungsorientierten Unterrichts geht auf die Reformpädagogik
zurück und lässt sich zunächst mit einem Satz von Gaudig1 zusammenfassen: ״Es kommt darauf an, den Schüler aus dem Passivum in das Aktivum zu übersetzen“ (Gudjons 2014, s. 8). Historisch gehen handlungsorientierte
Ansätze gemäß Gudjons noch weiter zurück auf die Industrieschulen des 18. Jahrhunderts, insbesondere auf Pestalozzis Gedanken, dass man mit ״Kopf, Herz und Hand“ lernen müsse. Generell geht es um den handelnden Umgang mit Gegenständen zum Lernen, die einen klaren Bezug zur Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler aufweisen. Eindeutige Konturen fehlen dem pädagogischen Konzept des handlungsorientierten Unterrichts jedoch bis heute. So wird von verschiedenen Autoren ein Theoriedefizit beklagt (Gudjons 2016, s. 7). Ähnliche Ansätze wie Offener Unterricht, Freiarbeit, Projektarbeit, entdeckender Unterricht u. a. sind damit nicht leicht vom handlungsorientierten Unterricht abzugrenzen. Fest steht jedoch, dass die Eigentätigkeit der Schülerinnen und Schüler mit ihren Sinnen bei der ״Auseinandersetzung und aktiven Aneignung eines Lerngegenstandes“ (Gudjons 2014, s. 8) im Zentrum des Unterrichts stehen soll.
Seit ungefähr dreißig Jahren findet demnach ein Paradigmenwechsel in der allgemeinen Didaktik, von der Vermittlungsdidaktik über die handlungsorientierte Didaktik zur Autodidaktik (selbstgesteuertes Lernen) statt (vgl. Bösch 2006, s. 166 f.; Riedel 2010, s. 205), was innerhalb der Wissenschaft als konstruktivistische Didaktik bezeichnet wird: Lernen wird demnach als Prozess der Selbstorganisation des Wissens verstanden. Dabei sind selbstgesteuertes Lernen und handlungsorientiertes Lernen in ihren Merkmalen eng verwandt. Die Herausforderung des Unterrichts besteht darin, Individualität des einzelnen Kindes durch ein vielfältiges Angebot gerecht werden, so dass es die Verantwortung für den eigenen Lernprozess übernehmen kann. Das selbstgesteuerte Lernen verläuft in der Schule nie völlig unabhängig, da fremde Einflüsse vor allem in Form des Lehrplans und didaktischer Entscheidungen für die Unterrichtsgestaltung unvermeidbare Eckpfeiler sind. Daher lässt sich im Unterricht nur phasenweise das selbstgesteuerte Lernen praktizieren.
Der Grad der Selbststeuerung steigt damit, dass Entscheidungen und Aktivitäten auf die Lernenden übertragen werden (vgl. Riedel 2010, s. 208). Riedel differenziert dies in fünf Punkten:
Weitere Autoren, die zu dem Konzept des handlungsorientierten Lernens beigetragen haben, sind der Physiker und Pädagoge Martin Wagenstein (1896-1988) mit seinen naturwissenschaftlichen ״Lehrstücken“, die sich an den Erkenntnisfindungsweg großer Forscher anlehnen, oder Bruner, der in den 1970er Jahren die Idee des ״entdeckenden Lernens“ und des eigenständigen Problemlösens entwickelte.
- Lernzielbestimmung: Wer bestimmt den Lernbedarf und die Auswahl von Lernzielbestimmungen?
- Lernkoordination: Durch wen entsteht die Abstimmung des Lernens in der Schule mit anderen Tätigkeiten und Anforderungen?
- Lernorganisation: Wer trifft Entscheidungen über den Lernort, Lernzeitpunkt, Lernstrategie, Verteilung der Lerninhalte oder Lernpartner?
- Lernkontrolle: Durch wen wird der Zuwachs an Lernerfolg diagnostiziert? Inwieweit können Lernende Kontrolle über ihr Lernergebnisse bekommen?
- Selbstwahrnehmung: Wie können Lernende ihre Selbstständigkeit im Verlauf des Lernens erfassen, erläutern und empfinden?
Lautet die Antwort auf die genannten Fragen, dass es die Schülerinnen und selbst sind, die diese Aufgaben übernehmen, so kann man nach Meyer (1978) von einem hohen Ausmaß an Schülerselbsttätigkeit sprechen (siehe Abb. 4).
Ein Idealbild von selbstgesteuertem Lernen (Riedel) entsteht demnach, wenn Lernende
- sich Lernziele setzen und die eigenständige Zielerreichung planen,
- eigenaktiv ihre Lernbedürfnisse erkennen,
- verschiedene Formen der Unterstützung nutzen,
- geeignete Hilfsmittel auswählen,
- ihren eigenen Lernprozess verfolgen,
- eigene Unzulänglichkeiten sachlich bewerten,
- ein positives Selbstbild durch erkannte eigene stärken und Fähigkeiten formen, was als positiv für die Stärkung des Durchhaltevermögens für schwierige Aufgaben gilt (Riedel 2010, s. 209).
Dies alles bedeutet jedoch sehr hohe Anforderungen und Erwartungen an die Lernenden. Immer wieder stößt daher die Anregung zu selbstgesteuertem Lernen auf ein reproduktives und passives, lehrerabhängiges Verhalten bei Lernenden (Simons 1992, s. 256, zitiert nach Riedel 2010, s. 209). Dieses verinnerlichte tradierte Lernkonzept sollte im Unterricht schrittweise abgebaut werden. Flierzu tragen Lernstrategien im Fachunterricht bei, insbesondere eine positiv gestaltete Lernsituation, die Ziele setzt und ein konzentriertes Lernen durch einen eigenen Arbeitsplatz in der Lernumgebung ermöglicht (BMFSF, 2005, s. 4f) Wichtig ist es weiterhin, den Lernenden verschiedene Strategien aufzuzeigen, wie sie sich Wissen aneignen können. In ihrem eigenen Tempo und auf ihrem eigenen Lernweg sollen die Schülerinnen und Schüler ihre eigenen Lernprozesse durchlaufen. Wichtig ist es, ihnen hierfür eine breite Auswahl an Medien, Materialien und Methoden anzubieten, um so ihre Selbständigkeit bis hin zur Selbststeuerung zu fördern. Die Lernziele umfassen dabei nicht allein die Wissensaneignung, sondern auch Strukturierungsfähigkeit oder Problemlösefähigkeit (vgl. Riedel 2010, s. 215 f) und nicht zuletzt eine Kompetenz für das eigene Lernen.
Meyer (2002) hat wesentliche Merkmale für den handlungsorientierten Unterricht zusammengefasst. Der handlungsorientierte Unterricht...
1. bildet sich nicht durch die Systematik der Fachwissenschaft, sondern durch konkrete Pläne und Fragestellungen. Eine Aufspaltung der Lehrinhalte in Einzelstunden fehlt. Ganzheitliche Unterrichtsmethoden wie Gruppen- und Partnerarbeit, Rollenspiel und Projektarbeit sind bevorzugt.
2. ist schüleraktiv und selbsttätig. Der Lehrer führt, gibt aber wenig vor.
3. zielt auf die Flerstellung von Flandlungsprodukten, nicht nur materieller Art.
4. nimmt subjektive Schülerinteressen zum Ausgangspunkt.
5. beteiligt die Lernenden an der Durchführung, Planung und Auswertung.
6. öffnet Schule nach innen und außen; ist fächerübergreifend, fördert individuelle Lernwege und kann auch Experten und Eltern in die Lernarbeit integrieren.
7. ermöglicht das Lernen mit allen Sinnen und bringt Kopf- und Flandarbeit in ein ausgewogenes Verhältnis.
Aber worauf begründet sich diese Art des Lernens?
2.1.1 Begründung für den handlungsorientierten Unterricht
Das selbständige Planen und das Erleben eigener Erfahrungen tritt in unserer Lebenswelt immer mehr in den Flintergrund. Durch ״allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit“ und die Verringerung von Handlungsmöglichkeiten (vgl. Gudjons 2014, s. 11) wird das tätige, aktive, eigene Aneignen der materiellen Welt zunehmend auf ein eher bildhaftes Aneignen von Kultur durch technische Medien verschoben. Als Vorbereitung auf ein eigenverantwortliches Leben sind unmittelbare Erfahrungen, die von einer aktiven Auseinandersetzung mit der Gegenwart zeugen, wichtig, denn die Arbeitswelt erfordert das selbstständige Planen, Durchführen und Kontrollieren von Arbeitstätigkeiten. Denn das Aneignen von Erfahrungen und damit ein tieferes Verstehen setzt die Eigentätigkeit voraus. Denn: ״Wo eine Vorstellung von Entstehen fehlt, wird das Verstehen schwieriger“ (Gudjons 2014, s. 16). ״Hierzu muss eine ״handlungsarme Tafel-Kreide-Schwammpädagogik“ (Gudjons 2008 a, s. 18) zurückgehen und sinnliche-handgreifliche Primärerfahrungen im Unterricht möglich sein (vgl. Riedel 2010, s. 217). Die Integration der technischen und elektronischen Medien in den handlungsorientierten Unterricht widerspricht dem jedoch nicht.
Durch den handlungsorientierten Unterricht wird nach Jank und Meyer (2002, s. 368ff.; vgl. auch Meyer 1987 b, s. 410 zitiert nach Riedel 2010, s. 219) erreicht, dass Schülerinnen und Schüler aktiver lernen, weil sie sich besser mit dem Unterrichtsgegenstand identifizieren. Die intensivere Auseinandersetzung mit den Lerninhalten führt zu besseren Lernergebnissen. Die Lernenden übernehmen für den Unterrichtsverlauf Verantwortung und bewerten ihre Arbeitsergebnisse selbst. Auch die Unterrichtsarbeit unterziehen sie einer demokratischen Kritik und Kontrolle. Nicht zuletzt lassen sich Disziplinierungsprobleme durch eine solche offene Unterrichtsform reduzieren (Peschei 2002).
Die Hattie-Studie (2013) zeigt, dass die Selbsteinschätzung des eigenen Leistungsniveaus ein zentraler Einflussfaktor in Bezug auf den Lernerfolg ist.
Die heutige schulische Bildungsperspektive folgt dem pädagogischen Ideal, die Entwicklung von Selbständigkeit zu ermöglichen. Das verbindet sich mit der Überzeugung, dass Mündigkeit und Emanzipation die Ziele der heranwachsenden Bürger und Bürgerinnen selbst sind.
2.1.2 Anforderungen an die Lehrkraft
Für die Lernenden ist das selbstgesteuerte Lernen eine bedeutende Bildungsaufgabe (Riedel). Die Lehrenden haben die Aufgabe, die Lernumgebungen so einzurichten, dass sie den Lernenden beim Wissenserwerb dienlich sind.
Selbstgesteuertes Lernen im Unterricht fordert Lehrer und Lehrerinnen sehr. Die Vorbereitungsphase für den Unterricht ist intensiver. Im Unterricht selbst verzichten sie jedoch weitgehend auf direkte Einflussnahme und versuchen den Lernenden Handlungsspielräume und Eigeninitiative zu gewähren. Damit die Schülerinnen und Schüler innerhalb dieser Handlungsspielräume erfolgreich lernen und dabei ihre Selbstwirksamkeit erfahren können, ist eine vorbereitende Analyse der vorhandenen Lernkompetenzen erforderlich, um dann die fachliche und methodische Entwicklung in der Planung aufzubauen. Das Konzipieren von differenzierenden Lernarrangements mit Lernmaterialien ist der nächste Schritt. Im Unterricht übernehmen die Lehrkräfte die Aufgabe des Beobachtens der individuellen Entwicklung der Lernenden, geben bei Schwierigkeiten Anregungen und stehen allgemein zurückhaltend, abwartend und zugleich helfend den Lernenden gegenüber (vgl. Riedel 2010, s. 217).
2.1.3 Anforderungen an den Raum
Damit handlungsorientierter Unterricht gelingen kann, müssen auch die Räume auf ein Schüler- und handlungsorientiertes Lernen ausgerichtet sein, müssen die Selbständigkeit der Lernenden fördern und ihr Selbstwertgefühl steigern. Von entsprechend angepassten Räumen sind eine Verbesserung des Lern- und Schulklimas und eine Entlastung der Lehrkräfte zu erwarten (vgl. Buddensiek 2001, s. 213-244). Zu einer solchen Anpassung der Räume gehört es beispielsweise, dass das Mobiliar den Schüler und Schülerinnen erlaubt, nicht wie festgezurrt dazusitzen, sondern sich in ihrer Position zu verändern, im Stehen oder Liegen zu lernen und verschiedene Gruppen zu bilden. Das Klassenzimmer sollte auch gegenüber dem übrigen Schulgebäude nicht abgeschlossen sein, sondern eher als Basis für Entdeckungen fungieren. Übergeordnetes Ziel bei der Gestaltung der Raumstruktur ist es, die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen wie Kommunikationsfähigkeit, Kooperationsbereitschaft, Verantwortungsbewusstsein zu unterstützen (vgl. Buddensiek 2001, s. 194-199).
Grundlegend zur Schaffung von optimalen Bedingungen an der Schule ist in Berlin die Vorgabe der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft. Sie entspricht dem Konzept der Handlungsorientierung, denn darin heißt es:
״Schülerinnen und Schüler gestalten Bereiche des Ganztags eigenverantwortlich. Hierbei erhalten sie Unterstützung.“
(Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft, Februar 2013, s. 18)
Das Prinzip der Handlungsorientierung geht davon aus, dass für die Schülerinnen und Schüler diejenigen Themen relevant sind, die sie in ihrer Umgebung antreffen - so auch die Räume, von denen sie in der Schule umgeben sind. In dem sie sie eigenständig gestalten, kommen sie ins Handeln. Durch Mitbestimmung und die eigene praktische Arbeit machen sie Schule zu einem Ort, mit dem sie sich identifizieren können.
״[Der] Aneignungswunsch und die Gestaltungslust der jungen Generation [sollen] herausfordern und die Chance bieten, mindestens temporar eigene ,Spuren‘ zu hinterlassen. Sonst bleibt ihren Provokateur(inn)en nur die Ritzzeichnung in der Tischbank und die Protestkultur der Graffitisprayer/innen“
(Der GanzTag in NRW 2012, s. 11 )
So sollten es nicht Architektinnen und Architekten sein, nicht die Schuldirektion und nicht die Lehrer und Lehrerinnen, die das Ergebnis der Raumgestaltung bestimmen. Vielmehr begleiten sie die Schüler und Schülerinnen auf ihrem Weg, die Unzulänglichkeiten in der Umgebung zu verändern und aus den Schulzimmern Räume des Lernens und Lebens für sich zu machen.
2.2 Umsetzung im WAT-Unterricht
2.2.1 Rahmenlehrplan des Unterrichtsfachs WAT
Der Grundsatz der Bildung und Erziehung in der Sekundarstufe I des Rahmenlehrplans im Fach Wirtschaft - Arbeit - Technik sieht - wie bei den übrigen Fächern - vor, die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit der Lerner zu fördern. Dabei sollen die bisher erworbenen Lernerfahrungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten so vertieft werden, dass eine Kompetenzentwicklung die erfolgreiche Bewältigung von Herausforderungen im Alltag und im späteren Berufsleben ermöglicht.
Als umfassender Anspruch ist im Rahmenlehrplan formuliert, dass die Schülerinnen und Schüler in demokratischem Handeln in gewaltfreien, loyalen Gemeinschaften eigene Handlungsspielräume erschließen lernen sollen. ״Kenntnisse über wissenschaftliche, technische, rechtliche, politische, soziale, ökonomische und ökologische Entwicklungen“ (Rahmenlehrplan 2012, s. 5) bilden die Grundlage dafür, dass sie ihre Handlungsspielräume nutzen und dabei auch Verantwortung für sich und ihre Mitmenschen übernehmen. Sie befinden sich stetig in Prozessen der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung. Das Lernen erfolgt alleine und in der Gruppe.
Anhand von Standards wird am Ende jeder Doppeljahrgangsstufe der Kompetenzzuwachs für dieses ganzheitliche Lernen verdeutlicht. Dieser Maßstab für das ganzheitliche Lernen ist auch ausschlaggebend für die Unterrichtsgestaltung und bildet den Parameter für das Entwickeln von Konzepten zur individuellen Förderung der Lernenden.
Die inhaltlichen Kompetenzen entwickeln sich in Themenfeldern, deren Inhalte von den jeweiligen Fächern (im vorliegenden Fall also Wirtschaft, Arbeit und Technik) angeboten werden. Dabei wird der Bezug zur Erfahrungswelt der Lernenden im Kontext der aktuellen und der zukünftigen Gesellschaft erörtert, denn vernetztes Denken und Handeln wird als Grundlage für lebenslanges Lernen verstanden. Dies erfordert auch fachübergreifende Kooperationen und entsprechende Absprachen seitens der Lehrkräfte und das Aufgreifen regionaler und schulspezifischer Besonderheiten und Interessenlagen der Lernenden. Die Schulbeteiligten arbeiten dafür zusammen und nutzen Kooperationsangebote externer Partner.
Lernende sollen die Möglichkeit von Verantwortung für und aktiven Gestaltung von Unterricht bekommen. Die neue Lernkultur soll bei ihnen den eigenen Lernweg bewusst werden lassen, dabei sind unterschiedliche Lösungen und das Treffen eigener Entscheidungen nötig, sogar ״Fehler und Umwege werden dabei als bedeutsame Bestandteile von Erfahrungs- und Lernprozessen akzeptiert“ (Rahmenlehrplan 2008, s. 7).
Erfolgreiches Lernen erfordert die Auseinandersetzung mit dem Neuen. Es erfolgt in den verschiedenen Lernphasen der Anwendung, des übens, des Systematisierens und des Vertiefens und Festigens von neuen Informationen.
Unabhängig vom Fach WAT formuliert Paragraf 12, Absatz 2 des Schulgesetzes von Berlin generell zwei Gestaltungsmöglichkeiten für den Unterricht. Zum einen können Unterrichtsfächer zu einem Fach zusammengefasst werden oder mehrere Fächer können fachübergreifend gemeinsam eingeteilt werden (Rahmenlehrplan 2008, S.7).
Eine besondere Unterrichtsform ist das Projekt. Schülerinnen und Schüler können sich ihrem Alter entsprechend an Projekten aktiv beteiligen, in denen über Fächergrenzen hinaus Lernprodukte erstellt werden, bei denen überfachliche Fähigkeiten und Fertigkeiten ihnen die Lebens- und Arbeitswelt eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben näher gebracht wird.
״Von Schülerinnen und Schülern werden komplexe Produkte bzw. Dienstleistungen kooperativ geplant, gefertigt, bewertet sowie angeboten. Der Prozess des planend-produzierenden Arbeitens wird dokumentiert, über die praktische Umsetzung wird die Verbindung zum reflexiven Umgang mit Innovationen aus Technik und Technologie hergestellt“.
(Wirtschaft - Arbeit -Technik, Berliner Rahmenlehrplan 2015 Teil c, für die Sekundarstufe I, s. 41)
Der Kompetenzerwerb erfolgt nach dem Grundsatz des forschenden, handlungsorientierten und selbstbestimmten Lernens. Um diesen TheoriePraxis-Bezug einlösen zu können, ist ein projektorientierter, fächerverbindender und fachübergreifender Unterricht besonders geeignet. Diese Unterrichtsmethode gewährleistet eine mehrdimensionale Auseinandersetzung mit den Themen des Fachs. Die Auseinandersetzung mit Problemen wird selbstständig, eigenverantwortlich und kritisch, kreativ, kooperativ, situativ adäquat und lösungsorientiert entwickelt (ebd.).
Der Unterricht in WAT findet im Klassenraum und auch in Werkstätten der Schule und an außerschulischen Lernorten statt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Vielfältiger Kompetenzerwerb im Fach Wirtschaft –Arbeit – Technik. Quelle: Rahmenlehrplan 2012, S.11.
Zur fachbezogenen und berufsrelevanten Methodenkompetenz gehören die Bewertung der Realisierbarkeit von Vorhaben, ihre Planung und die Organisation von Arbeitsschritten, was auch das Ausüben von Arbeits- und Auswertungstechniken durch die Schülerinnen und Schüler umfasst (ebd.).
Das erfolgreiche Kommunizieren ist später in beruflichen Zusammenhängen erforderlich. So sind Prozesse kritisch zu reflektieren und eigene Ideen in Projektvorhaben überzeugend zu vertreten. Dabei ist die Verknüpfung von Alltags- und Fachsprache entscheidend (ebd.).
Einen eigenen Kompetenzbereich bildet es, Urteile und Entscheidungen sach- und situationsgerecht zu treffen. Dies betrifft zunächst die praktischen Arbeitsschritte. Sie sind zu verstehen und anzuwenden unter der Einbeziehung von arbeitsweltlichen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Überlegungen. Reale Situationen sollen erfasst werden, Interessenkonflikte erörtert und Lösungen und Konsequenzen gilt es abzuwägen (ebd.).
Der Kompetenzbereich Fachwissen lässt sich für das Fach WAT in folgenden zwölf zentralen Aspekten zusammenfassen:
- Arbeitssicherheit und Gesundheit
- Berufs- und Studienorientierung
- Gesellschaftliche Arbeitsteilung
- Flistorische Entwicklung
- Informations- und Kommunikationstechnik
- Ökologie
- Ökonomie
- Produktqestaltunq und Design
- Symbolische Darstellungsformen
- Technikeinsatz
- Verbraucherverhalten
- Waren- und Werkstoffkunde
Die rote Umrandung zeigt, welche fachlichen Inhalte sich mit dem Projekt der Klassenraumgestaltung zur Lernlandschaft verknüpfen lassen.
Als eines der Themenfelder des Fachs WAT benennt der Rahmenlehrplan Bauen und Wohnen (WP6). Dabei entwickeln Schülerinnen und Schüler der Doppeljahrgangsstufen 7/8 sowie 9/10 altersentsprechend Vorstellungen über Wohnperspektiven. Die folgenden ausgesuchten Aspekte sind mögliche Lernziele bei dem Konzept für ein Unterrichtsprojekt ״Umbau des Klassenzimmers zur Lernlandschaft“: Schülerinnen und Schüler können ...
- ... sich über Baustoffe, Materialeigenschaften von Einrichtungsgegenständen und Wohntextilien informieren.
- ... Baupläne und Montageanleitungen und Gebrauchsanweisungen zur Bewältigung planerischer Aufgaben übernehmen.
- ... Wohnformen und Wohnbedürfnisse analysieren.
- ... oder sich über Gesundheitsgefährdung durch Baustoffe und ihre Verarbeitung informieren.
- ... oder ein Modell und CAD-Zeichnungen anfertigen und so zugleich ein verbessertes räumliches Verständnis entwickeln.
- ... oder dem Aspekt von Berufsbildern im Bereich Bauen und Wohnen sowie dem Thema Gender nachgehen.
- ... sich mit dem Wohnen im Wandel der Zeit und mit der regionalen Baugeschichte auseinandersetzen.
- ... die Nachhaltigkeit ökologischen Bauens und Wohnens beachten.
- ... sich mit der Gestaltung eines bedürfnisgerechten Jugendzimmers als eines möglichen Vorbilds beschäftigen (vgl. WAT Rahmenlehrplan, s. 47 Teil C).
Eine thematische Erweiterung des Wahlpflichtfaches ist in der Schulumfeldgestaltung (WP8) möglich. Dabei können Schülerinnen und Schüler ein Vorhaben für ein attraktives Schulumfeld entwickeln, wobei sie fachbezogene und fachübergreifende Fähigkeiten und Fertigkeiten gemeinsam
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
vertiefen. Fast alle fachlichen Inhalte, die der Rahmenlehrplan hier vorschlägt, können in dem Projekt zur Umgestaltung des Klassenraums erlernt werden:
- Planung und Verwirklichung von Vorhaben für ein an den Nachhaltigkeitskriterien orientiertes Umfeld
- Grundlagen aus Innenarchitektur und gestalterischem Handwerk.
- Ressourcen- und Arbeitsablaufplanung
- Material- und Kostenberechnungen
- Beschaffung von Informationen und Ressourcen
- Vielfalt und Verschiedenheit (Diversität) im sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Bereich
- Ansätze und Konzepte zur nachhaltigen Entwicklung
- Unterschiede zwischen erneuerbaren und nicht erneuerbaren Ressourcen und ihre Nutzung
- Arbeitsschutz
- Berufsbilder im Bereich Landschaftsgestaltung, Landwirtschaft, Architektur, gestalterisches Handwerk/Genderaspekte.
Der Bezug zu den sogenannten inhaltlichen Basiskonzepten für den WAT-
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Unterricht ist die Betrachtung ...
... des Systems:
- Wechselwirkungen im Lebensraum Schule sowie im Schulumfeld.
... der Entwicklung:
- historische, regionale und überregionale Zusammenhänge im Lernen, Wohnen und Wirtschaften.
... der Nachhaltigkeit:
- nachhaltige Entwicklung von Lebensräumen.
Möglich ist auch die Integration des Basiskonzepts
- Projekte zur Mitgestaltung der eigenen Schule, z. B. grünes Klassenzimmer, Gestaltung der Mensa.
(vgl. WAT Rahmenlehrplan 2017 Teil c, s. 49).
Die beiden Themenfelder, Bauen und Wohnen und Schulumfeldgestaltung sind die Grundlage für die projektbezogene Umgestaltung des Klassenraums.
2.2.2 Unterrichtsplanung
Die Unterrichtsplanung für den WAT-Unterricht muss wiederum den Prinzipien
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
des handlungsorientierten Unterrichts folgen Jank/Meyer (1991, s. 329).
Sie entfalten diese Prinzipien in Form eines Planungsrasters, das für die pädagogische Gestaltung eine hilfreiche Orientierung darstellt.
Der Unterricht in WAT stellt methodisch eine besondere Chance und zugleich Herausforderung dar, denn die Handlungsformen sind hier noch wesentlich vielfältiger als im sonstigen Fachunterricht, weil sie auch das Messen und Anfertigen von Modellen, das Einholen von Kostenschätzungen, das Sägen, Bohren, Schrauben usw. umfassen, die jeweils auch in unterschiedlichen Sozialformen (Einzel-, Partner, Gruppenarbeit) erfolgen können. Zugleich gilt es, diese Tätigkeiten auch jeweils zu reflektieren, damit die Schülerinnen und Schüler auch einen kognitiven Zugang zu diesen Inhalten entwickeln können.
2.3 Die Projektarbeit
In den USA entwickelten William Heard Kilpatrick (1871-1965) und John Dewey (1859-1952) eine Variante des handlungsorientierten Unterrichts, die Projektmethode. Klafki (1970) bezeichnet das Projekt als methodische Großform und ordnet es in die Reihe vom Lehrgang, Jahresplan oder Unterrichtseinheit ein (vgl. auch Meyer 1987, s. 143). Meyer erweitert den Projektbegriff und umschreibt das Projekt als einen Unterricht, in dem Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler, bereitwillige Eltern und Experten einen Versuch unternehmen, Leben, Lernen und Arbeiten miteinander zu verbinden, damit ein gesellschaftliches und wesentliches individuelles Bedürfnis und Interesse aufgearbeitet werden kann. Der Prozess ist dabei genauso wichtig wie das Handlungsprodukt (ebd.).
Grundsätzlich ist das Projekt eine sehr gute Form, um das selbstgesteuerte und handlungsorientiertes Lernen zu verwirklichen. Dies unterstreicht auch Frey (1996, s. 58, zitiert nach Riedel 2010, s. 221), indem er einen besonderen Bedarf der Schule an einer Projektmethode begründet. Demnach ist das Projekt geeignet, die individuelle Entfaltung und die gesellschaftliche Entwicklung der Lernenden zu fördern und eine Übernahme an Verantwortung einzuüben, denn es ermöglicht das Erfahrbarmachen von Mitgestaltung im alltäglichen Leben. So benennt Frey weiter, dass die Kluft zwischen der Schulwirklichkeit und dem ״wahren Leben“ im Projekt überwunden werden kann (ebd.). Zudem kann im
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Projekt auf sehr direkte Weise schnell neues Fachwissen erworben und eingeübt werden.
[...]
1 Hugo Gaudig (1860-1923) entwickelt didaktische Methoden wie die Gruppenarbeit und das Projektlernen mit der Auswertung im gemeinsamen Gespräch.
Schlagworte:
lit-2017_buch, Masterarbeit,
kein Summary verfügbar
Notiz:
TU Berlin
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ID: 5333 | hinzugefügt von Jürgen an 14:58 - 18.4.2020 |
title: Die Arbeit mit dem Biologie Atelier by Riemer, Matthias |
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Titel: | Die Arbeit mit dem Biologie Atelier |
Autor: | Riemer, Matthias | Sprache: | deutsch |
Quelle: | Bad Heilbrunn, In: Praxishilfen Freinetpädagogik, Klinkhardt | Quellentyp: | Sammelband |
veröffentlicht am: | DD.MM.2005 | | |
url: | |
Text:
-
Schlagworte:
Biologie, Biologieunterricht, Freies Forschen, Forschungskisten, Naturwissenschaft, Atelier
summary:
Ein freinetpädagogischer Biologieunterricht stützt sich, wie jeglicher fachspezifische Unterricht im System Freinet auf eine materielle Basis. Diese materielle Basis steht in den Ateliers zur Verfügung. Zusätzlich gibt es Organisationsformen, die zum Umgang mit den Materialien anregen und gleichzeitig Rituale und Regeln beinhalten. Beides – Materialien und dazu passende Organisationsformen für den Bereich der Biologie werden in diesem Kapitel vorgestellt.
Definitionsvorschlag: Das Atelier Biologie ist eine Materialsammlung für biologisches Arbeiten mit Realien, Laborausstattung, Nachschlagemöglichkeiten und didaktisch aufbereiteten Arbeitsanregungen. Die Arbeit mit dem Atelier Biologie wird durch eine allen SchülerInnen bekannte Organisationsstruktur determiniert. Dabei entstehen Arbeiten mit einem unterschiedlichen Grad an Selbststeuerung.
Durch die Verknüpfung mit anderen Freinet-Techniken, Arbeitsmitteln und Gruppentechniken erhält die Arbeit mit dem Atelier Biologie aus le-gitimatorischer Perspektive umfangreiche Möglichkeiten Emanzipation und Befreiung zu fördern.
13.1 Arbeit mit dem Bio-Atelier in der pragmatischen Umsetzung
13.2 Das Atelier Biologie in Bezug zur legitimatorischen Struktur der Freinetpädagogik
13.3 Einführung, Gefahren und Grenzen
keine Notizen verfügbar
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ID: 2611 | hinzugefügt von Matthias an 04:47 - 11.11.2005 |
title: Zur Biographie Célestin Freinet by Schlemminger, Gérald |
|
Text:
Zur Biographie Célestin Freinet und zur Entwicklung der Grundzüge und Prinzipien seiner Pädagogik
In : Inge Hansen-Schaberg und Bruno Schonig (Hrsg.): Freinet-Pädagogik.
Reformpädagogische Schulkonzepte, Bd. 5.
<ol>
<li> Hinführung zur Freinet-Pädagogik
<li> Célestin Freinet: ein pädagogischer Eklektiker
<li> Pädagogik und Politik bei Célestin Freinet
<li> Einige Arbeitschwerpunkte von Célestin Freinet, sein methodisches Vorgehen, seine pädagogischen Konzepte
<li> Célestin Freinet und die etablierte Forschung in den (Erziehungs-) Wissenschaften
<li> ...und Élise Freinet?
<li> Schlußbemerkung<p>
<li> Anhang: Lebensdaten von Célestin Freinet
</ol>
Prof. Dr. Gerald Schlemminger
In : Inge Hansen-Schaberg und Bruno Schonig (Hrsg.) (2001): Freinet-Pädagogik.
Reformpädagogische Schulkonzepte, Bd. 5. Baltmannsweiler, Schneider-Hohengehren,
S. 9 - 51.
Zur Biographie Célestin Freinet und zur
Entwicklung der Grundzüge und Prinzipien
seiner Pädagogik
1 Hinführung zur Freinet-Pädagogik
Es gab lange Zeit kaum eine Schrift über die Freinet-Pädagogik, keine
wissenschaftliche Hausarbeit zum Thema, die nicht einleitend den Entstehungsmythos
huldigte und einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Lungenstreckschuss –
den Célestin Freinet im 1. Weltkrieg erlitt und der ihn für ‘normalen’ Schulunterricht
lehrunfähig gemacht haben soll – und der neuen Pädagogik, die er deshalb entwarf,
herstellt. Wie die Geschichte der Pädagogik zeigt, begleitet solche Mythenbildung jede
Pädagogik, sobald sie sich etabliert. Sie ermöglicht einfache Verstehens- und
Erklärungsmuster, wird aber weder dem Werk noch der Person, in diesem Fall Célestin
Freinet, gerecht. Sie setzt in der Freinet-Pädagogik, wie die Rezeptionsgeschichte zeigt,
nach dem 2. Weltkrieg ein, als eine neue LehrerInnengeneration mehr aus
pädagogischem, denn politisch-gewerkschaftlichem Interesse und Engagement zur
LehrerInnen-Kooperative C.E.L. (“Coopérative d’Enseignement Laïque”)1 stößt, sich
der Kreis der französischen Pädagogik-Pioniere um Célestin Freinet erweitert und die
Kooperativbewegung – die sich zunächst “Schuldrucker” nennt – und ihre Praktiken
offiziell zu “Freinet-Pädagogik” und zur “Freinet-Bewegung”2 werden. Zu dieser
Legendenbildung tragen auch die romanhafte Darstellung seiner Person durch seine
Frau Élise Freinet in der Schrift Naissance d'une pédagogie populaire (1949) und der
Film L'école buissonnière von Jean-Paul le Chanois (1949) über seine Schule in Vence
bei. Erst die Arbeiten, die in Zusammenhang mit und seit dem 100. Geburtstag
herausgekommen sind3, ändern wirklich den Blickwinkel und versuchen, die Freinet-
1 Die C.E.L. ist faktisch ein kleines Verlagshaus, versteht sich aber bis zur Gründung (1947) des rein
pädagogisch orientierten I.C.E.M. (Institut Coopératif de l’École Moderne) auch als Koordination
der LehrerInnenbewegung, die sich dann aber zunehmend auf die Person von Célestin Freinet
fokalisiert.
2 Der Begriff “techniques Freinet” wird ab Mitte der 30er Jahre in der Kooperativbewegung und von
Célestin Freinet benutzt.
3 Dazu zählen universitäre Veröffentlichungen zur aktuellen Freinet-Pädagogik: Patrick BOUMARD
(1996), Ingrid DIETRICH (Hrsg. 1995), Herbert HAGSTEDT (Hrsg. 1997), Ahmed LAMIHI
(Hrsg. 1997), Henri PEYRONIE (1999) (Hrsg. 1997) als auch die schon älteren Arbeiten von Pierre
CLANCHÉ / Jacques TESTANIERE (Hrsg.) (1989) und Pierre CLANCHÉ / Éric DEBARBIEUX /
Jacques TESTANIERE (Hrsg.) (1994); dazu gehören die historische Arbeiten: Luc BRULIARD /
- 2 -
Pädagogik kritischer aufzuarbeiten.
So beginnt z.B. die erste in Buchform erscheinende, englisch sprachige Darstellung der
Freinet-Pädagogik, verfaßt von den beiden nordamerikanischen
Erziehungswissenschaftlern W. B. Lee und J. Sivell (2000) nicht mit dem obligaten
Kriegserlebnis und seinem vermuteten Einfluß auf die pädagogische Praxis, sondern
mit einer noch stärkeren Verklärung der Person, indem sie einleitend den Film L’école
bussionnière (1949) von J.-P. Le Chanois vorstellen. Den Autoren gelingt es jedoch,
ausgehend von dieser extremen Stilisierung, die (in Europa vorherrschenden) Klischees
eins nach dem anderen abzubauen und einen dem amerikanischen Leser fast
unbekannten Pädagogen4 nahezubringen. Diese ungewohnte, aber sehr interessante
Rezeption zeigt die sehr starke kulturelle Gebundenheit und auch die je spezifische
Aufnahme der Arbeiten von Célestin Freinet. Ich werde mich im Weiteren auf die
deutsche und französische Rezeption des Werkes von Célestin Freinet beschränken.
Unterschiede in der Aufnahme von Célestin Freinet bedeuten dabei keine Wertung
meinerseits. Ich werde versuchen, Erklärungsmomente für diese Differenzen
aufzuzeigen.
Da die Lebensgeschichte mittlerweile allgemein bekannt und auch auf Internet
zugänglich ist, selbst die Biographie der Tochter Madeleine FREINET (1997) keine
grundsätzlichen neuen Erkenntnisse liefert und die Originalschriften Célestin Freinets
mittlerweile auch auf Deutsch zugänglich sind5, erscheint es mir nicht notwendig, seine
Lebensgeschichte erneut ausführlich und chronologisch darzustellen, sondern nur einige
mir wichtig erscheinenden Punkte der deutschen und französischen
Rezeptionsgeschichte näher zu beleuchten.
2. Célestin Freinet: ein pädagogischer Eklektiker
Zunächst der soziokulturelle und politische Kontext, in dem Célestin Freinet steht: Das
Gerald SCHLEMMINGER (1996), Renate KOCK (1996). Allgemeinere Schriften sind: Victor
ACKER (2000), Jochen HERING / Walter HÖVEL (Hrsg. 1996), Anne Marie MILON -
OLIVEIRA (1996); Biographien wurden verfaßt von Michel BARRÉ (1995 / 96) und Madeleine
FREINET (1997). Des weiteren sind zu nennen Veröffentlichungen von französischen
Originaldokumenten: Michel BARRÉ(1996) und École Émancipée (1996) als auch Berichte von
Mitstreitern, ehemaligen Schülern usw. von Célestin und Élise Freinet wie: René FREGNI (1994),
Jacques MONDOLONI (1996), Michel BARRÉ(1997), LES AMIS DE FREINET (1997) und
Übersetzungen der Originalschriften ins Deutsche: vor allem Hans JÖRG / H. ZILLGEN (Hrsg.)
(1997 / 2000).
4 Der erste amerikanische Artikel über Célestin FREINET ist W. B. LEE (1977). Die ersten
Übersetzungen der Freinet-Schriften sind: John SIVELL (1990) (1993), John SIVELL / David
CLANDFIELD (1990). – Ein europäischer Leser erfährt in diesem Buch über Célestin Freinet
nichts, was nicht schon bekannt ist, jedoch ist die Sichtweise oft ungewohnt und überraschend, so
z.B. die Einteilung der französischen Freinet-Bewegung in die Flügel der eher “konservativen”
Materialentwickler und den “fortschrittlichen” Flügel der sozial engagierten Pädagogen.
5 siehe Hans JÖRG / H. ZILLGEN (Hrsg.) (1997 / 2000). ausführliche Übersetzungen in
italienischer, spanischer und portugiesischer Sprache liegen schon länger vor, vgl. die Bibliographie
von Gerald SCHLEMMINGER (1996 a) und die internationale Online-Bibliographie/ :
<http:www.freinet.com> => Bibliographie.
- 3 -
öffentliche französische Volksschulwesen ist in den 20er Jahren, besonders auf dem
Lande, in einem sehr desolaten Zustand (mit 40 Schülern überfüllte Klassen, schlechter
baulicher Zustand usw.). Das erklärt sich u.a. dadurch, dass der Unterhalt und der Bau
der Schule von der Gemeinde abhängt. Wenn im noch sehr lebendigen Schulstreit
zwischen Kirche und Staat die gewählten Volksvertreter6 eher auf der kirchlichen Seite
stehen und nicht die öffentlichen, sondern die privaten, katholischen Schulen
unterstützen wollen, dann sind trotz staatlicher Schulgesetzgebung Konflikte zwischen
republikanisch-laizistischen LehrerInnen und der Gemeindevertretung und ihren
Honoratioren nicht ausgeschlossen. Außerdem muß der jungen LehrerInnengeneration,
die sehr politisiert aus dem 1. Weltkrieg zurückgekommen ist und sich aktiv in den
Gewerkschaften und linken Parteien engagiert, Rechnung getragen werden. Hinzu
kommt das Wirken der (ersten) Reformpädagogikbewegung, die in Frankreich auch in
der Tradition der Pariser Commune steht und sich besonders in anarchistisch bzw.
anarchosyndikalistisch orientierten Schulversuchen – wie z.B. dem Waiseninternat
“Cempuis” von Paul Robin (1837 - 1912) und dem Landheim “La Ruche” (1904 -
1917) von Sébastien Faure (1858 - 1942) – ausdrückt, die aber heute in Vergessenheit
geraten sind. Schließlich experimentieren viele französische LehrerInnen mit neuen
Techniken und Unterrichtspraktiken. René Daniel erarbeitet mit seinen 92 Schülern in
Trégunc (Finistère) schon seit 1921 freie Texte und polykopiert sie Mithilfe von
Gelantineplatten. Ein anderer gewerkschaftlich organisierter Bretone, Jean Cornec,
macht schon zu Beginn der 20er Jahre mit seiner Klasse Erkundungen außerhalb der
Schule, druckt und führt Gruppenarbeit und Filmvorführungen in seiner Klasse ein7.
Auf internationaler Ebene werden auf den Treffen und Kongressen ähnliche
Experimente, so die deutsche Praxis des freien – künstlerischen – Ausdrucks (A.
Lichtwark), des freien Aufsatzes (P. G. Münch, A. Jensen, W. Lamszus…), die
Schulgazetten, die der polnische Arzt Janus Korczak in seinem Waisenheim mit den
Kindern herstellt, u.v.m. diskutiert.
In dieser gesellschaftspolitischen Umwelt und im regen intellektuellen Austausch mit
seinen KollgeInnen steht Célestin Freinet, als er in den 20er Jahren selbst die
Schuldruckerei, den freien Text, die Klassenkorrespondenz und die
Selbstlernmaterialien in seinen Klassen einführt. Célestin Freinet ist somit weder der
einzige, noch der erste, der diese Techniken in seinem Unterricht benutzt. Betrachten
wir die Biographien der führenden Reformpädagogiker dieser Zeit so wird ersichtlich,
dass diese auf dem Höhepunkt ihrer Laufbahn stehen, ihre Hauptwerke geschrieben
haben oder gerade schreiben, ihre Schule eröffnet haben usw., während Célestin Freinet
gerade ins Berufsleben tritt. Er zählt also erst zur zweiten Generation der
Reformpädagogen dieser Zeit; seine wichtigsten Schriften kommen nach 1945 heraus.
6 Volksvertreterinnen gibt es erst ab 1947, als die Frauen erhalten das aktive und passive Wahlrecht
erhalten.
7 Vgl. Jean CORNEC (1981, S. 28 - 32).
- 4 -
Wie schon angedeutet, setzt die Mythosbildung um Célestin Freinet in dieser Zeit ein.
D. Hameline (1994) hat dies beispielhaft in einer historischen Analyse des
Verhältnisses des Schweizer Reformpädagogen A. Ferrière zu Célestin Freinet
ausgeführt und aufgezeigt, wie letzterer nach dem 2. Weltkrieg seine eigene Geschichte
nachschreibt und versucht, sich in die Nachfolge der “großen” Pädagogen einzureihen.
Diese Tendenz zur (eigenen) Stilisierung ist ein Bestand der Geschichte der Pädagogik
und relativ häufig anzutreffen. Aber auch wenn Célestin Freinet nicht die Freinet-
Techniken “erfunden” hat, schmälert dies nichts an der Leistung, wie er die Techniken,
die er in der pädagogischen Debatte seiner Zeit vorgefunden hat, langsam zu einem
eigenen Volksschulkonzept verarbeitet hat. Der genuine Anteil seiner Arbeit liegt in
seinem organisatorischem Talent, in seiner sehr pragmatischen Art und Weise, an
Lernen und Unterricht herangegangen zu sein und aus unterschiedlichsten
“Versatzstücken” sich sehr eklektisch ein dann doch sehr kohärentes pädagogisches
Gebäude erbaut zu haben. Er hat es verstanden, dies mit seinem in den 20er und 30er
Jahren kommunistisch orientierten Weltverständnis zusammenzubringen und in
politisches Handeln umzusetzen.
3. Pädagogik und Politik bei Célestin Freinet
Auch wenn er im engeren Sinne kaum parteipolitisch aktiv war, so zeigt sich sein
Engagement nicht nur in den pädagogisch-politischen Artikeln, die er u.a. in der
Gewerkschaftszeitung École émancipée und im L’Éducateur [prolétarien]
veröffentlicht, sondern auch in der Aufnahme der Flüchtlingskinder spanischer
Republikaner in seiner Internatsschule (ab 1937), in seinem Versuch, eine “Front des
Kindes” (in Anlehnung an die Volksfront) zu schaffen, in seinem Engagement für die
Erneuerung des Volksschulabschlusses “Certificat d’études” (1937), an seiner
Teilnahme an der staatlichen Schulreform nach dem 2. Weltkrieg, in seinem Kampf für
Klassen mit nur 24 SchülerInnen, in seinem Einsatz gegen den (beginnenden)
Vietnamkrieg (1951) u.v.m.
Célestin Freinet wird 1920 Mitglied in der anarcho-syndikalistisch orientierten
Lehrergewerkschaft “Fédération Unitaire de l’Enseignement”. Er ist von 1926 bis 1948
Mitglied der Kommunisten Partei Frankreichs. In der Gewerkschaft gehört er zwar der
kommunistischen Minderheitsfraktion “Minorité Oppositionnelle Révolutionnaire”
(M.O.R.) an, ist jedoch mehr pädagogisch als politisch-gewerkschaftlich engagiert; die
LehrerInnen-Kooperative C.E.L. löst sich auch zunehmend von der
Lehrergewerkschaft, wie die Entwicklung der Mitgliederzahlen zeigt (vgl. Abbildung 2
- 4). Célestin Freinet vertritt – bevor er stärker von der sowjetischen Pädagogik
beeinflußt wird – die anarcho-syndikalistische These, dass die kapitalistische Schule
schon hier und jetzt und nicht erst nach der politischen und gesellschaftlichen
Revolution verändert werden muß. Er folgt aber nicht der anarchistischen, sondern der
- 5 -
– damals bolschewistischen – Auffassung, dass der Revolution auf dem politischem
Gebiet eine Übergangsphase mit Zwangscharakter folge müsse (Célestin Freinet 1920).
Seine Reise in die Sowjetunion 1925 bestärkt ihn vermutlich noch darin, in der UdSSR
lange Zeit das Vorbild – auch in Erziehungsfragen – zu sehen. Bis 1936 gibt es in der
Zeitschrift der LehrerInnen-Kooperative L’Éducateur prolétarien eine Rubrik
“Documentation internationale”, in der fast ausschließlich die sowjetische Schule
vorgestellt wird. Erst nach einer heftigen, aber offenen Auseinandersetzung in dieser
Zeitschrift im Jahre 1936 mit einigen Kameraden über den repressiven Charakter der
Schule in der UdSSR (die besonders nach der Stalinisierung des Bildungswesen ab
1932 eingesetzt hat) verändert sich seine Einstellung zum Modellcharakter der UdSSR.
Die besagte Rubrik verschwindet ab Herbst 1936 langsam aus der Zeitschrift, die
pädagogischen Beziehungen mit der Sowjetunion brechen ab und die oft erwähnte
Klassenkorrerspondenz in Esperanto mit der Ukraine hört auf8.
Das Thema der kommunistische Pädagogik tritt noch einmal zu Tage in einem
öffentlichen Konflikt zwischen Célestin Freinet und der kommunistischen Partei
Frankreichs, der vier Jahre anhält (1950 - 1954)9. Der Hintergrund sind die Neuordnung
der Gewerkschaften nach dem Krieg und der Versuch der P.C.F., einen stärkeren
Einfluß auf die Volksschullehrergewerkschaft zu gewinnen; die Ursachen sind
ideologische Differenzen. Die P.C.F. hat in Anlehnung an die KPdSU und zum Aufbau
der Volksfront 1936 den Kampf für eine “revolutionäre Volksschule” (als Gegenstück
zur Schule der Bourgeoisie) aufgegeben zugunsten der Verteidigung des Schulkonzepts
der 3. Republik, d.h. einer “progressiven” laizistischen Schule, in dem zwar
“fortschrittliche Inhalte” und die Einbeziehung der Werte der Arbeiterbewegung
gefordert werden, das aber die Schule mit ihrem enzyklopädischen und kognitiv
ausgerichteten Wissensbegriff sowie ihr Selektionsverfahren (“Auswahl und Förderung
der republikanischen Elite”) beibehält. Célestin Freinet hingegen verteidigt weiterhin
das Prinzip, dass die (Volks-) Schule jetzt und in ihren Grundwerten, d.h. in Bezug auf
Wissensvermittlung und ausgehend vom Kinde, verändert werden muss.
Auch wenn manche Rezipienten das politische Element der Freinet-Pädagogik mindern
woll(t)en, das politisches (Selbst-)Verständnis der Pädagogik und Erziehung Célestin
Freinets kann nicht zur Diskussion stehen; die Belege sind hier eindeutig. Gerade
deswegen wirft sich die Frage auf, wie es sich erklären läßt, dass die Freinet-Pädagogik
von manchen Forschern und auch Gruppierungen wohlwollend rezipiert und auch
praktiziert werden kann, die den politischen Aspekt ausblenden oder aber ein ganz
anderes politisches Selbstverständnis haben. So finden z.B. in den 60er und 70er Jahren
in Frankreich die Freinet-Techniken in einigen Jesuitenschulen eine Anwendung (cf. P.
8 Zu einer ausführlichen Darstellung dieser Auseinandersetzung vgl. Luc BRULIARD / Gerald
SCHLEMMINGER (1996 /: Kap. 10). Zur Beziehung von Célestin Freinet zur Ukraine, siehe auch
Irina SOURZHIKOVA (2000), dieser Artikel enthält auch eine Bibliographie der ins Ukrainische
übersetzten Artikel von Célestin Freinet.
9 Die treffenste Analyse ist wohl von Jacques TESTANIÈRE (1981).
- 6 -
FAURE 1979, M. Feder 1980); diese Internatsschulen haben ein elitäres Weltbild und
erziehen Kinder nach dem Weltbild des konservativen Großbürgertums.
Renate Kock (1996) versucht, Célestin Freinet auf das – von der Autorin als
fortschrittlich interpretierte – Volksfront-Modell der kommunistischen Partei
Frankreichs (P.C.F.) und auf ihr Laizismuskonzept festzulegen. Es handelt sich bei dem
Laizismus um einen für die 3. Französische Republik typischen Kampf der
Säkularisierung der Schule, der mit den Schulgesetzen von Jules Ferry (1881 - 1882)
einsetzt und der für die öffentliche Schule u.a. parteipolitische und religiöse Neutralität,
Schulpflicht und schulgeldfreie Beschulung forderte und auch durchsetzte. Dieser
Erklärungs- und Einordnungsansatz greift aber zu kurz: Zwar gehört Célestin Freinet zu
den jungen “schwarzen Husaren der Republik”, wie die Volksschullehrer oft genannt
wurden, die die öffentliche Volksschule auch gegenüber konservativer Schulverwaltung
verteidigten und ihre Verbesserung forderten. Seine Schriften zeigen aber, dass er in der
idealistischen Tradition der Pädagogik von Rousseau, Pestalozzi, Fröbel usw. steht, die
zur puerozentrischen Ausrichtung der ersten Reformschulbewegung führte. Die
grundlegendste und wohl meist gedruckte Schrift L’École moderne française10 ist eine
Anklage gegen die miserablen Bedingungen der öffentlichen Volksschule, die nicht
kindgerecht erzieht und – wie der Untertitel “Guide pratique pour l'organisation
matérielle, technique et pédagogique de l'École Populaire” schon andeutet - eine genaue
organisatorische und materielle Aufzählung und Darstellung enthält, wie er seine
“Schule des Volkes” anders aufgebaut und welche neuen Techniken er eingeführt hat.
Diese praktischen Hinweise haben auch heute noch nicht ihre Bedeutung verloren. Es
sind hilfreiche Vorschläge, die Klasse und das Lernen anders zu organisieren, sie sind
aber keine marxistische Herleitung von Schule und Erziehung (wie es z.B.1936 die
P.C.F. unternommen hat). Sein Bezugspunkt ist das Kind, eine Erziehung vom Kinde
aus, die er ideologisch in den größeren Zusammenhang einer “proletarischen” und
später einer “Volkserziehung” stellt.
Noch offensichtlicher wird seine Position in seinem Buch L'Education du Travail
(1947). In seinem Konzept der Arbeitsschule, das er hier entwickelt, unterscheidet er
sich einerseits von rein idealistischen Ansätzen wie dem von G. Kerschensteiner – der
Kinder der Arbeiterklasse handwerkliche Arbeit zuschreibt, da diese praktische Arbeit
ihnen näher liege und ihnen besser die Werte von Leistung und Tugend vermitteln
könne als abstraktes Lernen – und dem von A. Ferrière, der auf den geistig-ethischen
Wert der Arbeit abzielte, und anderseits von dem Begriff der marxistisch hergeleiteten
Industriearbeit, wie P. P. Blonskij ihn entwickelt. Célestin Freinet hat eher einen
entwicklungspsychologischen Arbeitsbegriff: Lernen erfolgt durch Arbeiten, wobei dies
als Grundtätigkeit jedes Menschen zur Aneignung und spontanen Neuorganisation von
Erfahrung in der sozialen Umwelt und in der Schule gefaßt wird und damit zur
10 1944 zum ersten Mal herausgegeben, dann vielfach nachgedruckt und 1969 – zusammen mit den
1964 verfassten Invariants pédagogiques – unter dem Titel Pour l'école du peuple veröffentlicht.
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Entwicklung des Kindes beiträgt. Die Aufgabe der Lehrperson ist es, ein positives
Lernumfeld zu erstellen – seine Techniken wie Druckerei, freier Ausdruck,
Korrespondenz, Zeitung usw. gehören dazu –, aber möglichst wenig in den
eigentlichen, spontanen Lernprozess einzugreifen. Dieses Lernkonzept entwickelt er
dann in Essai de Psychologie sensible appliqué à l'éducation (1950) weiter, indem er
u.a. den Begriff des “tâtonnement expériemental”, des entdeckenden und forschenden
Lernens prägt.
Mit diesem Begriff von Arbeit und der Erziehung vom Kinde aus steht Célestin Freinet
nicht allein, andere vor ihm haben ihn, wenn auch nicht mit dieser pragmatischen,
technisch-pädagogischen Praxisorientierung und Ausführung, vertreten, wie die
anarchistischen Hamburger Lehrer zu Beginn der 20er Jahre (vgl. J.-R. Schmid 1971),
wie auch der "Kommissar für das Volksschulwesen" H. Scharrelmann, der später mit
den Nationalsozialisten zusammenarbeitet11. Es ist also ein methodischer Fehlschluß zu
glauben, dass sich ein (gesellschafts-) politisches und ideologisches Engagement, das
bei Célestin Freinet und vielen anderen ReformpädagogInnen zu finden ist, notwendig
und zwingend aus einem Pädagogikentwurf und seinen Innovationen herleiten lasse.
Die Freinet-Pädagogik läßt sowohl humanistisch-pädagogische als auch sozialpolitische
Lesarten zu12, wie es die Entwicklung der deutschen Freinet-Pädagogik mit dem
“Arbeitskreis der Schuldrucker” und der “Freinet-Kooperative” nur zu gut zeigt.
5. Einige Arbeitschwerpunkte von Célestin Freinet, sein
methodisches Vorgehen, seine pädagogischen Konzepte
Angesichts der großen Anzahl seiner Veröffentlichungen ist es wohl nicht falsch,
Célestin Freinet als einen sehr aktiven, viel schreibenden Autor zu bezeichnen, und es
ist nicht ganz einfach, diese Masse zu ordnen. Betrachten wir die Themen, die Célestin
Freinet in seinen Schriften und Artikeln anschneidet (siehe Abbildungen 5)13, so zeigt
sich, dass er sich zeitlebens mit den Grundtechniken (Drucken, Selbstkorrekturkarteien,
Korrespondenz, Arbeitsplan…) und ihrer Verbesserung auseinandersetzt, aber auch die
für die Zeit jeweils neuen Technologien auf ihre Tauglichkeit für einen aktiven Umgang
in der Schule geprüft hat, wie die Schallplatte, den Film, das Radio usw. Die Tonband-
Reportage hat hier schon früh eine besondere Bedeutung erlangt, die u.a. zur
Herausgabe der Reihe BT-Son (lange Zeit von Daniel Guérin geleitet) und in den 80er
Jahren zur Gestaltung von eigenen Radiosendungen führte (vgl. G. Bellot / J. Brunet
1989).
11 Vgl. D. HAGENER (1973, S.95, Anmerkung 564), zitiert nach A. RANG / B. RANG-DUDZIK
(1978, S.43).
12 … und sicherlich noch weitere, wie z.B. die existenzphilosophie Rezeption Freinets von
Peter TEIGELER (1992) zeigt.
13 Die Bibliographie sämtlicher Bücher und Broschüren befindet sich im Anhang 2, die Liste aller
Artikel ist von Halina SEMENOWICZ (1986) – leider etwas fehlerhaft – erstellt worden.
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Célestin Freinet hat sich immer wieder mit methodischen Fragen, wie der natürlichen
Methode, dem forschenden Lernen, dem Platz des Schulbuchs beim Lernen, den
Interessenszentren der Kinder (“centre d’intérêt” / “complexe d’intérêt”)
auseinandergesetzt. In seinem psychopädagogischem Hauptwerk Essai de Psychologie
sensible appliqué à l'éducation (1950) versucht er, seine Konzepte ausführlich
darzustellen und zu begründen und baut sie 1953 zu einem “profil vital” des Kindes und
seiner Entwicklung aus (vgl. Célestin Freinet 1953), indem er 129 verschiedene
Faktoren miteinander korreliert. In seinem Hauptwerk stellt er besonders die seines
Erachtens aus schlechter pädagogischer Praxis entstehenden Störungen wie Dyslexie,
schulische Anorexie, Enurese (Bettnässen), Stottern, u.v.m. dar, denen er seine eigenen
pädagogischen und erzieherischen Konzepte entgegenstellt.
Sein Schrifttum zeigt auch die Ausweitung seiner Pädagogik über die Grundschule
hinaus. Nach dem 2. Weltkrieg widmet er sich nicht nur verstärkt den einzelnen
Schulfächern (Mathematik-, Musik- Sportunterricht), sondern anderen bzw. neuen
Schulformen (Sekundarstufe, Stützklassen) und zeigt sich gegenüber neuen
pädagogischen Entwicklungen immer offen, auch wenn manche von ihnen nach dem
Ausprobieren in der Klasse in eine Sackgasse führen sollen und dann fallen gelassen
werden. Ein Beispiel dafür ist die zu Beginn der 60er Jahre aufkommende pädagogische
Debatte um das programmierte Lernen, für das sich Célestin Freinet sehr interessiert. Er
entwickelt und vertreibt dann über die C.E.L. die sog. “bandes enseignantes”,
Abrollbänder, auf denen Fragen und Antworten zu einem Thema stehen, die die Schüler
“automatisierend” lernen sollen. Diese dem behavioristischen Lernmodell folgenden
Praktiken stehen dem Lernkonzept, das Célestin Freinet selbst in seiner Schrift Les
méthodes naturelles dans la pédagogie moderne (1956) entwickelt hat, diametral
entgegen und stoßen in der Freinet-Bewegung und auch bei Élise Freinet auf heftigste
Kritik. Célestin Freinet muß auf dem Kongreß der I.C.E.M. in Annecey (1964) seine
Position revidieren, um eine Spaltung der Bewegung zu vermeiden – und die
Abrollbänder werden aus dem Angebot der C.E.L. herausgenommen.
Diese kurzen Eindrücke aus seinen Schriften können seine Aufgeschlossenheit und
Vielseitigkeit nur andeuten. Sie dürfen jedoch nicht über den ideologisch-
philosophischen sowie soziobiographischen Hintergrund und die Zeitgebundenheit
hinwegtäuschen, auf dem Célestin Freinets intellektuelle und pädagogische Tätigkeit zu
sehen ist. Das obige Beispiel zeigt zwar seine Fähigkeit, eigene pädagogische
Fehlentwicklungen einzugestehen und daraus Konsequenzen zu ziehen. Es steht aber
auch für die andere Tendenz. Einige weitere Experimente, die heute vergessen sind, da
sie in pädagogischen Sackgassen endeten (und vielleicht auch, weil sie der
Mythosbildung abträglich waren), mögen dies aufzeigen. Dazu gehört die von M.
Violet entwickelte Technik des vibrierenden Wassers (“l’eau vibrée”): mit
Elektrodenströmen behandeltes Wasser soll positiv auf den Organismus wirken.
Célestin Freinet hat versucht, es in seinem Landschulheim einzuführen, scheinbar ohne
- 9 -
großen Erfolg. Einen ähnlichen Ausgang hatten die mehrere Jahre andauernden
Versuche mit der Hörmuschel (“l’Aurelle”) eines gewissen Dr. Tomatis: Das Hören von
frequenzmodulierten Sprachaufnahmen sollte das Sprechverhalten verbessern und
Sprachstörungen aufheben. Es gibt heute noch diese Fotos, die Kinder zeigen, die
aufmerksam diesen Tonbändern lauschen. Es wäre falsch, dieses Experimentieren
vorschnell als skurril abzutun, nur weil es in diesen Fällen erfolglos war. Es zeigt
vielmehr das methodische Vorgehen von Célestin Freinet und sein stark
instrumentalistisch-positivistisch geprägtes Verständnis von Technik. Dieser Ansatz ist
auch heute noch in der Freinet-Bewegung vorzufinden. So verteidigen LehrerInnen z.B.
ihre Entscheidung, die Druckpresse nicht mehr zu benutzen, mit dem technologischen
Fortschritt – der Computer habe die Presse überholt – und nicht mit pädagogischen
Argumenten, die diese Technik hinfällig machen würden14.
Ich möchte an einem weiteren Beispiel vertiefen, wie sich Célestin Freinet fremde
Konzepte erarbeitet und sich zu eigen macht. Das Zusammenwirken von politischem
Vorverständnis und pädagogischer Technik, aber auch die immer wieder auftauchende
Debatte um den Behaviorismus und seinen Stellenwert in einer kindgerechten
Pädagogik werden hier klarer. Das Beispiel ist die Konzeption und praktische
Entwicklung der ersten Rechenkartei. Die Diskussion um die “pédagofiche”, um
“Studiometrie” usw., also das, was wir heute als Selbstlernmaterialien bezeichnen, geht
auf die 20er Jahre zurück. So entwickelt und experimentiert u.a. der Schulrat der
öffentlichen Schulen von Winnetka (U.S.A.), Carl Wasburne, in dieser Zeit ein ganzes
Programm Selbstlernübungen für den individualisierten und programmierten
Rechenunterricht, das er unter dem Namen “Winnetka-Methode” veröffentlicht. Über
Vorträge auf Kongressen und über einige Zeitschriftenartikel Anfang der 30er Jahre
erfährt auch die sich zu der Zeit noch als “Schuldrucker” bezeichnende
LehrerInnengruppe um Célestin Freinet von diesen Praktiken. Die ersten Reaktionen
lassen nicht auf sich warten, wo sich Ideologie, Pädagogik und Polemik vermischen.
Célestin Freinet schreibt 1932 :
Die Winnetka-Technik ist unserer Meinung nach eine der jüngsten und
vollendetsten Ergebnisse kapitalistischer Pädagogik, dessen Ziel es ist, die
Leistung zu erhöhen und Wissen anzuhäufen, ohne dass sich jemand
genauer darum kümmert, wie dieses Wissen nun seine menschliche
Anwendung findet.” (Célestin FREINET 1932 : 141)15.
Des weiteren kritisiert Célestin Freinet die trockene “Fließbandarbeit”, die diese
Methode auf “völlig überfüllten Seiten” fördert – die “Winnetka-Methode” lag in
Heftform vor –, wo nicht einmal die Kontrolltabelle fehle. Diese spannend zu
verfolgende Auseinandersetzung wird in der Pädagogik-Kooperativbewegung und ihren
14 Es sei daruf hingewiesen, das Célestin Freinet in seinen späteren Schriften, z.B. La lecture par
l'imprimerie à l'école (1952), die Schuldruckerei pädagogisch begründete.
15 Die Übersetzung aller französischen Zitate ist von mir.
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Zeitschriften über fast ein Jahrzehnt geführt (1932 bis Kriegsbeginn) – und 1936
kommt in der LehrerInnen-Kooperative die Rechenkartei “Fichier Washburne - C.E.L.
(multiplication - division)” mit 350 kartonierten Übungs- und 350 Antwortblättern
heraus, die mehrmals überarbeitet bis in die 80er Jahre16 immer wieder neu aufgelegt
wird, da die Nachfrage nach dieser Kartei sehr groß war. Der Weg zu dieser
französischen Übersetzung und Überarbeitung der amerikanischen Version war jedoch
lang und sehr komplex. Hier seien nur die Hauptstränge der pädagogischen Seite der
Diskussion kurz angedeutet17: Auf der einen Seite die Gegner dieser Art von Kartei, die
hervorheben, dass sie auf einem behavioristischen Lernkonzept beruhe, das
individuelles Lernen nicht ermögliche, das nicht der Heterogenität von Lerngruppen
Rechnung trage, das eine langsame Konstruktion von Wissen über tastende Versuche
nicht ermögliche, sondern nur auf den Wiederholungserfolg baue und das keine
Verbindung zum realen Leben habe. Auf der anderen Seite die Befürworter, die schon
konkrete Rechenbeispiele, ihre Graduierung, den Aufbau von Selbstlernkarteien usw.
diskutieren. Das Grundproblem bleibt für Célestin Freinet – selbst wenn individuelles,
selbstgesteuertes Lernen zum Eintrainieren von (Rechen-) Routinen behavioristische
Lernformen rechtfertigen mag – das der Motivation d.h. aus welchen Beweggründen
der Schüler zur Arbeit mit dieser Kartei greifen soll. Bei dieser Debatte verliert er aber
nicht den pragmatisch geschäftlichen Aspekt aus dem Auge und schreibt 1934:
“[…] Dann müssen die Mechanismen der Rechenoperationen
herausgearbeitet werden. Hierzu ist unter der Leitung von Washburne in
Winnetka ein in der Welt einzigartiges, wertvolles und kooperativ
erarbeitetes Produkt herausgekommen. Wir18 haben dafür in Frankreich die
Exklusiv-Abdrucksrechte erhalten. Wir werden es überarbeiten und es auf
[kleinen] Karteikarten drucken, so wird die Freiarbeit mit diesem Material
erleichtert.” (Célestin Freinet 1934, S.557)
Doch die Anhänger der “natürlichen Methode” – die vertreten, dass das Kind Rechnen
ohne zusätzliches Training und ausreichend in der Klasse lernen kann, wenn diese nur
ein reiches und breitgestreutes Angebot von Aktivitäten ermöglicht – geben so leicht
nicht auf und werfen den Karteimachern “reaktionäres Verhalten” vor, so dass die
C.E.L. die erste Ausgabe der Kartei unterbrechen muß. Célestin Freinet muß sich
wiederholt für die “Winnetka-Methode” einsetzten und erklären, dass die “natürliche
Methode” und die von C. Washburne sich nicht ausschließen, sondern sich sinnvoll
ergänzen: die erste führe eigentlich in mathematisches Denken ein, die letztere diene
dazu, die Techniken dieses Denkens zu festigen und abzusichern. Erst jetzt kann die
Kartei herauskommen. Dieser implizit vorhandene Widerspruch des Lernkonzepts in
16 In dieser Zeit entsteht die neue Rechenkartei, die mit den Nachahmungsprinzipien bricht und auf die
neueren Erkenntnisse der Lernpsychologie aufbaut, die von den mentalen Vorstellungen der
SchülerInnen über Zahlen und vom konkreten Umgang damit ausgeht.
17 Für eine ausführlichere Darstellung siehe Gerald SCHLEMMINGER (1994).
18 Es ist der übliche Schreibstil Célestin Freinets, immer in Pluralform für die LehrerInnen-
Kooperative C.E.L. zu sprechen.
- 11 -
der Freinet-Pädagogik tritt auch heute noch manchmal zutage, wenn wir z.B. das sehr
unterschiedliche Verhalten der deutschen und der französischen Freinet-Bewegung zu
den Selbstkorrekturkarteien betrachten. Es genügt dabei, in die jeweiligen
Verlagsprogramme zu schauen oder die deutsche Rezeption der (erneuten und
interessanten) französischen Diskussion um die Mathematik zu sehen (wobei in
Deutschland nur der Teil um den “freien mathematischen Text” von Paul Le Bohec
rezipiert wird)19.
5. Célestin Freinet und die etablierte Forschung in den
(Erziehungs-) Wissenschaften
Bei aller Belesenheit von Célestin Freinet – und sie ist immens, wenn wir nur seine
unzähligen Buchbesprechungen in dem L’Éducateur (prolétarien) betrachten – ist
jedoch festzustellen, dass er trotz solider philosophischer Volksschullehrerausbildung in
Bezug auf Wissenschaft und wissenschaftliches Arbeiten wie viele seiner KollegInnen
in der LehrerInnen-Kooperative ein Autodidakt ist. Auch wenn einige Rezipienten dies
gern bestreiten, so läßt es sich doch mehrfach nachweisen. Dabei ist hier weniger die
Frage von Interesse, wie und wieviel Wissen sich Célestin Freinet angeeignet hat,
sondern vielmehr wie er mit Wissen und wissenschaftlicher Erkenntnis umgeht. In
seinen Buchbesprechungen und Artikeln fällt zunächst ein bestimmter Diskurstypus
auf, der dominierend ist: Entweder wird die wissenschaftliche Erneuerung als für die
(Freinet-) Pädagogik entscheidend gelobt – oft um so mehr, je weiter das
Wissenschaftsgebiet von der Pädagogik entfernt ist –, oder aber abgekanzelt, dies auch
um so stärker, je näher es dem pädagogischen Bereich steht. Die wissenschaftlichen
Bezüge haben hier die Funktion des Autoritätsbezugs zur Rechtfertigung eigener
Positionen, werden aber nur selten ausgeführt20. Ein anderes Element ist der oft sehr
bild- und metaphernreiche Stil Célestin Freinets, der besonders stark in Dits de Mathieu
(1949) zum Ausdruck kommt. Er ist nicht nur sehr zeitgebunden, sondern widersetzt
sich wegen einer Tendenz zur Naturmystik auch der wissenschaftlichen
Auseinandersetzung. Dieser Text wird – zumindest in Frankreich – auch deshalb am
wenigsten zitiert, wenn es darum geht, Freinet-Prinzipien darzustellen21.
In Bezug auf seine pädagogischen Konzepte wird gern das Zitat von Jean Piaget
herangezogen:
"[…] Ohne groß auf Theorien zu pochen, ist er [= Célestin Freinet] zu zwei
Wahrheiten gekommen, die sicherlich den wichtigsten Stellenwert in der
Psychologie der kognitiven Entwicklungen haben /: Die Entwicklung der
kognitiven Operationen geht von echten Handlungen im weitesten Sinne
19 siehe z.B. Paul LE BOHEC (1997).
20 Eine ausführlichere Betrachtung dieses in der (französischen) Freinet-Bewegung verbreiteten
Diskurstypus ist zu finden in: Gerald SCHLEMMINGER (1996 b, S.153 - 155).
21 Dass von dieser Schrift mittlerweile drei Übersetzungen neueren Datums auf Deutsch vorliegen,
läßt eventuell Rückschlüsse auf eine andere Rezeption zu.
- 12 -
aus […], denn Logik ist zunächst einmal Ausdruck der allgemeinen
Koordinierung von Handlungen, und diese Koordination beinhaltet
notwendigerweise eine soziale Dimension […].” (Jean PIAGET 1969, S.99)
In der Tat ist Célestin Freinets Pädagogik, wie er sie in Essai de Psychologie sensible
appliqué à l'éducation (1950) darlegt, keine Entwicklungspädagogik im Piaget’schen
Sinne, die also die kognitiven Stufen des Kindes in der Aneignung von Welt aufzeigt.
Sie ist eher eine Darstellung des Zusammenwirkens von sozialer Umwelt und ihrem
Einfluß auf seine psychosoziale Entwicklung. Célestin Freinet hat diesen
Zusammenhang nie theoretisch begründet, sondern immer nur dargelegt. Dazu hätte es
aber einer Auseinandersetzung mit der etablierten Wissenschaft, besonders den
Erziehungswissenschaften bedurft. Sein Verhalten ihnen gegenüber war jedoch – wohl
sozialisationsbedingt – von Mißtrauen geprägt und durch die Argumente gestützt, ihre
Forschung sei scholastisch und praxisfremd. Bekannt ist seine Skepsis gegenüber der
modernen Psychoanalyse; so schreibt er z.B. in dem “21. Entwicklungsgesetz” explizit
gegen diese, dass der “Sexualinstikt in seiner normalen Form nicht vor der Pubertät
einsetzt”22. Als in den 60er Jahren die Human- und besonders die
Erziehungswissenschaften immer stärker von den Mitgliedern der Freinet-Bewegung
rezipiert werden und auch die Forderung aufkommt, die Ergebnisse in die Freinet-
Pädagogik mit einzubeziehen, kommt es zu scharfen Konflikten. Célestin Freinets
Verhalten kann in der Verteidigung der “wahren Freinet-Pädagogiklehre” hier nicht
anders als sektiererisch bezeichnet werden, als er persönlich 1961 und 1965 Mitglieder
der Pariser Freinet-Gruppe ausschließt23. Die erste Spaltung führt zur Entstehung der
psychopädagogisch orientierten “pédagogie institutionnelle” um F. Oury; die ab den
70er Jahren auf der Schulebene und in Veröffentlichungen von SchülerInnen-
Monographien24 sehr aktiv wird, das Konzepte wie das des Klassenrates, der
Kleingruppe usw. weiterentwickelt; Teile dieser Bewegung gliedern sich Ende der 70er
Jahre wieder in die offizielle Freinet-Bewegung / I.C.E.M. ein. Die zweite Spaltung
führt zur Gründung der “socioanalyse institutionnelle”, die um G. Lapassade, M.
Lobrot, Remi Hess an der (Experimentier-) Universität von Vincennes (heute
“Université Paris VIII- St.-Denis”) sozialpädagogisch sehr aktiv wird und auch mehrere
Lehrstühle in den dortigen Erziehungswissenschaften einnimmt25.
In der Tat tun sich Célestin Freinet und die (französische) Freinet-Bewegung mit
wissenschaftlicher Diskussion schwer. Zwar gründet Célestin Freinet 1959 gerade zu
diesem Zwecke die Zeitschrift Techniques de Vie; jedoch schon ab 1962 schreibt kein
22 Zitiert nach Célestin FREINET (1994,S.476).
23 Zur ausführlichen Darstellung dieser Konflikte siehe Luc BRULIARD / Gerald SCHLEMMINGER
(1996/: Kap. 14).
24 Siehe Gerald Schlemminger (1996 a).
25 Es ist bemerkenswert, dass diese Spaltung und ihre Folgen trotz Übersetzungen (Gabriele
WEIGAND 1983; Gabriele WEIGAND / Remi HESS / Gerald PREIN Hrsg. 1983) von der
deutschen Freinet-Bewegung nicht rezipiert wurden.
- 13 -
einziger Wissenschaftler mehr in diesem Blatt. Unter diesen Bedingungen ist es
verständlich, dass Debatten, wie sie in Deutschland z.B. über ein universitär
anerkanntes Freinet-Diplom stattfinden in Frankreich schwerer vorstellbar sind.
6. …und Élise Freinet?
Élise Freinet verdiente in der allgemeinen Diskussion um die Freinet-Pädagogik
sicherlich eine größere Würdigung. Bekannt sind ihre Bemühungen zur künstlerischen
Entwicklung des Kindes. Sie entwickelte auf diesem Gebiet Techniken und Konzepte,
um das kindliche Wahrnehmungsvermögen zu fördern und zu erweitern, seine
Kreativität und den freien Ausdruck durch das tastende Lernen im künstlerischen
Schaffen (spielerisch) zu entwickeln. Bekannt sind auch ihre Positionen zur
vegetarisch-frugalen Ernährung26 und zur Naturheilkunde, die sie in ihrer
Internatsschule in Vence, die sie offiziell leitete, auch durchsetzte. Weniger bekannt
sind ihre Schriften zur Rolle des Lehrers im Unterricht (Élise Freinet 1963, 1966), wo
sich von Célestin Freinet teilweise unterschiedene Positionen erkennen lassen. Sie tritt
u.a. für ein stärkeres Eingreifen der Lehrperson in den Selbstlernprozess des Kindes
ein27. Auf politischem Gebiet ist sie, da sie aus einer politisch sehr aktiven
Volksschulfamilie kommt, die geschultere von beiden. Sie wird von ZeitgenossInnen
als “Leninistin” beurteilt. Was das im einzelnen auch immer heißen mag, so setzt die
Politisierung von Célestin Freinet erst mit dem Ende des 1. Weltkriegs ein. – Da die
pädagogische Forschung Élise Freinet bisher kaum berücksichtigt hat, hört hier auch
schon der Vergleich der beiden Protagonisten auf. Es bedarf einer ausführlicheren
Sichtung und Analyse der Schriften von Élise Freinet (vgl. die Bibliographie im
Anhang 2). Die Biographie von M. FREINET (1997) Elise et Célestin Freinet. Souvenir
de notre vie zeigt erste Ansätze in diese Richtung.
7. Schlußbemerkung
Nicht nur Élise Freinet bedürfte einer eigenständigen Rezepetion, die die Fokussierung
der Pädagogik auf das Patronym Freinet verhindert hat. Auch andere Themen
verlangten eine vertiefte Untersuchung. Ich will hier nur einige andeuten. So benötigt
der Bezug von Célestin Freinet zu der stark moralisch-sittlich ausgerichteten
Gesellenvereins- und Zunftbewegung (“compagnonnage”) sicherlich eine
Ausführung28. Célestin Freinet bezieht sich nicht nur explizit hierauf, wenn er ihren
26 Vgl. ihr Kochbuch: Élise FREINET (1935).
27 Das (Schüler-)Protokoll einer der ersten Sitzungen der Schulversammlung der Internatsschule in
Vence von Jan. 1936 (abgedruckt in Michel BARRÉ 1996 : 140 - 141) zeigt deutlich, das “Mama”,
wie die SchülerInnen Élise Freinet nenne, auch öffentlich andere Positionen als “Papa”, d.h.
Célestin Freinet in Bezug auf Verantwortung vertritt. So schreibt Élise zum Protokoll selbst einen
längeren Nachsatz, in dem sie erklärt, dass in manchen Fällen die Erwachsenen die Verantwortung
für das Lernen der Kinder haben müssen.
28 Es ist deshalb sehr verkürzt, wie Renate KOCK (1996) es unternimmt, die “laïcité” nur auf einen
politischen Begriff der 3. Republik zurückzuführen. Die französischen Freimaurer – ideell
- 14 -
Wortgebrauch übernimmt, um die Arbeitsergebnisse der Schüler zu qualifizieren
(“brevet”, “chef d’œuvre”, “livre de vie”…). Auch das oft auf die Autodidaxie
verkürzte Konzept der LehrerInnenfortbildung der (französischen) Freinet-Bewegung
entlehnt sich der Tradition der “compagnonnage”, wo berufliche Fertigkeiten und
Wissen durch praktische (Mit-) Arbeit und “Einweihung” (“initiation”) unter Gleichen
vermittelt werden. Es unterscheidet sich von den stark universitär geprägten Konzepten
der Erfahrungsvermittlung im Lehrberuf und macht auch heute noch die Stärke dieser
Pädagogik aus und ist ein Grund für ihren Fortbestand. Es erklärt aber auch, dass trotz
der formaldemokratischen Strukturen die LehrerInnen-Kooperative C.E.L. mehr über
Kooperation denn über Wahl funktionierte, was nicht unerheblich zu einem hohen
Konfliktpotential führte.
Die Entwicklung des Verlagshauses C.E.L. bedürfte sicherlich ebenfalls einer
genaueren Untersuchung, die seine chronischen Finanzprobleme, aber auch die oft
auftretenden Konflikte (z.B. die Affaire Pagès29) und die Beziehungen zu anderen sog.
alternativen Verlagen aufarbeiten müßte. – Ein weiteres Forschungsgebiet wäre die
Untersuchung der Beziehung der (französischen) Freinet-Bewegung zu den beiden
anderen großen LehrerInnenbewegungen: die G.F.E.N., die französische Sektion der
Reformbewegung der Neuen Erziehung “Groupe français de l’Éducation Nouvelle”, die
heute noch besonders in der Sekundarstufe aktiv ist und der C.R.A.P. (“Cercle de
Recherche et d’Action Pédagogique”) und dessen Zeitschrift Cahiers pédagogiques, um
die sich (seit 1945) humanistisch und innovativ orientierte, engagierte LehrerInnen,
hauptsächlich aus dem Sekundarstufenbereich, gesammelt haben. – Ein letztes
Untersuchungsfeld ist sicherlich die historisch-soziologische Analyse der
Mitgliederstruktur der Freinet-Bewegung30, die interessante Aufschlüsse in Bezug auf
die Entwicklung des soziokulturellen und professionellen Einzugsgebiets dieser
Pädagogik, der Motivation und dem Weltbild ihrer LehrerInnen zuließe. – Der
wissenschaftlichen Erforschung der Freinet-Pädagogik, zu der schon der erste Schritt
gemacht worden ist31, stehen somit noch weite Bereiche offen.
hervorgegangen aus der Gesellenvereins- und Zunftbewegung – haben entscheidend zur
Säkularisierung des französischen Staates beigetragen. Dieses Gedankengut und die Bezüge zum
Freimaurertum sind auch noch heute feste Bestandteile des (Volksschul-)
LehrerInnenselbstverständnisses.
29 Vgl. Luc BRULIARD / Gerald SCHLEMMINGER Kap. 12)
30 Erste, partielle Untersuchungen von Henri PEYRONNIE (1994) liegen vor.
31 Siehe die Veröffentlichungen in: Pierre CLANCHÉ / Jacques TESTANIERE (Hrsg.) (1989), Pierre
CLANCHÉ / Eric DEBARBIEUX / Jacques TESTANIERE (Hrsg.) (1994), Herbert HAGSTEDT
(Hrsg.) (1997).
- 15 -
Abbildung Nr. 1: Der erste gedruckte freie Text, der von der Klasse des
Volksschullehrers René Daniel (Bretagne) an die Klasse von Célestin Freinet
geschickt wurde
Abbildung Nr. 2: Mitglieder der Lehrerkooperative C.E.L. im Jahre 1928
- 16 -
Abbildung Nr. 3:Mitglieder der Lehrerkooperative C.E.L. im Jahre 1938
Abbildung Nr 4: Politische Entwicklung Lehrerkooperative C.E.L.,
Entwicklungszahlen der französischen Mitglieder (in weiß) und Anteil derjenigen,
die gleichzeitig auch Mitglied in der Lehrergewerkschaft ““Fédération Unitaire de
l’Enseignement” waren (in grau)
- 17 -
19281929193019311932193319341935193619371938
0
100
200
300
400
500
600
Adhérents à la C.E.L. dont adhérents à la Fédération
de l'Enseignement
Abbildung Nr. 5: pädagogische Veröffentlichungen von Célestin Freinet (1925 -
1966)
Artikel + Schriften
1 Veröffentlichungen zu Techniken
- Selbstkorrekturkartei (1929 - 1963) : 26 + 1
- Arbeitsplan (1929 - 1962) : 20 + 2
- Schuldruckerei (1925 - 1965) : 13 + 5
- Korrespondenz / Schulaustausch (1927 - 1964) : 12 + 2
- Schulzeitung(1939 - 1962) : 12 + 1
- Einzelarbeit / Gruppenarbeit (1938 - 1966) : 11 + 4
- Freier Text ( 1928 - 1962) : 10 + 2
- Audiovisuelle Techniken (1955 - 1966) : 8 + 1
- “Diplom” / “brevet scolaire” (1948 - 1965) : 6
- Erkundungen (1933 - 1949) : 3 + 1
- Limograph (1947 - 1959) : 2 + 1
2 Veröffentlichungen consacrées zu den Schulstufen
- Sekundarstufe 1 und 2 (ab 1946) : 6 + 1
- Stützklassen / “classes de transition” (ab 1963) : 3
- Vorschule (1963) : 1
3 Veröffentlichungen zu einzelnen Unterrichtsfächern
- Naturwissenschaftlicher Unterricht (ab 1946) 26 + 1
- Kunstunterricht (ab 1946) : 14 + 5
- Mathematikunterricht (ab 1947) : 13 + 1
- Musikunterricht (ab 1947) : 3
- Sportunterricht (1961-1962) : 2
4 Veröffentlichungen zu pädagogischen Konzepten
- 18 -
- Zu den Lehrbüchern (1925-1964) : 14 + 2
- Schulkooperative / Klassenversammlung (1932-1962) : 19 + 1
- Natürliche (Lern-) Methode (1930-1965) : 8 + 8
- Interessenzentren / “centres d'intérêt” (1928-1965;
1949: “complexe d'intérêt”) : 7
- Experimentelles Lernen / “ tâtonnement expérimental” (1940-1966) : 15 + 1
5 Veröffentlichungen zu allgemeinpädagogischen Fragen
- Arbeitsorganisation der Klasse (1938): 1
und (1946-1964) : 13
- Disziplin (1930-1940) : 6
und (1948-1963) : 19
- Entwicklung des Kindes / "la connaissance de l'enfant" (1948-1964) : 25 + 1
- Staatsschuld (1945-1955) : 3
- Dyslexie (1950-1962) : 5
- Gedächtnis und Auswendiglernen (1960-1965) : 4
- Unterrichtsfragen (1961) : 1
- Gruppenführung (1960-1965) : 4
- 19 -
Anhang 1
Lebensdaten von Célestin Freinet32
1896: Am 26. Okt. wird Célestin Jean-Baptiste als 5. von 6 Kindern als Sohn von
Marie Victoire Freinet geb. Torcat und Joseph Delphin Freinet in Gars
(Département Alpes Martimes) geboren. Zur Familie gehört auch noch ein
Pflegekind. Die Eltern führen in dem kleinen, abgeschiedenen Dorf einen
Krämerladen zusammen mit einer Bauernwirtschaft33.
1898: Am 14. Aug. wird Élise (spätere Ehefrau von Célestin Freinet) als 3. von 6
Kindern in die Grundschullehrerfamilie von Julie und Claude Lagier-Bruno
in Pelvoux (Hautes Alpes) geboren.
1900: Einschulung von Célestin Freinet in die einklassige Dorfschule.
1908: Célestin Freinet macht den Volksschulabschluss “Certificat d’Études
Priamires”, Eintritt in die weiterführende Schule [École spuérieure] in
Grasse, zunächst 3 Jahre im “Collège Carnot”, dann 1 Jahr auf dem “Lycée
Amiral-de-Grasse”, das die Aufnahmeprüfung zum Lehrerseminar
vorbereitet.
1912: Sekundarschulabschluss “Brevet élémentaire”, Aufnahme in das
Lehrerseminar “École normale d’instituteurs” (16 Plätze pro Jahrgang) in
Nice, das in 3 Jahren auf den Volksschulehrberuf vorbereitet und Abitur
(“Brevet supérieure”) nach 2 Jahren einschließt.
1914: Nov.: Schulabschlussprüfung “Brevet supérieure”, Beginn des
schulpraktischen Jahrs.
1915: April: Abbruch der Ausbildung, Einberufung zum Militärdienst; Okt.:
Ausstellung des Schulabschlusszeugnisses “Certificat de fin d’études
normales”; Ausbildung an der Militärschule in Saint-Cyr.
1916 - 17: Fronteinsatz im Nord-Osten von Paris, wo er am 23. Okt. 1917 verletzt
wird.
1918: Lazarett, Einsatz in der Etappe, Ausmusterung kurz vor Kriegsende.
1919: Einsatz als Aushilfslehrer in kleinen Dörfern des Département Alpes
Martimes, unterbrochen von Krankheitsurlauben; die Politisierung Célestin
Freinets setzt ein. Die Kriegsverletzung führt zur Festanstellung als Lehrer.
1920: Stellvertretender Volksschullehrer an der Jungenschule in Bar-sur-Loup
(Alpes Martimes); Célestin Freinet holt die Prüfung zur Lehrbefähigung
“Certificat d’Aptitude Professionnelle” (C.A.P.) nach. – Er wird Mitglied
der Lehrergewerkschaft “Fédération Unitaire de l’Enseignement”.
1922: Fällt bei der schriftlichen Prüfung zum Französischlehrer an
Lehrerausbildungs- und weiterführenden Schulen (École supérieure
primaire) durch; lehnt Abordnung an die weiterführende Schule in
Brignoles ab; wird pädagogischer Sekretär der Gewerkschaftssektion Alpes
Maritimes; trifft in Deutschland mit Peter Petersen zusammen, besucht die
anarchistischen Schulversuche in Hamburg-Altona.
32 Es handelt sich hier natürlich um eine subjektive Auswahl und Beschreibung der objektiven
Lebensdaten, die meinem Zugang zur Freinet-Pädagogik entspricht. Interessant ist sicherlich der
Vergleich mit den “Biographischen Angaben”, wie Maurice FREINET (1998) sie in der deutschen
Ausgabe der pädagogischen Werke Célestin Freinets ausgewählt hat.
33 Für die Kindheit und Jugend Célestin Freinet ist am ausführlichsten Maurice FREINET (1997).
- 20 -
1923: Trifft mit dem engagierten Pazifisten Henri Barbusse zusammen, schreibt in
seiner Zeitschrift Clarté über die deutschen Schulversuche; nimmt zum
ersten Mal an dem Kongress der Reformpädagogen “Ligue internationale
pour l’Éducation nouvelle” in Montreux (Schweiz) teil; führt die Erkundung
(“classe promenade”) in seiner Klasse ein.
1924: Führt Druckerei, die Technik des freien Textes, die Schulzeitung, Filme
vorführen und drehen (Machart “Pathé-Baby”) ein und schafft Fibeln ab;
kritisch wohlwollender Bericht der Schulratsinspektion; Élise Lagier-Bruno
liest Artikel von Célestin Freinet und nimmt mit ihm Kontakt auf.
1925: Beginnt die erste Klassenkorrespondenz mit einer Jungenklasse aus Lyon,
dann mit einer Schule aus Brüssel; die Panrussische Lehrergewerkschaft
lädt französische Gewerkschaftsdelegation ein, an der Célestin Freinet
teilnimmt. Er lernt die politisch und künstlerisch tätige Élise Lagier-Bruno,
die aus einer sozialistisch engagierten Grundschullehrerfamilie kommt,
kennen; ein Polizeibericht der Stadt Cannes erwähnt zum 1. Mal Célestin
Freinet, der auf einer öffentlichen Versammlung über seine Russlandreise
berichtet hat.
1926 Heirat zwischen Élise Lagier-Bruno und Célestin Freinet; Élise verlängert
ihre Beurlaubung vom Schuldienst (die sie eingereicht hatte, um
Kunstkursen in Paris folgen zu können) und zieht nach Bar. Célestin Freinet
wird Generalsekretär der Gewerkschaftssektion Alpes Maritimes; erste
Zeitungsartikel erscheinen über die innovative Pädagogik Célestin Freinets;
er tritt – wahrscheinlich auf Veranlassung von Élise Freinet – der
kommunistischen Partei Frankreichs (P.C.F.) bei.
1927: Auf dem Lehrergewerkschaftskongress Gründungskongress der Bewegung
der Schuldrucker “Coopérative d’entraide L’imprimierie à l’école” und
Herausgabe der Zeitschrift L’Imprimerie à l’école / Bulletin mensuel de la
Coopérative d’entraide L’imprimierie à l’école; die Gewerkschaft initiiert
die Gründung der Kino-Kooperative “Cinématique Cooperative de
l’Enseignement Laîc”, an der auch Célestin Freinet teilnimmt; Élise Freinet
erhält den Malerpreis “Gustave Doré”.
1928: Beide Kooperativen schließen sich zur LehrerInnen-Kooperative
“Cooperative de l’Enseignement Laïc” (C.E.L.) zusammen34; die Freinets
nehmen am Kongreß der kommunistischen “Internationale der
Bildungsarbeiter” in Leipzig teil; Célestin Freinet nimmt eine Stelle in der
Jungen-Volksschule in Saint-Paul an, in der (enttäuschten) Hoffnung, das
beide hier unterrichten können; die Schule ist in einem baulich und
hygienisch sehr schlechten Zustand.
1929: Die C.E.L. hat erste finanzielle Probleme (die sie bis zur Auflösung 1986
permanent begleiten); die erste Arbeitskartei erscheint; 8. Aug.: das einzige
Kind der Freinets Madelaine wird geboren.
1930: Aufgrund des schlechten baulichen und hygienischen Zustand der mit 47
Schülern überfüllten Klasse entzündet sich ein Konflikt zwischen
Schulaufsicht, Bürgermeister und Célestin Freinet (der sich deshalb
mehrmals krank schreiben läßt); eine 2. Klasse wird eröffnet, aber Élise
Freinet erhält nicht die Stelle; sie wird in der Mädchenschule von Saint-Paul
ernannt; Célestin Freinet führt die Schallplatte in seinen Unterricht ein;
34 Zur Entwicklung und Loslösung der C.E.L. von der Gewerkschaft, siehe Luc BRULIARD / Gerald
SCHLEMMINGER (1996, S.73 ff) und Fabienne BOCK (1978).
- 21 -
Élise Freinet macht sich in Naturheilkunde und vegetarischem Essen
kundig.
1931: Élise Freinet erhält wegen akuter Tuberkulose einen Krankheitsurlaub, der
zwei Jahre dauern wird.
1932: Der Zustand der Jungenschule von Saint-Paul ist immer noch in hygienisch
schlechtem Zustand; die erste Nummer der Reihe “Bibliothèque de travail”
erscheint; Célestin Freinet nimmt am Kongreß der “Ligue internationale
pour l’Éducation nouvelle” in Nice teil, Kongressteilnehmer besuchen einen
Tag lang seine Klasse in Saint-Paul. Der Konflikt mit dem Bürgermeister
und Honoratioren des Dorfes spitzt sich zu einer politischen Affäre, die
nationale Ausmaße erreichen wird, zu35; der Auslöser sind zwei freie Texte,
die in der Klassenzeitung Les Ramparts erschienen sind36 und den
Bürgermeister und der Pfarrer in ein schlechtes Licht stellen37.
1933: Célestin Freinet wird daraufhin nach Bar-sur-Loup zurückversetzt, nimmt
einen – zwei Jahre dauernden – Krankheitsurlaub, der der ihm wegen
Kriegsinvalidität auch gewährt wird. Élise Freinet beantragt nach dem
Krankheitsurlaub Beurlaubung vom Schuldienst, mit halber Besoldung; Die
Freinets kaufen in Vence ein Grundstück im Viertel “Le Pioulier” auf, wo
sie eine eigene (Internats-)Schule aufbauen wollen; die Initiative stößt bei
den Mitstreitern von Célestin Freinet zunächst auf Unverständnis; in der
Zeitschrift der C.E.L. L’Éducateur prolétarien erscheit jetzt eine ständige
Rubrik “Vers le naturisme” (vegatarische Ernährung und Naturheilkunde),
die von Élise Freinet geführt wird38.
1934: Die Freinets bauen die Schule und entsprechende Gebäude auf. Die ersten
beiden Schüler treffen ein.
1935: Da die gesetzlichen Fristen von 2 Jahren für Krankheitsurlaub bzw.
Beurlaubung abgelaufen sind, reichen Célestin und Élise Freinet ihre
Verrentung ein; eröffnen am 1. Okt. nach vielen administrativen
Schwierigkeiten und zunächst ohne offizielle Erlaubnis ihre koedukative
Internatsschule mit 13 Kindern und 5 Erwachsenen (Élise u. Célestin
Freinet, Élises Mutter Julie Lagier-Bruno, Albert Belleudy und Fifine).
1936: Die ersten Arbeiterkinder aus den Pariser Vororten werden eingeschult.
1937: Die Freinets nehmen in ihrer Schule bis zu 30 Flüchtlingskinder spanischer
Republikaner auf; die erste Nummer der pädagogischen Reihe Brochures
d’Éducation nouvelle populaire er(wird später zu: Bibliothèque de l'École
Moderne) scheint in der C.E.L.
1939: Mit Kriegsausbruch werden die Veröffentlichungen der C.E.L. und die
Schulzeitung zensiert.
35 Wir haben gezeigt, dass Célestin Freinets Schwierigkeiten mit der Schulverwaltung zu dieser Zeit
kein Einzelfall ist, sondern viele politisch engagierte LehrerInnen trifft und oft mit Versetzungen
und Suspendierungen endet, wenn auch die Freinet-Affäre besonders kraß ist (cf. Luc BRULIARD /
Gerald SCHLEMMINGER 1996, S.85 ff).
36 Faksimile eines der beiden Texte in Michel BARRÉ (1996, S.114).
37 Der anekdotische Aspekt der Affäre wird ausführlich von Madeleine FREINET (1997, S.215 ff)
dargestellt.
38 Élise Freinet ist Fruchtvegetarierin, Ernährungsweise, die sie auch im Schulinternat einführen wird;
nach dem Prinzip der Freikörperkultur müssen alle Schüler das ganze Jahr über ein morgendliches
Kaltbad im Schwimmbecken nehmen, in die Sauna usw. Siehe dazu auch Daniel HAMELINE
(1994).
- 22 -
1940: Die letzte Nummer des L’Éducateur erscheint im März; 20. März: Célestin
Freinet wird wegen kommunistischer Propaganda und Subversion (noch
unter der 3. Republik) festgenommen und verweilt in mehreren
Internierungslagern, unterbrochen von einem Krankenhausaufenthalt; die
Schule muß auf Anordnung des Präfekten geschlossen.
1941: Die Schule wird von einem Verein zur Unterbringung tschechoslowakischer
Flüchtlingskinder genutzt; Élise Freinet verläßt mit ihrer Tochter39 Vence,
um bei ihrer Mutter in Vallouise (Hauptes Alpes) zu wohnen. 29. Okt.:
Célestin Freinet wird freigelassen und in Vallouise unter Hausarrest gesetzt.
1942 - 44: Célestin Freinet konzipiert und verfaßt in dieser Zeit seine Hauptschriften,
die nach dem Krieg veröffentlicht werden (siehe Bibliographie von Célestin
Freinet im Anhang 2).
1944: Célestin Freinet nimmt an der Widerstandsgruppe F.T.P. (“Francs Tireurs et
Partisans” von Béassac teil.
1945: Célestin Freinet nimmt aktiv am “Comité départemental de Libération des
Hautes-Alpes in Gap teil, baut in einem kath. Seminar dort ein
Schulzentrum für Waisen- und Flüchtlingskinder auf, das aber dann
schließen muss, weil die Kirche es wieder beansprucht; die erste Nummer
des L’Éducateur erscheint im Febr.
1946: Célestin Freinet zieht sich enttäuscht aus der Mitarbeit an der
¨Schulreformkommission Langevin-Wallon zurück; Wiedereröffnung der
Schule in Vence; Célestin Freinet unterrichtet nicht mehr an seiner
Schule40; die Freinets wohnen jetzt in Cannes am Sitz der C.E.L., wo sich
Célestin Freinet ganz dem Aufbau der Kooperative und der pädagogischen
Bewegung widmet, nur am Wochenende kommen sie nach Vence.
1947: Gründung der Pädagogik-Kooperative I.C.E.M. (“Institut Coopératif de
l’École Moderne”).
1948: Die Freinets erneuern nicht ihre Mitgliedskarte der P.C.F.41.
1949: Der Film L'école buissonnière von Jean-Paul Le Chanois über die Schule in
Vence kommt heraus.
1950-54: Öffentlicher Konflikt zwischen Célestin Freinet und der kommunistischen
Partei Frankreichs.
1957: Gründung der internationalen Vereinigung der Freinet-Bewegung
F.I.M.E.M. (“Fédération Internationale des Mouvements de l'École
Moderne“).
1959: Zur pädagogischen Diskussion wird (bis 1986) die interne
ZeitschriftTechniques de Vie herausgegeben.
1961: Nach heftigen Konflikten mit Célestin Freinet Abspaltung von Teilen der
Pariser Gruppe I.P.E.M. (“L'Institut Parisien de l'École Moderne”), aus der
die Bewegung der “Pédagogie institutionnelle” hervorgehen wird.
1965: Nach heftigen Konflikten mit Célestin Freinet erneute Abspaltung von
39 Die familiären Umstände und Kriegswirren führen dazu, dass Madeleine Freinet nie die höhere
Schule besucht und so später nach dem Tod ihrer Mutter die Schule in Vence nicht leiten kann.
40 siehe auch Michel BARRÉ (1996, S.79, 111). Junge, unerfahrene Kollegen aus der Bewegung
leiten die Klassen, wie Michel BARRÉ, M. E. Bertrand, A. Bonbonnelle.
41 siehe. Henri PORTIER (1990).
- 23 -
Teilen der Pariser Gruppe I.P.E.M.42
1966: 8. Okt.: Tod von Célestin Freinet.
1966-76: Schule in Vence: Mehrere Spaltungen, die zu Schulneugründungen führen;
die Schule von Vence, in der staatliche abgestellte, von dem Schulvorstand
ausgesuchte LehrerInnen arbeiten, entwickelt sich unabhängig von der
offiziellen Freinet-Bewegung I.C.E.M.
1981: Tod von Élise Freinet.
1986: Auflösung der C.E.L., Gründung des Verlags P.E.M.F. (“Publications de
l’´École Moderne Française”).
1991: Die Privatschule von Vence wird als “Experimentierschule” in die staatliche
Schulverwaltung übernommen.
42 Für eine genauere Analyse der Konflikte siehe Luc BRULIARD / Gerald SCHLEMMINGER
(1996).
- 24 -
Anhang 2
Sämtliche Schriften von Célestin FREINET:
Daten der Erstausgaben; das Herausgeberdatum wichtiger Werke ist in Fettdruck
* in CÉLESTIN FREINET (1994) aufgenommen bzw. von JÖRG, Hans / ZILLGEN,
Herwig (Hrsg. 1997 / 2000) übersetzt.
FREINET, Célestin (1920): Souvenir d'un blessé de guerre, Maison française d'art et
d'édition.
- - (1925): Tony l'assisté, Saumur, L'École Émancipée, coll. Édition de la Jeunesse
Nr. 6.
- - (1926): L'enfance de Minet, Saumur, L'École Émancipée.
- - (1926): L'imprimerie à l'école, Boulogne, Ed. Ferrary.
- - (1927): Un mois avec les enfants russes, Paris, Eds. de la Revue Littéraire des
Primaires.
- - (1928): Plus de manuels scolaires, St. Paul, Editions de l'Imprimerie à l'École.
- - (1935): L'imprimerie à l'École [Réédition de L'imprimerie à l'école (1926) et de
Plus de manuels scolaires (1928).]
- - (1937): La technique Freinet, Cannes, C.E.L., coll. Brochures d'Éducation
Nouvelle Populaire Nr. 1.
- - (1937): La grammaire en quatre pages, Cannes, C.E.L., coll. Brochures
d'Éducation Nouvelle Populaire Nr. 2.
- - (1938): Le fichier coopératif, Cannes, C.E.L., coll. Brochures d'Éducation
Nouvelle Populaire Nr. 5.
- - (1938): Les activités dirigées, Cannes, C.E.L., coll. Brochures d'Éducation
Nouvelle Populaire Nr. 6.
- - (1939): Premières réalisations d'éducation moderne à l'usage des débutants, des
hésitants et des sceptiques, Cannes, C.E.L., coll. Brochures d'Éducation Nouvelle
Populaire Nr. 14.
- - (1943): Conseil aux parents, Bruxelles, Service Social [revue].
- - (1944)*: L'École moderne française, Editions de l'Éducation Populaire, Belgique.
- - (1945): L'École moderne française, guide pratique pour l'organisation matérielle,
technique et pédagogique de l'École Populaire, Gap, Ophrys.
- - (1945): Images du Maquis, Gap, Ophrys.
- - (1945): Conseil pour l'organisation matérielle et pédagogique des Centres
Scolaires et Maisons d'enfants, Cannes, C.E.L., coll. Brochures d'Éducation
Nouvelle Populaire Nr. 18.
- - (1946): Par-delà le 1er degré, Cannes, C.E.L., coll. Brochures d'Éducation
Nouvelle Populaire Nr. 19.
- - (1946): La coopération à l'École Moderne, Cannes, C.E.L., coll. Brochures
d'Éducation Nouvelle Populaire Nr. 22.
- - (1946): Le milieu local, Cannes, C.E.L., coll. Brochures d'Éducation Nouvelle
Populaire Nr. 24.
- - (1947)*: L'Éducation du Travail, Gap, Ophrys.
- - (1947): Le texte libre, Cannes, C.E.L., coll. Brochures d'Éducation Nouvelle
Populaire Nr. 25.
- 25 -
- - (1947)*: Méthode naturelle de lecture, Cannes, C.E.L., coll. Brochures
d'Éducation Nouvelle Populaire Nr. 30.
- - (1947): Le limographe à l'École Moderne, Cannes, C.E.L., coll. Brochures
d'Éducation Nouvelle
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title: Cèlestin Freinets reformpädagogisches Konzept. Ansatz zur Ausarbeitung eines Konzeptes zur Integration unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge? by Simons, Lisa |
|
Titel: | Cèlestin Freinets reformpädagogisches Konzept. Ansatz zur Ausarbeitung eines Konzeptes zur Integration unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge? |
Autor: | Simons, Lisa | Sprache: | deutsch |
Quelle: | München, Grin | Quellentyp: | Monographie |
veröffentlicht am: | DD.MM.2015 | | |
url: | https://www.grin.com/document/324189 |
Text:
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
1. Cèlestin Freinet
1.1 Leben und Wirken
1.2 Pädagogisches Konzept
1.2.1 Ziele und Grundprinzipien
1.2.2 Praktische Umsetzung – Arbeitstechniken und Methoden
2. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Deutschland
2.1 Definition und Statistik
2.1.1 Gründe und Umstände der Flucht
2.2. Situation und Bedürfnisse der umF in Deutschland
2.2.1 Kindeswohl
2.2.2 Fremdheit
2.2.3 Zwischen Autonomie und Orientierung
2.2.4 Traumatisierung und Traumatherapie
3. Elemente der Freinet Pädagogik in einem Konzept für umF
3.1 Das Kindeswohl mit Freinet schützen
3.2 Fremdheit mit Freinet begegnen
3.3 Autonomie und Orientierung mit Freinet gewährleisten
3.4 Traumata mit Freinet aufarbeiten
4. Fazit
5. Quellenverzeichnis
5.1 Literatur
5.2 Internet
5.3 Rechtsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Einleitung
Im Reichstag herrschte ein totalitärer, grausamer Diktator. Auf den Straßen herrschte Gewalt. In den Häusern herrschte Hunger, Angst und Verzweiflung.
Während die Nationalsozialisten von 1933-1945 regierten, wurden in Deutschland Menschen aufgrund ihrer Rasse, Religion, sexuellen Orientierung oder politischen Einstellung verfolgt, eingesperrt und grausam getötet. Verfolgung, Repressalien und organisierter Massenmord von Minderheiten waren an der Tagesordnung und ließen die jüdische Bevölkerung, die besonders schwer von der Verfolgung betroffen war, verzweifeln. Um wenigstens verfolgte Kinder vor der Terrorherrschaft Hitlers zu bewahren, organisierten Hilfsorganisationen und Privatpersonen Kindertransporte, mit denen sie allein nach Großbritannien 9.354 Kinder in Sicherheit brachten (Hargasser 2014, S.8).
Heute hat sich die Situation grundlegend geändert. Niemand muss mehr aufgrund von Verfolgung aus Deutschland fliehen. Deutschland hat sich zu einem demokratischen Rechtsstaat entwickelt, der in der Weltgemeinschaft angesehen ist. Doch in vielen Krisen- und Kriegsgebieten dieser Welt herrschen heute ähnliche Zustände wie damals in Deutschland. Diese Zustände zwingen Menschen ihr Heimatland zu verlassen. Besonders in den Regionen Irak und Syrien, wo aktuell die Terrorherrschaft des „Islamischen Staates“ und ein verehrender Bürgerkrieg wüten, entschließen sich immer mehr Menschen ihre Heimat zu verlassen. Die Zahl der nach Deutschland kommenden Flüchtlinge steigt seit Monaten kontinuierlich und drastisch an. Politik und Medien sprechen von einer Flüchtlingskriese (Gambone 2015). Auch immer mehr Minderjährige sehen sich aus unterschiedlichen Gründen gezwungen, sich alleine auf die gefährliche Flucht in ein sicheres Land zu begeben. Deutschland hat sich innerhalb von weniger als 70 Jahren von einem Land, aus dem Kinder flüchten mussten, zu einem Land entwickelt, in das immer mehr Kinder flüchten und in dem sich immer mehr Kinder Sicherheit und eine bessere Zukunft erhoffen.
Die drastisch steigende Anzahl von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Deutschland ist eine große Herausforderung für die Politik, aber auch für die Soziale Arbeit. Der besondere und spezifische Hilfebedarf von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen erfordert spezielle Methoden und Konzepte, die auf die besonderen Bedürfnisse der Flüchtlingskinder eingehen.
Die vorliegende Arbeit soll untersuchen, in wie fern das Pädagogische Konzept von dem Reformpädagogen Cèlestin Freinet als Grundlage zur Entwicklung eines Konzeptes zur Integration von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Deutschland beitragen kann. Eine konkrete Ausgestaltung eines Konzeptes und der Rahmen für den das Konzept geschaffen wird, soll hierbei nicht erarbeitet werden.
Im ersten Teil der Arbeit wird das Pädagogische Konzept von Freinet in Grundzügen vorgestellt.
Im zweiten Teil wird der Begriff umF geschärft und die Situation der umF in Deutschland erläutert und deren Bedürfnisse herausgearbeitet.
Im dritten Teil der Arbeit wird erörtert, in wie weit die Bedürfnisse der umF durch die Elemente der Freinet Pädagogik im Rahmen eines Konzeptes zu Integration befriedigt werden können.
Eine solche Übertragung von Freinets Konzept auf unbegleitete minderjährige Flüchtlinge wurde bisher noch nicht untersucht. Als Grundlage meiner Ausarbeitung dienen Fachliteratur zu Cèlestin Freinet und unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, sowie wissenschaftliche Studien zu umF und hierbei hauptsächlich die Studie „Unbegleitete Minderjährige in Deutschland. Fokus-Studie der deutschen nationalen Kontaktstelle für das Europäische Migrationsnetzwerk“.
1. Cèlestin Freinet
1.1 Leben und Wirken
Cèlestin Freinet wird 1896 als Sohn einer armen Kleinbauernfamilie in Gars, Südfrankreich geboren. Nach der Schule beginnt er 1912 das Lehrerstudium (vgl. Winkel 1997, S. 55-56). Dieses muss er jedoch aufgrund des 1. Weltkrieges abbrechen. Während des Krieges wird Freinet durch einen Lungensteckschuss schwer verwundet. Nachdem er zwei Jahre im Lazarett zubringt, tritt Cèlestin Freinet 1920 seine erste Stelle als Lehrer in einer französischen Ecole primaire an.
Während seiner Lehrertätigkeit steht Freinet im ständigen Austausch mit Reformpädagogen wie Hermann Lietz, Maria Montessori oder Peter Petersen und lässt sich von deren Werken beeinflussen und anregen. Er teilt mit den Reformpädagogen die kritische Einstellung gegenüber dem bestehenden Schulsystem mit festen Lehrplänen und Frontalunterricht (vgl. Köster 2005, S.48ff.). Freinet selbst beschreibt seine Kritik mit den Worten „Die Mangelerscheinungen sind nicht zu leugnen: schlecht verdaute Nahrung, Widerwille vor intellektueller Ernährung, der bis zur totalen Verweigerung gehen kann, Verkrüppelung des Individuums, Lebensuntüchtigkeit, Feindseligkeit gegenüber der falschen Kultur der Schule. Diese Mangelerscheinungen nenne ich „Scolatismus“ (Freinet 1980, S.22).
Um das Schulsystem in Frankreich zu reformieren, gründet Freinet 1924 die „Cooperative de l`Enseignement Laic“ (C.E.L.). Diese „Kooperative“ sollte Arbeitsmaterialien herausgeben und die pädagogische Zusammenarbeit organisieren und fördern. Später entstand hieraus die Lehrerbewegung „Ècole Moderne“.
Darüber hinaus verwendet Freinet selbst bei seiner Lehrertätigkeit immer mehr neue Methoden wie zum Beispiel die Praxis des „Freien Ausdrucks“ und die „Natürliche Methode“ und veröffentlicht Artikel, die sich gegen das traditionelle Schulsystem wenden wie zum Beispiel sein Aufsatz „Plus de manuels scolaires“ (Keine Schulbücher mehr) (vgl. Kock 2006, S.17). 1926 produziert Freinet seine erste eigene Schuldruckpresse, die zu einer zentralen Arbeitstechnik für ihn wird. In diesem Jahr heiratet Freinet auch seine Frau Elise, die ihn fortan in all seinen Tätigkeiten unterstützt (vgl. Köster 2005, S.51ff.).
Aufgrund von Freinets revolutionären Gedanken und seiner linken politischen Orientierung kommt es zu zahlreichen Hetzkampagnen gegen ihn und seine Pädagogik, sodass Freinet und Elise 1933 den öffentlichen Schuldienst in Frankreich quittieren. 1934 gründen sie ihr eigenes Landerziehungsheim im französischen Vence (vgl. Winkel 1997, S. 57).
Der 2. Weltkrieg setzt der Freinets Bewegung ein Ende. Freinet selbst wird zweimal interniert. Erst im August 1945, nach dem Ende des 2. Weltkrieges kann Freinet seine Schule in Vence wieder eröffnen und die Lehrerbewegung Ècole Moderne neu aufbauen. Darüber hinaus verfasst er zu dieser Zeit viele Werke über seine praktischen Pädagogischen Erfahrungen, darunter seine Werke „L`Ecole Moderne Francaise“ im Jahre 1946 und „Les dits de Mathieu“ 1956.
1966 verstirbt Cèlestin Freinet im Alter von 69 Jahren.
1.2 Pädagogisches Konzept
1.2.1 Ziele und Grundprinzipien
Freinet hat sich das Leitmotiv „Par la vie – pour la vie – par le travail“ zum Grundprinzip seiner Pädagogik gemacht (vgl. Freinet 1979, S.163). Sein Ziel ist es „dem Schüler möglich [zu] machen, zu einer möglichst selbstständigen, vollkommenen und harmonischen Entfaltung all seiner Anlagen und Kräfte zu gelangen.“ (Freinet 1979, S.153, Änderung Annika Botens)
Dabei stellt er den Schüler in den Vordergrund und fordert, das Kind schon von Geburt an als eigenständiges Individuum mit eigenen Rechten zu betrachten. Alles Lehren und Lernen soll ausgehen von den Bedürfnissen und der Lebenswelt des Kindes. Des Weiteren stellt Freinet heraus, dass jedes Kind das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit hat. Dies beinhaltet, dass die Eigenart und Identität des Kindes berücksichtigt und der freie Ausdruck gefördert wird (vgl. Hellmich 2007, S. 99). Dem Kind soll freier Raum gewährt werden um sich auszudrücken, sei es schriftlich, musisch oder mündlich.
Darüber hinaus soll das Kind zur Selbstverantwortlichkeit und zur Selbstständigkeit erzogen werden. „Durch eigenes Versuchen, Selbsttun und Experimentieren soll das Kind Lösungswege für die Bewältigung aller auf es zukommenden Lern- und Lebensaufgaben finden.“ (Hellmich&Teigeler 2007, S.99). Hierbei soll besonders die erzieherische Wirkung der Arbeit und die Wirkkraft des Erfolges beachtet werden. Durch Selbstkontrollmöglichkeiten soll diese Wirkung verstärkt und verdeutlicht werden.
Ein weiteres Prinzip der Freinet Pädagogik ist die Erziehung zur Kooperation und Mitverantwortung. Die Schule soll ein „Ort der Kooperation sein“. Probleme und Konflikte werden offen diskutiert und Kritik konstruktiv angebracht (vgl. Köster 2005, S. 65). Die Kinder übernehmen zum Beispiel Verantwortung für die Geschehnisse in der Klasse, für die Reinheit der Räume oder für Pflanzen. Sie arbeiten gemeinsam an Lernprojekten und müssen sich hierbei die Arbeit untereinander aufteilen (vgl. Kock 2006, S. 69).
Darüber hinaus fordert Freinet die kritische Auseinandersetzung mit der Umwelt. Der Schüler soll zur Kritikfähigkeit und kritischen Betrachtung der Wirklichkeit erzogen werden (vgl. Hellmich&Teigeler 2007, S. 101).
Dem Lehrer kommt in der Freinet Pädagogik eine andere Rolle zu als in der traditionellen Pädagogik. Er ist nicht in erster Linie Wissensvermittler, sondern er unterstützt, berät und koordiniert die Lernaufgaben der Schüler. Ähnlich wie bei Montessori soll der Lehrer „Hilfe zur Selbsthilfe“ leisten (vgl. Köster 2005, S. 75).
Im Folgenden soll beschrieben werden, mit welchen Arbeitstechniken und Methoden diese Grundprinzipien in der Praxis umgesetzt werden.
1.2.2 Praktische Umsetzung – Arbeitstechniken und Methoden
Raumgestaltung und Arbeitsmaterialien
Die Klassenzimmer weichen in der Freinet Pädagogik deutlich von der herkömmlichen Raumgestaltung ab. Freinet war der Meinung, dass „die Arbeit […] der Ausgangspunkt und der Motor allen schulischen Lernens sein [soll], deshalb soll die Schule […] ein Arbeitsatelier sein, das gleichzeitig der Gemeinschaftsarbeit wie der Einzelarbeit mit Sonderaufgaben dient.“ ( Freinet 1979, S. 56, Änderungen Annika Botens)
Die Klassenzimmer werden dementsprechend in verschiedene Arbeitsateliers aufgeteilt, die mit unterschiedlichen Materialien ausgestattet sind und die Selbsttätigkeit anregen sollen. Beispiele für Arbeitsateliers sind, das „Atelier für Quellen- und Dokumentensammlung, das Atelier für naturwissenschaftliche Experimente oder das Atelier für künstlerisches und musisches Schaffen.“ (Hellmich&Teigeler 2007, S. 102)
Diese Aufteilung soll unter anderem den freien Ausdruck des Kindes fördern, das somit die Möglichkeit hat die verschiedenen Ateliers aufzusuchen, anstatt durch den Lehrer oder die Unterrichtsstunde auf einen Bereich festgelegt zu werden.
Darüber hinaus wird der Schulalltag durch zahlreiche Untersuchungen außerhalb der Schule ergänzt. Hierbei werden zum Beispiel Bauernhöfe, Märkte, Handwerksbetriebe oder der Wald besucht und gemeinsam erfahren.
Als Arbeits- und Lernmittel dienen keine festen Schulbücher, sondern frei zugängliche Arbeitsbüchereien, Arbeitsmittelkarteien, Versuchskarteien und Selbstlernkarteien. Diese stellen eine Sammlung an Wissen zur Verfügung, müssen aber aktiv und selbstständig von den Schülern verwendet werden. Es sind Selbstbildungsmittel, die auch Selbstkontrollmöglichkeiten enthalten (vgl. Hellmich&Teigeler 2007, S. 103).
Druckerpresse, Korrespondenz und Klassentagebuch
Ein Spezifikum der Freinet Bewegung ist die Nutzung der Druckerpresse als Element der Pädagogik. Nach dem Motto „Dem Kind das Wort geben“ ermöglicht die Druckerpresse es den Kindern ihre Erfahrungen und Beobachtungen niederzuschreiben und durch den Druck zu vervielfältigen. Dabei legt Freinet besonderen Wert darauf, dass die geschriebenen Texte der Schüler keine Diktate oder Pflichtaufsätze sind, sondern „freie Texte“, die das Kind je nach Interesse und individuellem Erleben selbstständig verfasst hat. Das gemeinsame Setzen und Drucken der Texte fördert unter anderem die Kooperation der Schüler untereinander und löst ein Wirksamkeitserleben der Schüler aus (vgl. Köster 2005, S. 72). Darüber hinaus verbindet Freinet mit dem Mittel der Druckerei die geistige und körperliche Arbeit. Da die Kinder in Eigenverantwortung drucken, sind sie „Autor, Setzer, Drucker, Buchbinder, Verleger und Buchhändler zugleich.“ (Köster 2005, S. 71).
Die gedruckten Texte, geschriebenen Briefe, Bilder sowie die Klassenzeitung werden mit einer Partnerklasse einer anderen Schule ausgetauscht. Die Klassen stehen untereinander im ständigen Kontakt und die regelmäßige Korrespondenz dient dem wechselseitigen Erfahrungsaustausch und der Erweiterung der eigenen Sichtweise. Darüber hinaus werden die Kinder so zu sauberem und gutem Arbeiten motiviert (vgl. Hellmich&Teigeler 2007, S. 106).
Im Klassentagebuch hält jeden Tag ein Schüler die Erlebnisse, Lernfortschritte und Lerninhalte der gesamten Klasse mit Texten und Bildern fest. Das persönliche Tagebuch bietet die Möglichkeit individuelle Fortschritte und Erlebnisse zu notieren (vgl. Köster 2005, S.75).
Der individuelle Wochenarbeitsplan, Klassenrat und Klassenversammlung
Die Förderung der Selbst- und Mitverantwortung wird in der Freinet Pädagogik unter anderem umgesetzt durch den individuellen Wochenarbeitsplan, den Klassenrat und die Klassenversammlung.
[...]
Schlagworte:
lit_2015-art, Hausarbeit
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title: Die Reformpädagogische Bewegung; im Focus Maria Montessori by Voigt, Katy |
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Text:
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis IV
Abkürzungsverzeichnis IV
Anmerkung. V
Einleitung 1
1 Geschichte der Reformpädagogik und ausgewählte reformpädagogische
Konzepte 3
1.1 Der Begriff Reformpädagogik 3
1.2 Die pädagogische Bewegung von der Aufklärung bis zum Neuhumanismus 4
1.3 Die pädagogische Bewegung von der Jahrhundertwende bis zum Ende der
Weimarer Republik 7
1.4 Die staatliche Schulreform und Schulversuche der DDR 10
1.5 Ausgewählte reformpädagogische Konzepte 13
1.5.1 Peter Petersen - biografischer Abriss 13
1.5.1.1 Die pädagogische Konzeption Jenaplan. 15
1.5.1.2 Die pädagogische Konzeption Waldorfpädagogik. 19
1.5.2 Celestin Freinet - Biografischer Abriss. 21
1.5.2.1 Freinet Pädagogik. 23
1.6 Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Pädagogischen Konzeptionen von
Petersen, Steiner und Freinet 25
2 Maria Montessori: Biografie und Erziehungskonzeption 27
2.1 Biografie. 27
2.2 Theoretische Grundlangen der Montessori- Pädagogik 33
2.2.1 Anthropologischer Ansatz. 33
2.2.2 Entwicklungspsychologische Konzeption 34
2.2.2.1 eistiger Embryo 34
2.2.2.2 Sensible Phasen. 36
2.2.3 Kosmische Theorie. 38
2.3 Eckpunkte der Kosmischen Erziehung 40
2.4 2“Hilf es mir, selbst zu tun“ Die Erziehungskonzeption von Maria Montessori. 41
2.4.1 Die Polarisation der Aufmerksamkeit 41
2.4.2 Freiheit und Disziplin. 42
2.4.3 Die vorbereitete Umgebung 43
2.4.4 Die Rolle des Pädagogen 44
2.5 Entwicklungsmaterial. 47
2.5.1 Prinzipien des Materials 47
2.5.2 Arbeit mit dem Material. 49
2.6 Übungen des täglichen Lebens. 50
2.7 Vermittlung der Kulturtechniken 51
2.8 Gruppenübungen 52
3 Montessori - Pädagogik heute, in Kindertagesstätten und Schulen und das
Bildungsprogramm “Bildung Elementar“ 54
3.1 Montessori - Pädagogik in der Kindertagesstätte. 54
3.2 Montessori - Pädagogik in der Schule 55
3.2.1 Schultheoretische, organisatorische und pädagogisch - didaktische Grundlegung
der Montessori Schule. 55
3.2.2 Montessori Grundschule 56
3.2.3 Die Montessori- Sekundarschule 59
3.3 Bildung Elementar 62
3.3.1 Aufbau des Programms 63
3.3.2 Voraussetzungen 63
3.3.2.1 Fachliche Grundorientierungen. 65
3.4 Bildungsbereiche. 67
3.5 Zusammenarbeit mit Grundschule und Eltern 72
4 Kritische Auseinandersetzung mit der Thematik 74
4.1 Aktualität der Reformpädagogik. 74
4.2 Krische Betrachtung zur Erziehungskonzeption von Steiner. 76
4.3 Kritische Betrachtung zur Montessori - Pädagogik. 78
5 Schlussbetrachtung. 82
6 Quellenverzeichnis 84
6.1 Literatur. 84
6.2 Internet 87
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Struktur Jenaplanschule 16 Abb. 2: Übersicht über die Sensiblen Phasen 37 Abb. 3: Eckpunkte der Kosmischen Erziehung 40 Abb. 4: Gegenüberstellung der alten und neuen Lehrerin 45 Abb. 5: Aufbau des Bildungsprogramms “Bildung elementar“ 63
Abkürzungsverzeichnis
Abs. Absatz
A. d. V. Anmerkung des Verfasser der Diplomarbeit Aufl. Auflage bzw. beziehungsweise ca. circa ebd. ebenda, ebendort (an derselben Stelle) et al. et allii (und andere) ff. fortfolgende ggü. gegenüber Hrsg. Herausgeber Jh. Jahrhundert KiFöG Kinderförderungsgesetz des Landes Sachsen - Anhalt KJHG Kinder- und Jugendhilfegesetz o. a. oder andere/ auch o. g. oben genannt o. J. ohne Jahr o. O. ohne Ort o. S. ohne Seite s. siehe vgl. vergleiche z. B. zum Beispiel z. T. zum Teil
Anmerkung
Um einer besseren Lesbarkeit des Textes Rechnung zu tragen, verwende ich bei allen Personengruppen die maskuline Bezeichnung.
Der Verzicht auf die entsprechende feminine Form soll keine Diskriminierung darstellen.
Ich verwende im Kapitel 2 den Begriff der „kosmischen Theorie“, wohl wissend, dass in der aktuellen Literatur der Begriff der „kosmischen Erziehung“ bevorzugt benutzt wird. Der Leser wird in einigen Autorenzitaten kursiv gedruckte Wörter oder Sätze feststellen, welche Hervorhebungen durch die jeweiligen Autoren sind.
V
Einleitung
Der Bearbeitung der vorliegenden Diplomarbeit möchte ich ein Zitat voranstellen: „Maria Montessori ist viel komplizierter und interessanter als die Gipsheilige, zu der ihre ergebenen Anhänger sie gemacht haben. Unter all der fast mystischen Verehrung, der Heiligenlegende, die als Biografie ausgegeben wurde, steckt eine zähe, intelligente Frau, die zumindest in ihrer Jugend Dinge dachte und tat, die niemand vorher in den Sinn gekommen waren.“ (zit. n. Kramer aus Hedderich, 2001, o. S.) (Hervorhebung durch Verfasser Diplomarbeit)
Während meines Studiums der Heilpädagogik befasste ich mich in verschiedenen Seminaren mit Maria Montessori und ihrer Erziehungskonzeption. Montessori gab für mich als angehende Heilpädagogin sehr viele Denkanstöße. Meinen zukünftigen Wirkungskreis als Heilpädagogin sehe ich in der Förderung und Betreuung von behinderten Kinder z. B. ein einer integrativen Kindertagesstätte oder in der Frühförderung. Aus diesem Grund habe ich in meiner Diplomarbeit die Reformpädagogische Bewegung und Maria Montessori thematisiert. In der Praxis erlebte Eindrücke von Integration und Förderung von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsverzögerungen haben mich zum Nachdenken angeregt. Die Erziehungskonzeption von Maria Montessori bietet für mich als angehende Heilpädagogin Anregungen und Möglichkeiten, diese weiter zu entwickeln und zur Förderung von Kindern mit Behinderung zu nutzen. Ich konnte in meinen praktischen Studiensemstern erleben, wie Grundgedanken von Montessori in die Praxis umgesetzt wurden. Mir wurde die Möglichkeit gegeben, im Sinne von Maria Montessori ein Kind mit Verhaltensauffälligkeiten zu fördern. Nach kurzer Zeit waren erste Entwicklungsfortschritte zu sehen. Ich möchte dazu Montessori zitieren: „Die Erzieherin hat zwei Aufgaben: die Kinder zur Konzentration zu führen und danach ihnen in der Entwicklung zu helfen. Die fundamentale Hilfe in der Entwicklung... ist das Nichteingreifen. Einmischung hemmt Aktivität und hemmt Konzentration.“ (zit. n. Montessori aus Buchka, Grimm Klein, 2002, o. S.)
Im Folgenden soll die Gliederung der Diplomarbeit erläutert werden. Die Diplomarbeit ist in mehre Kapitel und Unterkapitel gegliedert. Nachdem ich in der Einleitung meine Intension zur vorliegenden Arbeit geschildert habe, folgen im ersten Kapitel die Klärung der Definition von Reform und Reformpädagogik und die Geschichte der Reformpädagogik. Weiterhin habe ich mich mit einigen Reformpädagogen und deren Erziehungskonzeptionen befasst, die näher erläutert werden sollen. Zum Ende des ersten Kapitels gehe ich auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Konzeptionen ein. Im zweiten Kapitel meiner Arbeit steht Maria Montessori im Vordergrund. Es wird ausführlich auf ihre Biografie eingegangen. Danach befasse ich mich genauer mit den Grundlagen ihrer Erziehungskonzeption. Dazu gehören u.a. die Anthropologie, die Kosmische Theorie und die sensiblen Phasen.
Im dritten Kapitel wird Bezug auf die Montessori Pädagogik heute in Kindergarten und Schule genommen. Das Bildungsprogramm „Bildung elementar, Bildung von Anfang an“ wird näher erläutert, da sich dort einige Ansätze von Maria Montessori und anderen Reformpädagogen wieder finden und es bildet eine gute Brücke zur heutigen Pädagogik.
Im Anschluss an das dritte Kapitel erfolgt eine kritische Auseinandersetzung mit einigen Themen der Diplomarbeit. In der Schlussbetrachtung am Ende der Arbeit werden meine neuen Erkenntnisse die ich während des Schreibens gewonnen habe, näher erläutert. Eine Danksagung findet sich am Ende der Diplomarbeit wieder.
1 Geschichte der Reformpädagogik und ausgewählte
reformpädagogische Konzepte
1.1 Der Begriff Reformpädagogik
Der Begriff Reform ist vom lateinischen Wort “reformare“ abgeleitet und bedeutet: Umgestaltung, Neuordnung, Verbesserung des Bestehenden (vgl. Duden Fremdwörterbuch, 2001, 849). Ein “Reformator“ war jemand, der bestehende Verhältnisse so ändert, dass sich ein neuer Sinn ergibt (vgl. Brenner, Kemper, 2003, 13). Im 16. Jh. prägten Luther und andere den Begriff “Reformation“. Ihr Anliegen der Reformation war eine Erneuerung des Glaubens und eine Rückbesinnung auf Grundlagen und Grundsätze. Heute findet man die Begriffe Reform und reformieren sehr häufig in der Politik wieder (vgl. Brenner, Kemper, 2003, 14). Zwischen 1890 und 1933 entstand die Reformpädagogik. Sie umfasste die Reformation des gesamten Erziehungs- und Bildungswesens (vgl. Hedderich, 2001, 18). „Das Neue der Reformpädagogik wird in der pädagogischen Reflexion auf die historisch - gesellschaftliche Situation gesehen, aus der eine Vielfalt unterschiedlicher Ansätze zur Erneuerung von Schule und Erziehung hervorging. Insbesondere wurde der um 1900 abgeschlossene Aufbau eines bürokratischen und selektiven Schulsystems kritisiert.“ (Hedderich, 2001, 19) Mit der Industrialisierung kam es zu einem gesamtgesellschaftlichen Umbruch (vgl. Hedderich, 2001, 19). Damit standen auch pädagogische Systeme auf dem Prüfstand. Allen reformpädagogischen Konzeptionen war gemeinsam, das Kind mit seiner Individualität in den Mittelpunkt zu stellen. Die “Alte Schule“ wurde wegen der Fülle des Stoffes und der Lebensfremdheit kritisiert. Ziel der Reformpädagogen war es, die “Alte Schule“ zu reformieren und die Prügelstrafe abzuschaffen. Kinder sollten aktiv am Unterricht teilnehmen. Die Kindheit wurde als eine Entwicklungsform angesehen und die Kinder nicht länger als „kleine Erwachsene behandelt. Ausgangspunkt der Erziehung war das Kind selbst. Das Charakteristikum der Reformpädagogik ist die einzigartige Hinwendung zum Kind (vgl. Hedderich, 2001, 19 f.).
1.2 Die pädagogische Bewegung von der Aufklärung bis zum
Neuhumanismus
In der Geschichte der Reformpädagogik lassen sich drei Richtungen unterscheiden. Die erste Richtung „...macht sich die Perspektive zu eigen, aus der heraus die reformpädagogischen Initiatoren argumentierten und handeln.“ (Brenner, Kemper, 2003, 25). Dies findet man im ersten Drittel des 20 Jh. vor, in der Zeit der Pädagogischen Bewegung oder in den 60iger Jahren für die westdeutsche Bildungsreform. Allerdings kam diese Richtung mit „...den auf reformpädagogische Entwicklungen folgenden Normalisierungsphasen...“ nicht zurecht. (Brenner, Kemper, 2003, 25) Eine andere Richtung der Geschichtsschreibung hebt sich davon ab. Sie setzt die Normalisierungsphasen in ihr Recht. Das Thema der pädagogische Theorie und Praxisdiskussion ist die letzte Richtung der Geschichteschreibung (vgl. Brenner, Kemper, 2003, 25 f.).. „Jede Reformpädagogik aber strebt danach, die Reformkonzepte, die sie vertritt, zu realisieren und zur Normalpädagogik werden zu lassen.“ (Brenner, Kemper, 2003, 27) Zu den zentralen Fragen und Problemstellungen der ersten pädagogischen Bewegung gehörte u.a. die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Erzieher und Zögling. 1692 veröffentlichte John Locke eine pädagogische Abhandlung 1 , die sich an Angehörige des hohen Bürgertums und des Landadels richtete. Er empfiehlt diesen Eltern, ihre Kinder mit Hilfe eines Hofmeisters zu erziehen. Für Kinder aus niedrigen Ständen sah J. Locke eine Arbeiterschule vor, in der die Kinder darauf vorbereitet wurden, später selbst für ihren Lebensunterhalt aufzukommen (vgl. Brenner, Kemper, 2003, 31). „Im Zentrum der Erziehungslehre Lockes stehen jedoch nicht Fragen unterrichtlicher Instruktionen und Unterweisungen, sondern solche moralischer Erziehung. Hinsichtlich der Möglichkeit, Menschen durch Erziehung tugendsam und moralisch zu machen, war Locke ein skepsisfreier Optimist.“ (Brenner, Kemper, 2003, 31 f.)
70 Jahre später nach Erscheinen von Lockes Abhandlung “Einige Gedanken zur Erziehung“ veröffentlicht J. J. Rousseau sein pädagogisches Hauptwerk “Emile 2 “. Rousseau wendet sich in seiner Schrift nicht wie Locke an einem bestimmten Stand der Gesellschaft. Er kritisiert Lockes Verständnis von Kindheit und Erwachsensein. In
1 Titel der Abhandlung:“ Einige Gedanken über die Erziehung“
2 Emile war ein “erdachter“ Zögling der ein naturbezogenes Leben auf dem Land führt (vgl. Hedderich,
2001, 18)
“Emile“ entwirft Rousseau „...eine Problemskizze für eine Erziehung, welche die Einzelnen unabhängig von ihrer künftigen Tätigkeit und Stellung in der Gesellschaft zu bilden sucht.“ (Brenner, Kemper, 2003, 32). Die Abhandlungen von Locke und Rousseau differenzieren sich zwar in den Erziehungsvorstellungen, nehmen aber den Strukturwandel der pädagogischen Praxis wahr (vgl. Brenner, Kemper, 2003, 33). Rousseau und Locke haben sich nur am Rande mit der Industrialisierung der neuen Erziehung auseinandergesetzt (vgl. Brenner, Kemper, 2003, 59). Beide sahen in der Institution Schule keine Einrichtung, die zur Überwindung der Standeserziehung dienen könnte. Schule ist für Locke eine Einrichtung, die es zu meiden gilt, und für Rousseau ist sie ungeeignet für die Erziehung des modernen Menschen (vgl. Brenner, Kemper, 2003, 60). Die pädagogischen Aufklärer des 18 Jh. konnten für ihre Konzeptionen von Schulexperimenten nicht auf Überlegungen von Rousseau zurück greifen, da schultheoretische Reflexionen fehlten. So mussten solche Konzeptionen selbst entwickelt werden. Es gab jedoch die Möglichkeit, an beginnende schultheoretische Diskussionen anzuknüpfen. Folgende Fragestellungen waren Schwerpunkte: „...welche Funktion die moderne Schule angesichts des sich abzeichnenden Übergangs der traditionellen Geburtsständegesellschaft in eine neue Berufsständegesellschaft übernehmen und ausfüllen könne; ... welche Instanz die Veränderung des Schulwesens leiten und beaufsichtigen solle. ....wie... eine professionelle Ausbildung von Lehrern für die neue Schule zu organisieren und zu gewährleisten sei.“ (Brenner, Kemper, 2003, 61) Durch Veränderungen im Leben der Familien und durch Entwicklungen die sich im Bereich der Religionen und der Politik vollzogen, gewannen diese Fragen an Bedeutung (vgl. Brenner, Kemper, 2003, 61). Die Reformation im Bereich der Religionen hatte zur Folge, dass sich ein absolutistischer Staat entwickeln konnte. Im 17. und 18. Jh. tritt zu den Aufgaben des Zentralstaates auch das öffentliche Schulwesen hinzu. Mit der Durchsetzung dieser Staatsform gehen die Geburtsstände in Berufsstände über. 1794 wird der Höhepunkt dieser Entwicklung im “Allgemeinen Preußischen Landrecht 3 “erreicht. Die absolutistische Staatsform kam im 18. Jh. an ihre Grenzen.
3 das Landrecht erreichte das erstmals alle Schulen und Universitäten zu “Veranstaltungen des Staates“
wurden und gleichzeitig alle Stände zu “staatlichen Berufsständen“ erklärt wurden (vgl. Brenner,
Kemper, 2003, 63)
1789 zeigte sich dies beispielsweise durch die Französischen Revolution. „Zu den Bereichen, die angemessen nur öffentlich, nicht aber als nachgeordnete Behörde des absolutistischen Staates zu organisieren sind, gehört nun auch das Erziehungs- und Bildungssystem“. (Brenner, Kemper, 2003, 63) Die Interessen des Zentralstaates fokussieren sich darauf, den Berufsständen die erforderlichen Qualifikationen in schulischen Bildungsgängen zu sichern. Der erste Gesamtplan der 1786/1787 von Friedrich II. erstellt wurde, sieht eine Gliederung des öffentlichen Schulwesens in drei Schultypen vor: Bauernschule; soll die Landbevölkerung für den Dienst bei der Gutsherrschaft und dem Militär disziplinieren; Bürgerschule; Vermittlung von Kenntnissen im Bereich der Realien 4 für das nieder und höhere Bürgertum: Gelehrtenschule; soll die notwendige Qualifikationen für leitende Tätigkeiten im Verwaltungsstaat sichern. Mit dieser Gliederung des Schulwesens sollte der Verelendung der bäuerlichen Unterschichten auf dem Land entgegengewirkt werden (vgl. Brenner, Kemper, 2003, 64). In den Städten wurde qualifiziertes Fachpersonal benötigt. Der Gesamtplan sah eine strikte Trennung von Bürger- und Gelehrtenschulen in den Städten vor. In den Bürgerschulen sollte nur Unterrichtsstoff vermittelt werden, der für die praktische Ausübung der bürgerlichen Berufe von Nöten war. Der Besuch der Gelehrtenschule sollte gegenüber der Bürgerschule stark eingeschränkt werden. Diese Schulform sollte für den Arzt, Prediger oder Geschäftsmann, vorbehalten sein. Dieser Plan schien im Interesse aller Gruppen der Gesellschaft zu liegen (vgl. Brenner/Kemper, 2003, 66). „Die Einführung einer strikten Trennung von Bürger- und Gelehrtenschulen hätte die sich in den Städten abzeichnende horizontale Gliederung des Bildungssystems rückgängig machen und in eine vertikale, auf die Berufsstände im Staate zugeschnittene Gliederung überführen müssen.“ (Brenner, Kemper, 2003, 66) Es wurden Reformkonzepte entwickelt, welche die Gelehrtenschule näher an die Bürgerschule brachte. Als bürgerliche Alternative wurde das Realschulbildungskonzept vorgeschlagen. Hecker gründete 1747 die erste Realschule mit acht berufsorientierten Fachklassen (vgl. Brenner, Kemper, 2003, 67). „Gegenstand der schultheoretischen Diskussion der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war nicht nur die Frage, ob das
4 sind Naturwissenschaften, Mathematik, Ökonomie und Technik (vgl. Duden, Fremdwörterbuch, 2001,
845 und Brenner, Kemper 2003, 64).
Bildungssystem vertikal nach staatlichen Berufsständen oder horizontal nach Bildungsstufen gegliedert, sondern auch, ob es als ein staatlich monopolisiertes oder öffentlich institutionalisiert werden solle.“ (Brenner, Kemper, 2003, 68) Die Herausbildung einer Konzeption der allgemeinbildenden Schulen, kann als das eigentliche Resultat der ersten pädagogischen Bewegung gesehen werden (vgl. Brenner, Kemper, 2005, 16). „Ein voller Erfolg blieb den Reformern jedoch zunächst versagt, wie die Bildungsreform als letzte unter den Reformen konzipiert und dann nicht einmal wie geplant durchgeführt und das weitergehende Reformziel einer Transformation des Politiksystems aufgrund des Widerstands des Adels und der fehlenden Bereitschaft des Königs, auf einen Teil seiner Macht zu verzichten, nicht erreicht wurde.“ (Brenner, Kemper, 2005, 17) Aus den ungelösten Reformproblemen, der ersten pädagogischen Bewegung entwickelten sich Folgeprobleme, die in der zweiten und dritten Reformphase erneut bearbeitet wurden (vgl. Brenner, Kemper, 2005, 17).
1.3 Die pädagogische Bewegung von der Jahrhundertwende bis zum Ende
der Weimarer Republik
Im 19. Jh. begann die pädagogische Bewegung durch die Kritik am staatlichen Schulwesen. Die Entwicklung des Bildungssystems folgte nicht den bildungs-, erziehungs- und institutionstheoretischen Einsichten, welche die erste pädagogische Bewegung hervorbrachte (vgl. Brenner, Kemper, 2003, 21 f.). „Sie führte zu einer Differenzierung des Schulwesens in niedere und höhere Schulen, die von der Preußischen Schulreform angestrebte Institutionalisierung der allgemeinen Menschenbildung deutlich abwich.“(Brenner, Kemper, 2003, 22) An Stelle der horizontalen Differenzierung des Bildungssystems nach allgemeinbildenden Schulstufen trat eine vertikale Differenzierung der Schule ein. Erst in der dritten Phase der Entwicklung der Reformpädagogik wurde diese ansatzweise korrigiert. Die niederen Schulen vermittelten eine volkstümliche Bildung, die zur Wahl einfacher Berufe ausreichte. Lange Zeit konnten Schulen, die zu einer mittleren und höheren Bildung führten, nur von Schülern besucht werden, deren Eltern die finanziellen Möglichkeiten hatten. Diese Schüler konnten sich später für höhere berufliche Positionen qualifizieren und z. B. eine Stellung im Staatsdienst übernehmen. Hauptsächlich kamen die Schüler
aus der Schicht des höheren Bürgertums. Im Verlauf des 19. Jh. kam es zu einem Kampf der verschiedenen Schichten und Klassen der Bevölkerung (vgl. Brenner, Kemper, 2003, 22). Dabei ging es um die Teilhabe an den höheren und hochwertigeren Formen der Allgemeinbildung, „...welche das einzige Privileg darstellte, das - ungeachtet der Einflüsse von Herkunft und Besitz - durch eigene Leistung erworben werden konnte.“(Brenner, Kemper, 2003, 22) Es entstand im 19. Jh. Zusammen mit der Abgrenzung niederer und höherer Schulen ein staatliches Berechtigungssystem. Das Berechtigungssystem trug dazu bei, dass der Aufstieg in höhere Berufe vom Bildungssystem abhängig wurde. Im niederen Bildungswesen wurde die Bildung deutlich begrenzt und durch religiöse Erziehung wurden die Schüler zu treuen Untertanen des Staates. Die Schüler wurden durch diese Bildungsbenachteiligung unterfordert. Dem gegenüber stand die Überforderung der Schüler an höheren Schulen. Auf diese Situation reagierte der Staat, indem er das Jahrgangsklassensystem einführte. Das System löste das Fachklassensystem von Humboldt ab. Das Jahrgangsklassensystem gab verbindlich vor, welche Leistungen der Schüler in den einzelnen Unterrichtsfächern erbringen muss, um das Klassenziel und die Versetzung zu erreichen (vgl. Brenner, Kemper, 2003, 23 f.). Dieses System führte zu einer Ausweitung der Überforderung der Schüler insbesondere auf Gymnasien, die der Stofffülle und dem Prüfungsdruck nicht mehr gewachsen waren. Das hatte zur Folge, dass viele Schüler das Gymnasium vor dem Abitur verlassen mussten. „In der Folgezeit verschärfte sich die schulische Leistungsauslese dadurch noch weiter, dass neben dem traditionelle Reifezeugnis, das die Zulassung zum Studium regelte, weitere Berechtigungen hinzutraten und auch die Abschlüsse der gymnasialen Klassenstufen Tertia und Sekunda eng mit Berechtigungen für den mittleren und gehobenen Staatsdienst verknüpft wurden.“ (Kemper, Brenner, 2003, 24) Die Diskussionen über den an Gymnasien vorherrschenden Leistungszwang verliefen sehr widersprüchlich. Die Gymnasien wurden auf der einen Seite wegen der Weltfremdheit und Lebensferne kritisiert und auf der andern Seite wurde eine stärkere Berücksichtigung der Naturwissenschaften und Fremdsprachen gefordert. Es wurde festgestellt, dass sehr viele Schüler überfordert waren und die schlechten Schulleistungen wurden beklagt. Zunächst blieb die beruflich- soziale Auslesefunktion für höhere Positionen im Staatsdienst am humanistischen Gymnasium unangefochten. Das humanistische Gymnasium (einzige Einrichtung das die Zulassung zum Studium ermöglichte) verlor seine Monopolstellung, durch die Entwicklung der Natur- und
Technikwissenschaften. Ab 1859 gab es ein altsprachliches Gymnasium und die “Realschule I. Ordnung“ und ab 1882 kam die Schulform der Oberrealschule dazu. An den neu geschaffenen Hochschulen und Akademien hatte man die Möglichkeit, mit Abgangszeugnissen der beiden neuen Schulform zu studieren (vgl. Brenner, Kemper, 2003, 24) Das altsprachliche Gymnasium behielt seine Monopolstellung dadurch, dass man mit dem dort erworbene Abitur eine allgemeine Studienberechtigung hatte. Diese Sonderstellung des Gymnasiums sicherte dem Staat das Fortbestehen des alten Sozialsystems mit seinen unterschiedlichen Bildungsprivilegien. In der zweiten Hälfte des 19. Jh. gab das Gymnasium seinen gesamtschulartigen Charakter auf und entwickelte sich zu einer Eliteschule für den akademischen Berufsnachwuchs. Die Frühabgänger wechselten auf Real- oder Bürgerschulen. Im weiteren Laufe des 19. Jh. führte die Ausdifferenzierung der Allgemeinbildung nach weiterführenden Schultypen dazu, dass die horizontale Stufung des öffentlichen Schulwesens (die von Humboldt eingeführt wurde), in eine vertikale Schulstruktur wechselte (vgl. Brenner, Kemper, 2003, 25). „In den gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen der siebziger und achtziger Jahre wurde die sozialselektive Schulpolitik des Obrigkeitsstaates mit der von der Arbeiterbewegung erhobenen Forderung nach gleichen Bildungs-, Berufs- und Lebenschancen konfrontiert.“ (Brenner, Kemper, 2003, 25)
1878 scheiterten die Sozialgesetze, mit denen der Staat versuchte, die Ausbreitung der Sozialdemokratie zu verhindern. Das öffentliche Schulwesen wurde, wie schon zur Zeit der Preußischen Reformen, eingesetzt, um als ideologisches Instrument zur Sicherung der bestehenden Ordnung zu dienen. Im Sinne des Staates wurde mehr Deutsch und Geschichtsunterricht gelehrt, um die vaterländischen Vorstellungen zu verbreiten. Es gab die „... Forderung nach einer für alle Heranwachsenden verbindlichen Untertanenbildung im Dienste des wilhelmischen Obrigkeitsstaates.“ (Brenner/Kemper, 2003, 26) Die pädagogische Bewegung im 19. Jh. wandte sich gegen das entstandene Schulsystem und dessen Pädagogik des sogenannten Herbartianismus (vgl. Brenner, Kemper, 2003, 28). 5 Die Reformpädagogen kritisierten, dass der Herbartianismus aus dem Unterricht eine Form der Belehrung gemacht, „....in der die Stufen des Unterrichts, statt Stufen der Lerntätigkeit von Schülern zu sein, zu Stufen der Tätigkeit von Lehren pervertierten.“ (Brenner, Kemper, 2003, 29). Den alten Schulen warfen die Pädagogen
5 Pädagogik ging auf Herbart zurück, er entwickelte eine Stufentheorie des Unterrichtes
es ist eine lehrerzentrierte Pädagogik
(vgl. Brenner, Kemper, 2003, 28 ff.)
vor, dass sie eine Erziehung propagiert haben, in der die Erwachsenen das Wollen, Denken und Fühlen der Schüler beeinflussten. 1900 veröffentlichte Ellen Key das Buch “Das Jahrhundert des Kindes“, damit ist der Anfang der Reformpädagogik zu sehen (vgl. Hedderich, 2001, 19). Ellen Key propagiert, dass das neue Jh. eine Pädagogik vom Kinde aus absichern könnte (vgl. Brenner, Kemper, 2003, 57). „Trotz der weitverbreiteten Ideologien einer Lebensgemeinschaftserziehung “vom Kinde aus“ lässt sich die zweite pädagogische Bewegung als ein Versuch würdigen, einen Teil der Experimentierfreiheit, welche die erste pädagogische Bewegung hervorgebracht hatte, für die Arbeit in privaten Schulen sowie im staatlichen Schulwesen wiederzugewinnen und fruchtbar zu machen.“ (Brenner, Kemper, 2005, 20) Die Probleme dieser zweiten pädagogischen Bewegung in Deutschland konnten auch nicht gelöst werden. In einigen Strömungen kündigte sich dies so an, dass Einrichtungen auf Grund geringer Schülerzahlen geschlossen wurden z. B. in den Hamburger Lebensgemeinschaftsschulen. Andere reformpädagogische Ideen wie z. B. die Jenaplan - Pädagogik fand Anschluss an die nationalsozialistische Bewegung und wieder andere wurden auf Grund ihrer Distanz zur nationalistischen Bewegung geschlossen (vgl. Brenner, Kemper, 2005, 20 ff.).
1.4 Die staatliche Schulreform und Schulversuche der DDR
In der Zeit von 1933 -1945 gab es in Deutschland keine Demokratie, die den Bestand ihrer Verfassung sicherte, es herrschte eine Führer- und Parteidiktatur. Im Dritten Reich wurden die Schulen und der Unterricht unter eine nationalsozialistische Weltanschauung gestellt (vgl. Brenner, Kemper, 2005, 35).
„Nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur traten im Bereich der Reform des Erziehungs- und Bildungswesens Aufgaben und Probleme in den Vordergrund, die unter der Maxime einer Pädagogik “vom Kinde aus“ bzw. im geschlossenen Horizont einer Gemeinschaftserziehung nicht angemessen thematisiert werden konnten und daher nach anderen erziehungs-, bildungs-, und schultheoretischen Konzepten verlangten.“ (Brenner, Kemper, 2005, 21) Dazu kamen Reformaufgaben in Politik, Recht und Wirtschaft. Die nach 1945 einsetzende und noch anhaltende dritte Phase der reformpädagogischen Bewegung war von Anfang an mit Problemen aus der ersten und
zweiten Phase der reformpädagogischen Bewegung konfrontiert (vgl. Brenner, Kemper, 2005, 19 ff.). Da nach Ende des zweiten Weltkrieges in Deutschland Besatzungszonen eingerichtet wurden, aus denen 1949 zwei deutsche Staaten hervorgingen, wurden auch die Aufgaben der Reformpädagogik und die der staatlichen Schulreform unterschiedlich interpretiert. Es finden sich aber auch übergreifende Problemstellungen, mit denen sich die dritte pädagogische Bewegung in ganz Deutschland auseinandersetzte. Diese sind Abstimmungsprobleme zwischen dem neuen Bildungs- und Politiksystems „... die Beziehungen der pädagogischen Praxis zu den anderen sich institutionell weiter ausdifferenzierten und voneinander abgrenzenden gesellschaftlichen Handlungsfelder und ... auf Veränderungen im Übergang von der Erziehung in der Familie zur schulischen Erziehung und Unterweisung, von allgemeinbildenden in berufliche Bildungsprozesse sowie auf den Eintritt der Heranwachsenden in die gesellschaftlichen Handlungsfelder.“ (Brenner, Kemper, 2005, 35)
Am 23.05.1949 wurde aus der westlichen Besatzungszone, durch Verkündung des Grundgesetzes die BRD gegründet und am 07.10.1949 wurde aus der sowjetischen Besatzungszone die DDR mit Verabschiedung der Verfassung gegründet. In der Verfassung der DDR sind Aussagen zum Erziehungssystem in den Artikeln 34 -40 zu finden (vgl. Brenner, Kemper, 2005, 100). „Die bedeutendste Veränderung zwischen dem Schulgesetz von 1946 und der Verfassung von 1949 liegt in der Festschreibung einer Schulpflicht bis zum “vollendeten 18. Lebensjahr“. (Brenner, Kemper, 2005, 101
f.) 1950 trat eine “Verordnung über die Neuregelung der Unterrichtsstunde“ in Kraft, in der weiter Neukonzeptionierungen von Schule und Unterricht zu entnehmen sind. Als Normalform schulischer Lehr- und Lernprozesse führte diese Verordnung ein, dass die Unterrichtsstunde 45 Minuten dauert und eine regelmäßige Aufeinanderfolge von Phasen der Arbeit und der Erholung sein soll. Weiterhin verlangte der Erlass, dass der Lehrer auch außerhalb des Unterrichtes zeitweise zusätzlich Lernarbeit für die Schüler seiner Klasse anbietet.
Vom Lehrer wird in diesem Erlass verlangt, das er
„... ein politisch bewusste [r] wissenschaftlich gebildete [r] Lehrer ist;
über eine “gute Allgemeinbildung“ und “objektive Kenntnisse des
Marxismus- Leninismus“ verfügt.....;
die “Freundschaft der friedliebenden Völker“ pflegt und ein “wahrhafter
Freund der Sowjetunion“ ist.“
um nur einige Beispiele zu nennen. (Brenner, Kemper, 2005, 102 f.) Die Verordnung ist häufig als Verabschiedung von reformpädagogischen Methoden aus der Schulpraxis der DDR gesehen worden. „Die weiteren Schritte in der Reform des Bildungssystems der DDR waren durch Abstimmungsprobleme zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung sowie Experimente mit der polytechnischen Erziehung als einer sozialistischen Variante reformpädagogischer Arbeitserziehung und nicht zuletzt durch Versuche bestimmt, in den Unterricht im geschlossenen Klassenverband Formen der inneren Differenzierung einzuführen.“ (Brenner, Kemper, 2005, 104) Es wurde Ende 1959 versucht durch ein Gesetz 6 diese Vielfalt zu vereinheitlichen. Dieses Gesetz führte die “zehnklassige bzw. zwölfklassige allgemeinbildende Oberschule“ ein. Zu einer Kontroverse über Abstimmungsprobleme zwischen Einheitlichkeit und Differenzierung des Schulsystems kam es im ersten Jahrzehnt der DDR. Ausgelöst wurde dies durch einen Schulreformversuch von Hans Herbert Becker 7 , den er in der Zeitschrift für Pädagogik publizierte (vgl. Brenner, Kemper, 2005, 106). Aus den Schulversuchen der SBZ gingen diese Entwicklungsprobleme der Einheitsschule im ersten Jahrzehnt der DDR hervor. In der Literatur ist häufig die These zu finden, dass das erste Jahrzehnt der DDR das Ende der Reformpädagogik war. Das stimmt so nicht. Es gab 1959 eine Vielfalt von Reformpädagogischen Konzepten, die sich auch später in der DDR durchsetzten (vgl. Brenner, Kemper, 2005, 118 ff.). Von 1960-1970 fand eine weitere Phase von Entwicklung von Schulreformen und Reformpädagogik in der DDR statt. In dieser Phase entfaltete das Bildungssystem der DDR seine größte Effektivität, die in bestimmten Bereichen auch später erhalten blieb (vgl. Brenner, Kemper, 2005, 155). „Die Lösung der für die SBZ und das erste Jahrzehnt der DDR aufgezeigten Entwicklungsprobleme in der Schule wurde nicht durch das Bildungsgesetz von 1965 und auch nicht durch die neue Verfassung von 1968 eingeleitet, sondern vollzog sich im
6 Gesetz über die sozialistische Entwicklung im Schulwesen
7 vgl. Brenner, Kemper, 205, 116/117
Schatten des Baues der zwischen den beiden deutschen Staaten 1961 errichteten “Mauer“,... .“ (Brenner, Kemper, 2005, 172) Der Mauerbau führte im Bildungs-, Wissenschafts-, und Beschäftigungssystem dazu, dass die in der DDR ausgebildeten Menschen dem Staat erhalten blieben (vgl. Brenner, Kemper, 2005, 172). Von 1960 - 1970 hatte das Bildungssystem der DDR seine Systemgestalt in der horizontal gegliederten Einheitsschule gefunden. Diese Struktur wurde in den 70er und 80er Jahren beibehalten. Es gab nur Veränderungen auf der unterrichtsdidaktischen Ebene. Ende der 80er Jahre stand das Erziehungssystem in der DDR an einem Scheideweg. Zu einer Verabschiedung der kommunistischen Erziehung führten Entwicklungen in der Wissenschaft und im Erziehungssystem (vgl. Brenner/Kemper, 2005, 196 ff.). „Das in Wissenschaft, Politik und pädagogischer Praxis vertretene Monopol sozialistischer Erziehung wurden schließlich sogar offiziell verabschiedet.“ (Brenner, Kemper, 2005, 244) Der deutsche Einigungsprozess der durch den Beitritt der DDR zur BRD vollzogen wurde, führte zu einer Anpassung der Bildungssysteme der neuen Bundesländer an die alten (vgl. Brenner, Kemper, 2005, 244).
1.5 Ausgewählte reformpädagogische Konzepte
1.5.1 Peter Petersen - biografischer Abriss
Peter Petersen wurde am 26. Juni 1884 in Großenwiehe bei Flensburg als erster Sohn eines Kleinbauern geboren. Sein Lebensweg schien vorbestimmt zu sein: „…Erbe des Hofes zu werden und eine seit 1666 bestehende bäuerliche Familientradition fortzuführen.“ (zit. n. Kluge in Schaberg, Schonig 2002, 16). Ab 1890 besuchte er sechs Jahre lang die einklassige Landschule und im Anschluss daran das Gymnasium in Flensburg. „In dieser Zeit bildeten sich bei Petersen erste Sensibilitäten für soziale Ungerechtigkeiten aus, und über die Folgen von Unterdrückung ... .“ (zit. n. Kluge in Schaberg, Schonig 2002, 23) Während seiner Schulzeit auf dem Gymnasium entwickelte Peter Petersen den Berufswunsch, Gymnasiallehrer zu werden. Rückblickend waren Petersen durch die Erfahrung, die er insbesondere auf dem Land sammelte, z. B. angewiesen sein auf die Gemeinschaft, Verantwortung tragen und eigenständig Aufgaben übernehmen, geprägt. Sie sind Grundpfeiler seines späteren reformpädagogischen Konzeptes, dem Jenaplan
(vgl. Kluge in Schaberg, Schonig 2002, 17 ff.). Petersen entschied sich bewusst für ein Studium in Leipzig, da Leipzig bis vor dem ersten Weltkrieg die Hochburg für Gegenwartsfragen war. Damit waren die Weichen für den späteren Reformpädagogen Petersen gestellt. Nach Abschluss seines Studiums promovierte er bei Rudolf Eucken 8 in Jena. Die Jahre 1909 bis 1923 waren für Petersen sehr wichtig. Er ging nach Hamburg und war dort anfangs Lehrer und später Oberlehrer am Johanneum. Pädagogische und bildungspolitische Reformversuche gab es in Hamburg schon, diese Versuche gingen von Volksschullehrern aus. Gegen solche Bemühungen gab es harte Widerstände am Johanneum und auf anderen höheren Schulen. Die Front aufzubrechen, dafür schien Petersen geeignet (vgl. Kluge in Schaberg, Schonig, 2002, 28 ff.). Unterbrochen wurden die ersten Reformversuche durch den 1. Weltkrieg. 1920 wurde Petersen in die Schulleitung der neugegründeten Lichtwarkschule berufen. Sie war eine sogenannte Versuchsschule des höheren Schulwesens. Ganzheitliches Lernen, Lernen in Zusammenhängen, Gemeinschaftspflege, bewusste Schaffung vielfältiger Unterrichtsformen waren nur einige Punkte im Programm der Lichtwarkschule. Zusätzlich unterstütze er die Forderung nach einem Aufbau einer Universität, an der Gymnasial- und Volksschullehrer ausgebildet werden sollten und an einem eigens geschaffenen Lehrstuhl für Erziehungswissenschaften. Zu der damaligen Zeit war das Vorhaben revolutionär. 1920 habilitierte Petersen in Hamburg, arbeitete als Privatdozent und entwarf seine eigene Wissenschaft von der Erziehung. 1923 wurde dann an der Universität ein eigener Lehrstuhl für Pädagogik eingerichtet. Petersens Kandidatur für diesen Lehrstuhl wurde abgelehnt, obwohl er alle Anforderungen erfüllte. Nach dieser Niederlage erhielt Petersen, eine Berufung von Greil 9 an die Universität Jena. Greil wollte in ganz Thüringen eine grundlegende, radikale Bildungsreform umsetzen, angefangen von der Kindertagesstätte bis hin zur Universität. Diese Reform sollte nach Möglichkeit gesamtgesellschaftlich wirken. Aus diesem Grund betraute Greil Petersen (vgl. Kluge in Schaberg, Schonig 2002, 34 ff.) „...mit zwei Aufgaben: der Etablierung der Volksschullehrerausbildung an der Universität und des Einheitsschulgedanken in Schulpraxis und öffentlicher Akzeptanz.“ (zit. n. Kluge in Schaberg, Schonig 2002, 36)
Die Anfangszeit in Jena war für Petersen nicht leicht, zum einen trat er die Nachfolge vom renommierten Professor Wilhelm Reins an und zum anderen gab es in Jena starke
8 Doktorvater von Petersen
9 Volksbildungsminister (vgl. Kluge in Schaberg, Schonig 2002, 35)
Widerstände an der Universität durch den sog. “Jenaer Hochschulkonflikt“. Bis Petersen 1923 seine Stelle in Jena antreten konnte, änderte sich sehr vieles auf politischer Ebene in Thüringen. Dadurch ging die finanzielle Unterstützung vom Ministerium für die bildungs- und schulreformerischen Pläne von Petersen verloren. Petersen ließ sich davon nicht entmutigen und baute mit viel Ehrgeiz eine neue „Erziehungswissenschaftliche Anstalt“ (Universität) auf, an die eine Versuchsschule angeschlossen war (vgl. Kluge in Schaberg, Schonig 2002, 37). Petersen war Leiter dieser Versuchsschule und konnte seine reformpädagogischen Ideen in die Praxis umsetzen. Bis zu seinem Tode 1952 stand Petersen im Kreuzfeuer unterschiedlicher Anfeindungen von Anhängern der Tradition von Reins.
1.5.1.1 Die pädagogische Konzeption Jenaplan
Der Name für Petersens pädagogische Konzeption wurde 1927 auf einem Kongress des „Weltverbandes für Erziehung“ geprägt. (vgl. Kluge in Schaberg, Schonig 2002 ,46). Petersen war gegen die „Alte Schule“, er verstand seine Schule als Lebens- und Arbeitsgemeinschaftsschule. Es gibt in seiner Schule keine Jahrgangsklassen, sondern sogenannte Stammgruppen. Die Stammgruppe ist jahrgangsübergreifend - 3 Jahrgänge werden zusammen unterrichtet. Somit gibt es für das Kind kein „sitzenbleiben“, und das Kind hat die Möglichkeit, sich individuell zu entwickeln. Im Vordergrund steht das Zusammenleben und das gegenseitige Helfen der Schüler. Alle 3 Jahre wechselt das Kind dann in die nächste Jahrgangsstufe. Ist das Kind noch nicht in der Lage, in die nächsthöhere Gruppe zu wechseln, kann es noch weiter in der Stammgruppe bleiben (vgl. Kluge in Schaberg, Schonig 2002, 40).
Die folgende Tabelle ist ein Beispiel für die Einteilung der Stammgruppen in einer Jenaplanschule.
Abb. 1 Struktur Jenaplanschule
(http://www.jenaplanschule.jena.de/idex.php?option=com_conten&task=view&id=12& Itemid=32 20.4.07)
In der Jenaplanschule wird nach dem Wochenarbeitsplan gelernt. Das heißt, es gibt keinen Stundenplan, somit werden die Unterrichtsfächer nicht isoliert. Jeder Schüler arbeitet nach einem rhythmisierten Wochenarbeitsplan, in dem die folgenden Bildungsgrundformen, die Petersen bestimmt hat, nicht zu kurz kommen dürfen: Gespräch: das kann ein Kreisgespräch, Berichtskreis, Vortrag, Aussprache usw. sein; Spiel:das kann ein freies Spiel, Lernspiel, Turnspiel, Schauspiel usw. sein; Arbeit: das können Gruppenarbeiten, Kurse, Einschulungskurse usw. sein; Feier: das kann eine Morgenfeier, Wochenschlussfeier, Geburtstagsfeier usw. sein (vgl. Kluge in Schaberg/Schonig 2002, 42). Neben dem Gruppenunterricht in den Stammgruppen gibt es an Jenaplanschulen den Kernunterricht und den Kursunterricht. Der Kernunterricht bestimmt die Schulwoche, in diesem Unterricht wird an Projekten gearbeitet, die fächerübergreifend sind. Die Schüler bringen für diese Projekte in der Regel die Themen mit und arbeiten an diesen Themen über einen längeren Zeitraum mit Hilfe des Lehrers
Die Stammgruppe ist im Kursunterricht aufgelöst, hier arbeiten Kinder zusammen, die das gleiche Leistungsniveau haben. In diesen Unterrichtseinheiten werden Arbeitstechniken und Basiswissen wie Schreiben und Rechnen vermittelt(vgl.
http://www.br-online.de/wissen-bildung/thema/reformpaedagogik/idee-jenaplan.xml 31.01.2007). In den Jenaplanschulen gibt es keine Zeugnisse. Es werden neue Formen der Leistungsbeurteilungen angewendet z..B. Entwicklungs- oder Lernbeurteilungen. Das Kind steht im Mittelpunkt der Pädagogik von Petersen. Es hat verschiedene Grundkräfte, die berücksichtigt werden sollen. Diese Grundkräfte sind: Bewegungsdrang Tätigkeitsdrang Gesellschaftstrieb Lerntrieb Es steht die Förderung und Forderung der Interessen und Begabungen des Kindes im Vordergrund, somit kann man Kindern mit Behinderungen und Kindern mit einer besonders hohen Begabung gerecht werden.
Der Lehrer steht den Kindern helfend zur Seite und ist als Partner des Kindes zu verstehen. Die Kinder sollen sich in der Schule wohlfühlen, der Gruppenraum dient als Schulwohnstube. In allen Angelegenheiten der Schule wird den Eltern eine zentrale Rolle eingeräumt. Beispielsweise haben die Eltern jederzeit die Möglichkeit, unangemeldet im Unterricht zu hospitieren (vgl. http://www.br-online.de/wissenbildung/thema/reformpaedagogik/gruppe.xml 31.01.2007). 1.5.2 Rudolf Steiner - Biografischer Abriss Im Jahre 1861 wird Rudolf Steiner in Kraljevec geboren und wuchs in verschiedenen Dörfern Niederösterreichs auf. Die Familie Steiner musste sehr häufig umziehen, da der Vater, ein Bahntelegrafist, mehrfach versetzt wurde (vgl. Lippert, 2001, 11). Nach seiner Schulzeit und bestandener Reifeprüfung studierte Rudolf Steiner ab 1879 Naturwissenschaftliche Fächer und Mathematik an der Technischen Hochschule in Wien (vgl. Wehr 2005, 13). „Ergänzend beschäftigte er sich mit Literaturwissenschaften, vornehmlich mit Goethe und Schiller.“(Wehr, 2005, 13) Diese Fächerkombination erwies sich bald als erfolgreich, denn Steiner wurde bei der Herausgabe und Kommentierung der naturwissenschaftlichen Schriften von Goethe um Hilfe gebeten. Als Steiner sein Studium 1883 abschloss, lag bereits der erste Band vor, welcher von Steiner kommentiert wurde (vgl. Wehr, 2005, 13). „Damit ist ein wichtiges Stadium seiner Entwicklung erreicht.“ (Wehr, 2005, ebd.) Die Geburtsstunde der
Waldorfpädagogik kann man ab dem Zeitpunkt nennen, als Steiner Hauslehrer bei der jüdischen Familie Specht in Wien war. Steiner lebte ab seinem 23. Lebensjahr sechs Jahre lang als Familienmitglied in dieser Familie (vgl. Hardorf in Schaberg, Schonig 2002, 30). „Er unterrichtete insbesondere den Jüngsten, Otto, der mit seinem Wasserkopf ein schwerer heilpädagogischer Fall war. Dank Steiners Einsatz konnte die Missbildung fast vollständig überwunden werden. Das als bildungsunfähig eingeschätzte Kind holte seine Entwicklung auf und wurde später Arzt.“ (zit. n. Hardorf in Schaberg, Schonig, 2002, 30) Steiner lebte in dieser Familie nicht als distanzierter Angestellter, sondern als vollwertiges Familienmitglied. „Die Familie Specht schenkte ihm ein Lebensklima, in dem er neben angespannten medizinisch - pädagogischen Studien auch völlig loslassen konnte... .“ (zit. n. Hardorf in Schaberg, Schonig, 2002, 32) Steiner fand in Pauline Specht eine wichtige Gesprächspartnerin, da sie seinen wissenschaftlichen Arbeiten größte Aufmerksamkeit entgegen brachte (vgl. Hardorf in Schaberg, Schonig, 2002, 33). „Im Wechselspiel von inniger Mutterliebe bzw. spielendem Einssein mit den Kindern und andererseits medizinisch - diagnostischer Analyse bildete sich hier Steiners Pädagogik.“ (zit. n. Hardorf in Schaberg, Schonig 2002, 33) Ab 1899 unterrichtete Steiner im Rahmen der Erwachsenenbildung in Berlin an der Arbeitsbildungsschule die von Wilhelm Liebknecht und Rosa Luxemburg gegründet wurde (vgl. Hardorf in Schaberg, Schonig, 2002, 38). Wichtig für Steiner war die Begegnung mit Marie von Sivers, einer jungen Schauspielerin. Sie wurde Steiners zweite Frau und führte ihn in die Theosophische Gesellschaft ein. Er gründete 1902 die “Deutsche Sektion der Theosophischen Gesellschaft“ und ernannte sich selbst zum Generalsekretär (vgl. Lippert, 2001, 23). 1913 kam es zu einer Krise innerhalb dieser Gesellschaft und zum Ausschluss der “Deutschen Sektion“. Die schon formlos gegründete “Anthroposophische Gesellschaft“ konstituierte sich 1913 in einer Generalversammlung in Berlin offiziell (vgl. Lippert 2001, 26). „Steiners Bestrebungen gingen von Anfang an dahin, Anthroposophie nicht als bloße Lehre zu verstehen oder sie gar zu einer weltanschaulichen Sekte verkommen zu lassen.“ (Wehr, 2005, 34) Von Steiner gingen sehr viele Impulse kultureller Art aus, insbesondere auf den künstlerischen Bereich. Dazu gehören die von Steiner geschaffenen Mysteriendramen und die Bewegungskunst der Eurythmie als Beispiele dazu (vgl. Wehr, 2005, 35).
Für all diese Dinge wurde eine Bühne benötigt und 1913 wurde in der Schweiz oberhalb von Dronach das “Goetheneum“ gebaut (vgl. Wehr, 2005, 37).
„Wir schreiben das Jahr 1919. In Deutschland herrscht Revolution. Das Kaiserreich mit seinen autoritären Strukturen ist zusammen gebrochen:.. .“ (Hellmich, 1995, 50) Die aus dem ersten Weltkrieg zurückgekommen Soldaten waren meist arbeitslos, es herrschte soziale Not und große Unzufriedenheit in der Bevölkerung. „Die alte Ständeschule, in der für Gott, Kaisertreue und Vaterland die Jungen und Mädchen getrennt und für die jeweils spezifischen „Tugenden“ gedrillt und gezüchtigt wurden, hat „ausgedient.“ (Hellmich, 1995, ebd.) Die gesellschaftlichen Zeichen stehen auf Sturm. In der Reichsschulkonferenz von 1920 wird sich mit neuen Strukturen und Inhalten für die Schulen beschäftigt und ganz besonders mit der Frage nach einer Einheitsschule. Die Einheitsschule scheitert, da sich verschiedene Parteien und Gesellschaften nicht einigen können (vgl. Hellmich, 1995, 50). „Der Gründung der ersten Waldorfschule im Jahre 1919 gingen wieder Vorträge vor Arbeitern voraus.“ (zit. n. Hardorf in Schaberg, Schonig, 2002 ,40) Steiner hielt Vorträge im Rahmen der “Dreigliederungsbewegung“ vor Belegschaften von verschiedenen Württemberger Werken u.a. in Ludwigsburg, Feuerbach und in Stuttgart (vgl. Hardorf in Schaberg, Schonig 2002, 40). Die Arbeiter in der Firma Waldorf-Astoria Zigaretten fühlten sich von Steiners Ideen sehr angesprochen, so dass beschlossen wurde, die Pädagogik von Steiner umzusetzen. 1919 wurde mit der Hilfe von Firmenchef Erich Molt in Stuttgart die erste Waldorfschule gegründet. Am 30.03.1925 verstarb Steiner in der Schweiz. Nach dem Tod geht die Waldorfbewegung weiter und Caroline von Heydebrandt konzipiert die ersten Waldorfkindergärten (vgl. http://www.br-online.de/wissen-bildung/thema/reformpaedagogik/bio-steiner.xml 07.02.07).
1.5.1.2 Die pädagogische Konzeption Waldorfpädagogik
Die Anthroposophie bildet die Grundlage der Waldorfpädagogik. „Unter Anthroposophie versteht Rudolf Steiner eine Erkenntnismethode zur wissenschaftlichen Erforschung der real- geistigen Welt und zur Entwicklung der dazu notwendigen Erkenntnisfähigkeiten.“ (Schneider, 1987, 18) Es gibt sehr viele verschiedene Definitionen, was unter Anthroposophie zu verstehen ist (vgl. Lippert, 2001, 40). „Einig
sind sich alle anthroposophischen Autoren darin, das sie einen Erkenntnisweg darstellt und nicht - nur - eine geschlossene Weltanschauung beinhaltet... .“ (Lippert, 2001, ebd.) Mit der Gründung der ersten Waldorfschule 1919 in Stuttgart, wurde zum ersten Mal das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit 10 verwirklicht. In der Regel sind Waldorfschulen Gesamtschulen, damit wird das Prinzip der Auslese durch ein Prinzip der Förderung ersetzt. In den Waldorfschulen wird in reinen Jahrgangsklassen unterrichtet, ein Sitzenbleiben gibt es auch hier nicht. In den Zeugnissen der Schüler sind keine Zensuren zu finden, sondern Beurteilungen die den Leistungsfortschritt, die Begabung und das Bemühen der Schüler in den einzelnen Fächern beschreibt. Waldorfschüler habe die Möglichkeit, die Schule mit folgenden Abschlüssen zu beenden: Mittlere Reife, Abitur oder Fachhochschulreife
(vgl. http://www.waldorfschule.info/index.5.0.1.html 07.02.2007). In den Waldorfschulen wird nicht nach dem offiziellen Lehrplan des jeweiligen Bundeslandes gearbeitet, sondern nach einem die Vorstellungen von Steiner aus den Jahren 1919 bis 1925 wiedergebenden Curriculum. Steiner arbeitete keinen eigenen Lehrplan aus, er hielt Vorträge, aus denen zu entnehmen war, wie er die Unterrichtsinhalte verteilt und ausgestaltet haben wollte (vgl. Lippert, 2001, 168). Steiner setzte sich sehr kritisch mit den Stundenplänen an staatlichen Schulen auseinander und er fand es als sehr nachteilig, dass „...Schüler Stunde für Stunde und Tag für Tag einer Fülle verschiedener Themen und Fächer ausgesetzt sind. Kaum entwickelt sich wirkliches Interesse am Lerninhalt, ist die Zeit auch schon verstrichen.“ (Lippert, 2001, 187) Der ständige Wechsel von Themen im Verlauf einer Schulewoche verhindert die Konzentration und das effektive Arbeiten (vgl. Lippert, 2001, ebd.). „Für Steiner konnte sich so kein gesunder Rhythmus im Kind einstellen.“ (Lippert, 2001, ebd.) Daher wird in den Waldorfschulen ein Großteil der Unterrichtsfächer als “Epochenunterricht“ erteilt. Das heißt, Unterrichtseinheiten zu einem bestimmten Stoffgebiet werden in einem Block zusammengefasst. In der Regel dauert die Epoche 3- 4 Wochen oder auch länger und umfasst die ersten beiden Unterrichtsstunden am Tag (vgl. Lippert, 2001, 188). Viele Pädagogen sind sich einig, dass es in den staatlichen Schulen zu wenig Freiräume für künstlerisches Tun und Kreativität gibt. Die Waldorfpädagogik stellt ein Unterrichtskonzept zur Verfügung, welches ein hohes Maß an künstlerischen und praktisch - handwerklichen Tätigkeiten ermöglicht. Es wird den
10 jedes Kind egal welcher Herkunft und welche Begabung es hat, hat die Möglichkeit für eine
gemeinsam Bildung
Kindern bewusst sehr viel Platz für diese Dinge gelassen, da die Schüler lernen sollen, ihr eigenes Tun zu kontrollieren. Die Eurythmie spielt in Steiners Waldorfpädagogik ebenfalls eine große Rolle und ist das Herzstück der Pädagogik (vgl. Lippert, 2001, 192 ff.) „Sie fehlt in keinem Kindergarten und ist Pflichtfach in allen Waldorfschulen... .“ (Lippert, 2001, 198) In dieser Ausdruckform wird die Seele der Kinder angesprochen und die Bewegungen sollen ausgleichend und harmonisierend wirken. Durch die Bewegungsform der Eurythmie haben die Kinder die Möglichkeit, ihren Gefühlen und Empfindungen auf der künstlerischen Ebene Ausdruck zu verleihen. Die künstlerische Ausdrucksform zieht sich durch den ganzen Unterricht. Es soll nach Steiner mit den ganzen Sinnen gelernt werden. Als Beispiel ist zu nennen, dass Zahlenreihen rhythmisch nachgesprochen und dazu geklatscht wird. Lehrbücher wird man vergeblich in einer Waldorfschule suchen, da für Steiner der ganze Kosmos und der Mensch Lernstoff ist. Es werden keine Schwerpunkte für den Erwerb von fachspezifischen Kenntnissen gelegt. Wichtig ist für Steiner, dass die Schüler ein ganzheitliches und in die Tiefe gehendes Welt- und Menschverständnis entwickeln. Der Lehrer in der Waldorfschule soll dem Kind als Helfer für seine geistige Entwicklung zur Seite stehen. In der Regel begleitet der Lehrer die Schüler acht Jahre lang, danach wechseln die Schüler in die Oberstufe und werden von Fachlehrern betreut (vgl. http://www.bronline.de/wissen-bildung/thema/reformpaedagogik/
idee=waldorf.xml 07.02.2007). In den Waldorfschulen gibt es keine Zensuren (nur zur Vorbereitung auf die Abschlussprüfungen) und sitzenbleiben gibt es nicht, da das Prinzip der Koedukation 11 gilt. Statt Zeugnisse erhalten Schüler, die in eine Waldorfschule gehen, einmal im Jahr eine verbale Beurteilung (vgl. Lippert, 2001, 214).
1.5.2 Celestin Freinet - Biografischer Abriss
Freinet wird am 15.10.1896 als Kind einer Bauernfamilie in der Provence in Frankreich geboren. „Das öffentliche französische Volksschulwesen ist in den 20er Jahren besonders auf dem Lande in einem sehr desolaten Zustand (mit 40 Schülern überfüllte Klassen, schlechter baulicher Zustand usw.).“ (zit. n. Schlemminger in Schaberg, Schonig, 2002, 13) 1900 wurde Freinet in die einklassige Dorfschule eingeschult (vgl.
11 Koedukation bedeutet alle gleichaltrigen Schüler werden trotz verschiedenem Leistungsniveau
gemeinsam unterrichtet
Schlemminger, in Schaberg/Schonig, 2002, 35). 1908 macht Freinet den Volksschulabschluss und tritt in eine weiterführende Schule in Grasse ein. Drei Jahre zunächst im “Collège Carnot“ und dann ein Jahr auf dem “Lycèe Amiral de Grasse“, was auf die Aufnahmeprüfung zum Lehrerseminar vorbereitet. Freinet macht 1912 seinen Sekundarschulabschluss und wird am Lehrerseminar aufgenommen. 1914 macht Freinet seine Schulabschlussprüfung und beginnt mit dem schulpraktischen Jahr Celestin Freinet wird 1915 zum Kriegsdienst eingezogen (vgl. Schlemminger in Schaberg, Schonig, 2002, 35 f.). 1916 erlitt er einen Lungensteckschuss und brachte 4 Jahre in Lazaretten und Sanatorien zu (vgl. Teigeler 1995, 46). „Aus den Bedingungen dieser Schwäche hat Freinet seine Pädagogik entwickelt.“ (Teigeler, 1995, ebd.) Einige Autoren, die über Freinet schreiben, sind der Ansicht, dass er seine Pädagogik so entwickelt hat, um einen langen Schultag durchstehen zu können (vgl. Dietrich, 1995, 14). 1920 wird Freinet stellvertretender Volksschullehrer an einer Jungenschule in Frankreich und im selben Jahr holt er die Prüfung zur Lehrerbefähigung nach. (vgl. Schlemminger in Schaberg, Schonig 2002, 36). 1922 wird er pädagogischer Sekretär der Gewerkschaftssektion Alpes Maritimes, trifft mit Peter Petersen in Deutschland zusammen und besucht dort die Schulversuche in Hamburg. Anschließend schreibt Celestin Freinet in seiner Zeitung Clartè über die Schulversuche in Deutschland. 1924 führt er die Druckpresse in den Unterricht ein und lässt seine Schüler freie Texte schreiben und drucken. Daraus entstanden dann langsam Klassenzeitungen. Durch diese wurden Schulbücher ersetzt. Erste Korrespondenzen zwischen verschiedenen Schulklassen begannen. Die freie Druckerei ist das Kennzeichen der Freinet - Pädagogik (vgl. Schlemminger in Schaberg, Schonig, 2002, 37). Im selben Jahr gründet er eine “Kooperative“ mit gleichgesinnten Kollegen, welche die pädagogische Zusammenarbeit organisiert und Arbeitsmaterialien herausgibt. Aus dieser “Kooperative“ geht die französische Lehrerbewegung “Ecole Moderne 12 “ hervor. Ziel dieser Lehrerbewegung ist es, die „Alte Schule“ von innen heraus umzugestalten (vgl. http://www.freinte-kooperative.de/start/index.php?idcat=295&idside=284&lang=2 10.02.2007).
1926 heiratet er Elise und tritt der kommunistischen Partei Frankreichs bei. Auf dem Lehrergewerkschaftskongress 1927 werden die “Bewegung der Schuldrucker“ und von der Gewerkschaft heraus die “Kino Kooperative“ gegründet. Ein Jahr später schließen
12 Ecole Moderne heißt Moderne Schule
sich diese beiden Bewegungen zusammen zur Lehrer -Kooperative “Cooperative de I` Enseignement Lai`(CEL)“. 1935 eröffnen Celestin und seine Ehefrau Elise Freinet ihre erste Internatsschule. Ein Jahr später werden die ersten Arbeiterkinder aus Pariser Vororten eingeschult (vgl. Schlemminger in Schaberg, Schonig, 2002, 40). „Im Zentrum der Schule steht die praktische, sinnvolle, schöpferische und das Kind entfaltende Arbeit. Mit dem Sieg der französischen Volksfront erfährt die Freinet-Bewegung einen weiteren Aufschwung, bevor ihr durch die faschistischen Regierungen und den 2. Weltkrieg ein Ende gesetzt wird.“ (Hecker, http://www.freinetkooperative.de/start/index.php?idcat=295&idside=284&lang=2 10.02.2007) Freinet wird 1940 wegen kommunistischer Propaganda festgenommen und in ein Internierungslager gebracht. Die Internatsschule wird auf Anordnung des Präfekten geschlossen. Von 1942 -1944 verfasst Freinet seine Hauptschriften, die nach dem Krieg veröffentlicht werden 1946 wird die Internatsschule wiedereröffnet. Freinet unterrichtete nicht selbst, sondern widmete sich dem Aufbau seiner Kooperative (vgl. Schlemminger in Schaberg, Schonig, 2002, 41). „1961 wird die "Féderation Internationale des Mouvements de l'Ecole Moderne" (FIMEM) ins Leben gerufen, die zur Koordinierung der Freinet-Bewegungen in verschiedenen Länden dienen soll: Aus der Kooperation weniger französischer Volksschullehrer ist eine internationale pädagogische Reformbewegung geworden.“ (Hecker, http://www.freinetkooperative.de/start/index.php?idcat=295&idside=284&lang=2 10.02.2007) Am 08. Oktober 1966 stirbt Freinet (vgl. Schlemminger in Schaberg, Schonig, 2002, 42).
1.5.2.1 Freinet Pädagogik
Die Freinet Pädagogik wehrt sich gegen die Regelschulen, da die Bedürfnisse, Gefühle und die persönliche Identität der Kinder zu wenig berücksichtigt werden. Eines der wichtigsten Grundprinzipien der Freinet- Pädagogik ist es, die Verschiedenheit der Kinder zu akzeptieren. Die Schule soll den Kindern die Möglichkeit geben, sich entfalten und ausdrücken zu können (vgl. Baillet, 1995, 16). „Wie alle Reformpädagogen will auch Freinet durch eine zum Lernen anregende Gestaltung des Lernfeldes seine Schüler motivieren... .“(zit. n. Jörg in Hellmich, Teigeler, 1995, 101) Freinet richtet in den Klassenräumen sogenannte Arbeitsecken (Ateliers) ein, die unterschiedlich gruppiert und zweckorientiert ausgestattet sind. „Er selbst schlägt
folgende Aufteilung vor, die in der Praxis jedoch nach den jeweiligen Bedürfnissen abgeändert oder ergänzt werden kann: 1. eine Arbeitsecke für die Arbeitsplanung und den Wissenserwerb mit Quellen-und Dokumentensammlung, 2. eine Arbeitsecke für naturwissenschaftliche Experimente, 3. eine Arbeitsecke für graphisches Gestalten, schriftlichen Ausdruck und Schülerkorrespondenz, 4. eine Arbeitsecke für technische Medien im Unterricht, 5. eine Arbeitsecke für Versuche und Beobachtung von Pflanzen und Tieren, 6. eine Arbeitsecke für das künstlerische und musische Schaffen, für Holz, Metall-und Keramikarbeiten, 7. eine Arbeitsecke für hauswirtschaftliches Tun, 8. eine Arbeitsecke für Konstruktion, Mechanik, Handel, mit Geräten zum Wiegen und Messen sowie für räumliches Gestalten.“ (zit. n. Jörg in Hellmich, Teigeler 1995, 102) Die Schuldruckerei ist die Arbeitstechnik, die Freinet neu in die Schule eingeführt hat und durch die er bekannt wurde. Freinet erlitt im ersten Weltkrieg eine Lungenverletzung. Daher fiel im langes Sprechen im Unterricht sehr schwer, er suchte nach einer Möglichkeit, mit dem er die Schüler sinnvoll in Spracharbeit beschäftigen konnte. Er fand ein Druckpresse und ließ seine Schüler frei geschriebene Texte setzten und drucken (vgl. Jörg in Hellmich, Teigeler, 1995, 105). „Das Drucken in der Schule und der Austausch des Gedruckten wird schnell zur wichtigsten Arbeitstechnik der Freinet Bewegung.“ (zit. n. Jörg in Hellmich. Teigeler 1995, ebd.) Die Arbeit mit der Druckerei ist für die Schüler sehr wertvoll, da sie schneller die Orthografie lernen und Interesse entwickeln für das kritische Lesen von Werken aus der Literatur oder von Texten, die andere Schüler geschrieben haben (vgl. Jörg in Hellmich, Teigeler, 1995, 105). Die Klassenkorrespondenz ist ein weiteres Merkmal der Freinet Pädagogik. Die Schüler tauschen sich über geschriebene Texte innerhalb der Klasse oder mit der sogenannten Korrespondenzklasse, die auch in einer anderen Stadt sein kann, aus. Der Schülerkorrespondenzaustausch findet nicht selten auch über die Grenzen des eigenen Landes hinaus statt. Es ist ein gutes Mittel, die Schüler mit andern Ländern, Menschen und Sitten vertraut zu machen und der Lerneffekt hat einen sehr hohen erzieherischen Wert (vgl. Jörg in Hellmich, Teigeler, 1995, 106).
Dem Spiel wird in der Freinet Pädagogik große Bedeutung geschenkt, es werden deshalb dem Kind vielfältige Möglichkeiten und Materialien geboten, die zu Aktivitäten anregen. Zum Beispiel gibt es die Arbeitskartei, sie enthält Anregungen für das gemeinsame Spielen oder den Bau von z. B. Puppenbühnen und Marionetten für das szenische Gestalten. Besondere Bedeutung haben alle Formen des freien Sichausdrücken- Könnens und der musikalischen Erziehung (vgl. Jörg in Hellmich, Teigeler, 1995, 107). In den Schulen, die nach der Freinet Pädagogik arbeiten, gibt es keinen Stundenplan im herkömmlichen Sinn. Die Schüler gestalten ihren Wochenarbeitsplan ausgehend vom offiziellen Lehr- und Stundenplan selbst (vgl. Jörg in Hellmich Teigeler, 1995, 103). „Mit dem Wochenarbeitsplan ist in der Freinet Schule eine individuelle Leistungskurve verbunden, in die im Laufe der Woche alle erzielten Beurteilungen eingetragen werden.“ (zit. n. Jörg in Hellmich, Teigeler, 1995, 104) Die Schüler wirken bei den meisten Leistungsbeurteilungen mit und bekommen so ein schnelles und untrügliches Urteil ihrer Leistungen. Dies geschieht z. B. beim Vorlesen der freien Texte und bei der Entscheidung, welche Texte, Briefe o. ä. an die Korrespondenzklasse geschickt werden.
1.6 Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Pädagogischen Konzeptionen
von Petersen, Steiner und Freinet
Das Kind steht im Mittelpunkt der Pädagogik, dies ist die wichtigste Gemeinsamkeit der Reformpädagogischen Konzeption von Petersen, Steiner und Freinet. Unterschiede gibt es in folgenden Punkten: dem Bild vom Kind, der Gruppenform, der Gestaltung des Klassenraumes, des Lehrplans, und der Lehrerrolle, um nur einige zu nennen. Petersen hat ein humanistisches Bild vom einzelnen Kind in der Gesellschaft, Gemeinschaft, Erziehung und Bildung. Bei ihm ist die Selbstverantwortung und die Teamfähigkeit wichtig. Hingegen hat Steiner eine anthroposophische Weltanschauung und dem entsprechend auch ein anders Bild vom Kind. Er sieht das Kind als ein sich entwickelndes Geisteswesen. Die Verschiedenheit der Kinder in ihrer Persönlichkeit und Identität zu verstehen und zu akzeptieren ist für Freinet wichtig. Bei der Gruppenform gibt es Gemeinsamkeiten bei den pädagogischen Konzeptionen von
Freinet und Steiner. Die Schüler werden in Jahrgangsklassen unterrichtet. In der Jenaplan - Pädagogik findet das sogenannte Stammgruppenmodell Anwendung (vgl. 2.5.1.1). Unterschiedlich ist die Ausgestaltung der Klassenräume, bei Steiner ist der Raum sehr karg, dies ist anthroposophisch begründet. Petersens Klassenraum soll eine “Schulwohnstube“ sein. Diese Schulwohnstube soll den Kindern als Arbeits-, und Lebensraum dienen. In Klassenräumen von Freinet Schulen befinden sich Arbeitsecken, die sogenannten Ateliers. Ausgehend vom offiziellen Lehrplan gestalten Schüler, die in eine Freinet Schule gehen, ihren Wochenarbeitsplan selbst. In der Waldorfpädagogik ist das ähnlich, dort wird sich auch am offiziellen Lehrplan orientiert. Der Großteil des Unterrichts findet in Epochen statt. Bei Petersen sind die Inhalte des Lehrplans sehr flexibel, es gibt einen groben Lehr- und Arbeitsplan. Die Rolle des Lehrers ist bei Petersen und Freinet gleich. Der Lehrer soll dem Kind helfend zur Seite stehen. In der Waldorfpädagogik ist der Lehrer eine Autorität, er ist acht Jahre lang der Klassenlehrer der Schüler. Allen drei Konzeptionen ist gemeinsam, das es ein “traditionelles“ Zeugnis mit Zensuren nicht gibt. Man findet in den Zeugnissen der Kinder auf diesen reformpädagogischen Schulen Beurteilungen vor. Dies begründet sich dadurch, dass Kinder nicht sitzen bleiben können. (vgl. 1.5.1.1 , 1.5.2.1 , 1.5.3.1 )
2 Maria Montessori: Biografie und Erziehungskonzeption
2.1 Biografie
Maria Montessori wird am 31.08. 1870 in Chiaravall (Italien) geboren (vgl. Bergeest in Buchka, Grimm, Klein, 2002, 240). Im selben Jahr wird Italien von der Fremdherrschaft befreit und wieder ein einheitlicher Staat. In wirtschaftlicher Hinsicht sind die Hoffnungen groß, Anschluss an andere europäische Staaten zu finden (vgl. Hebenstreit, 1999, 16). „Doch gleichzeitig verläuft dieser Einigungsprozeß in politisch überholten, monarchistischen, antidemokratischen Strukturen. Die sozialen Probleme bis hin zu massiver Kinderarbeit sind gewaltig.“(Hebenstreit, 1999, 16) Hebenstreit erläutert, dass die Pädagogik häufig in solchen geschichtlichen Momenten eine wichtige Rolle spielten. Das Schulwesen ist zu dieser Zeit rückständig (vgl. Hebenstreit, 1999, 16). „Es ist diese Phase der Polarisierung von politischer, sozialer und ökonomischer Reformhoffnung einerseits und stark restaurativen Beharrungstendenzen andererseits, in der Maria Montessori ihre Kindheit verbringt.“ (Hebenstreit, 1999, 16) Im Elternhaus von Montessori findet sich diese Spannung wieder. Ihr Vater ist eher konservativ eingestellt und ihre Mutter mehr fortschrittlich. Für Montessori ergeben sich daraus wichtige Lehren. Sie wird sich für soziale Reformen einsetzen und sie lernt, dass es auf Selbstbestimmung des Einzelnen ankommt, sich gegen bestehende Verhältnisse zu wehren. In diese Verhältnisbemühungen ist ihre Pädagogik eingebettet. Als Maria Montessori fünf Jahre alt war, zog die Familie durch die berufliche Situation des Vaters nach Rom um. Davor hatte Montessori schon zwei Umzüge hinter sich. Hebenstreit schreibt dazu, dass dies typisch sei für die kommende Heimatlosigkeit von Maria Montessori (vgl. Hebenstreit, 1999, 16). Alessandro Montessori (Vater von Maria Montessori) versuchte die traditionelle Rollenaufteilung in der Familie aufrecht zu erhalten. Seine einzige Tochter Maria sollte Bildung erhalten und auf eine “normale“
Schlagworte:
lit_2007-buch, e-book,
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Notiz:
Uni Magdeburg
Titel: Die Reformpädagogische Bewegung; im Focus Maria Montessori
Veranstaltung: Keine
Autor:Katy VoigtJahr: 2007
Seiten: 93
Archivnummer: V110979
ISBN (eBook): 978-3-640-09093-8
ISBN (Buch): 978-3-640-11459-7
DOI: 10.3239/9783640090938
Dateigröße: 632 KB
Sprache: Deutsch
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ID: 4358 | hinzugefügt von Jürgen an 02:23 - 8.8.2012 |
title: Die Augsburger Lernwerkstatt stellt sich vor by Werner Wiater |
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Text:
Die Augsburger Lernwerkstatt stellt sich vor - Eine Produktion des Lehrstuhls für Schulpädagogik in Zusammenarbeit mit dem Videolabor 12 min. VHS © 1999
S. 21
Begleittext zum Video "Die Augsburger Lernwerkstatt"
Eine der Schulreforminitiativen Ende der 70er Jahre in Deutschland war die sogenannte Lernwerkstattbewegung. Deren Verfechter betrachten das Lernen nicht als Produkt eines Lehrvorgangs, sondern als Prozess aktiver Erfahrungsgewinnung der Lernenden. Und so schufen sie - zuerst an Universitäten, später auch an Schulen und Lehrerfortbildungsinstitutionen - pädagogische Laboratorien, "Lernwerkstätten", als Orte, an denen Studierende, im Beruf tätige Lehrerinnen/Lehrer und auch Schülerinnen/Schüler Erfahrungen mit ihrem eigenen Lernen machen können. Mittlerweile gibt es in Deutschland über 100 Lernwerkstätten mit unterschiedlichen Grundkonzeptionen, Forschungsanliegen und Organisationsformen.
Was ist eine Lernwerkstatt?
Die Bezeichnung "Lernwerkstatt" für diese Reforminstitutionen ist nicht schlecht gewählt. Spricht man nämlich von einer "Werkstatt", dann kommen einem Assoziationen an den Arbeitsplatz eines Handwerkers oder eines Künstlers. Beide stellen etwas her, nach Auftragserteilung oder aus eigenem inneren Schaffensdrang heraus, nach einem Plan oder nach einer phantasievollen Idee, mit Werkzeugen oder aus dem Gefühl oder Intellekt heraus, und beide brauchen dazu Materialien und Utensilien. Auch in der Lernwerkstatt geht es um das Arbeiten
an einer Sache oder das Produzieren von Ideen und Gedanken zu einer vorgegebenen Aufgabe oder Problematik.
Wird in der Autowerkstatt aber am Auto gearbeitet und wird in der Bildhauerwerkstatt Holz oder Metall kreativ bearbeitet, so ist in der Lernwerkstatt "das Lernen selbst" Gegenstand der Arbeit. Am Lernen arbeiten heißt, sich selbst in der Rolle des Lernenden erleben, sich einem Thema, Sachverhalt oder Problem zu stellen und Erfahrungen mit sich selbst und mit dem eigenen Lernen zu machen.
Die Augsburger Lernwerkstatt ist ein Kooperationsprojekt des Lehrstuhls für Schulpädagogik der Universität Augsburg und des Staatlichen Schulamts bei der Stadt Augsburg. Sie besteht aus 2 klassenzimmergroßen Räumen mit Flur
und ist in einer Augsburger Grundschule untergebracht. In Regalen und auf Tischen befindet sich das "Werkzeug", nämlich anregend gestaltete Lern- und Arbeitsmaterialien vielfältiger und höchst unterschiedlicher Art. Zu ihnen zählen sowohl Bücher, Modelle, Experimentierkästen, Karten, CDs, Kassetten oder Gegenstände als auch didaktische Spiele, Karteien, Puzzles, Spielpläne, Karten-
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spiele, Arbeitsmappen/ -blätter oder Lernmemorys, schließlich aber auch Malkästen, Kleber, Papier/Pappe, Zeitungen/ Zeitschriften, Holz, Metall, Hammer, Nägel, Draht usw. - Lern- und Arbeitsmaterialien also, die zum aktiven Tun einladen. Den "Arbeitsplätzen" einer Werkstatt entsprechen in der Lernwerkstatt
Arbeitsecken und Nischen, die durch offene Regale oder Stellwände abgeteilt sind. Da gibt es beispielsweise die Leseecke, die Computerecke, die Ecke mit Sinnesmaterialien, die für Malen und Gestalten sowie die für Musik und Darstellendes Spiel, eine Ecke für Mathematik und eine für die Sprachen, schließlich noch die Ecke fürs Konstruieren und Basteln und für naturwissenschaftliche Experimente.
Diese Organisationsstruktur der Lernwerkstatt greift - wie leicht zu erkennen ist - auf Gedanken der Reformpädagogischen Bewegung (1890 - 1933) zurück, ins- besondere auf den Arbeitsunterricht und den Gesamtunterricht, auf John Deweys learning-by-doing-Konzept, Maria Montessoris Freiarbeitsmaterialien und
die Lernateliers von Célestin Freinet.
Die Lernwerkstatt als Lernort für Lehramtsstudierende und praktizierende Lehrerinnen/Lehrer
Um bei angehenden und bei praktizierenden Lehrerinnen/Lehrern die Professionalität zu vergrößern, eignet sich die Lernwerkstatt in besonderer Weise. Denn hier können sie sich selbst in der Rolle der Lernenden und Mitlernenden
erleben, während sie an Themen und Inhalten des Schulunterrichts arbeiten. Zu selbstgewählten oder in Gruppen vereinbarten Unterrichtsthemen sollen sie kreativ und einfallsreich Unterrichtsplanungen betreiben, statt vorgefertigte und von Verlagen herausgegebene Unterrichtsmodelle heranzuziehen. Anders als bei der herkömmlichen Unterrichtsvorbereitung geht es bei der Arbeit in der Lernwerkstatt nicht nur um das Produkt, die fertige Stundenvorbereitung, sondern auch um Selbsterfahrungen beim Planen, darum, dass man sich mit all seinen
Sinnen und praktischen Fähigkeiten einbringt, dass man feststellt, welche Schwierigkeiten eine Lernaufgabe machen kann, wieviel Zeit und Konzentration dafür erforderlich sind, um didaktische Materialien zu konzipieren, dass Lernen
anstrengend ist und auch nicht immer nur Spaß macht.
Das Verständnis für die Wege und Irrwege des Lernens wächst in dem Maße, wie man selbst wieder in die Lernerrolle versetzt ist. Gerade für Lehrerinnen und Lehrer (und alle die, die diesen Beruf ergreifen wollen), die es gewohnt
sind, anderen "etwas beizubringen", Sachverhalte "besser und richtiger zu wissen", sind Erfahrungen mit der Lernerrolle nicht nur wichtig, sondern berufs- notwendig, wollen sie der drohenden "déformation professionelle" gegensteuern.
Das Video vermittelt einen Einblick in die Arbeitsweise der Augsburger Lernwerkstatt. Es zeigt Studierende, Lehrerinnen/Lehrer und Schülerinnen/Schüler beim Erarbeiten und Erstellen von Lernstationen und entwirft ein buntes Meinungsbild zur didaktischen Bedeutung und Wirkung dieser Institution. Zugleich will es die Zuschauer dazu anregen, über die Lernwerkstattidee zu diskutieren und nach Möglichkeiten zu suchen, an der eigenen Arbeitsstätte eine Lernwerkstatt zu organisieren.
Prof. Dr. Dr. Werner Wiater
Schlagworte:
LWS
summary:
In dem ca. 12-minütigen Film werden nicht nur die Bereiche der Lernwerkstatt erklärt, sondern auch Lehrer als Lernende beim kreativen Arbeiten in offenen Unterrichtsformen beobachtet. Darüber hinaus wird in diesem Video deutlich, dass es sich bei der Lernwerkstatt sowohl um ein Kommunikationszentrum für neue Lehr- und Lernformen, als auch um einen Ort der pädagogischen Forschung handelt. Abschließend werden Möglichkeiten dargestellt, wie im konkreten Schulunterricht die Erfahrungen aus der Lernwerkstatt umgesetzt werden können.
Dieses Video richtet sich an Lehrerinnen und Lehrer aller Schularten und Schulstufen, sowie an Dozentinnen und Dozenten der Universitäten, aber auch an interessierte Studentinnen und Studenten. Kopien dieses Informationsfilmes wurden inzwischen allen öffentlichen Schulen sowie Bildstellen des Regierungsbezirkes Schwaben zum Erwerb (Unkostenbeitrag DM 25,- ) angeboten. Bis Ende September 1999 hatten annähernd 100 Institutionen davon Gebrauch gemacht und sich eine Kassette zuschicken lassen.
keine Notizen verfügbar
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ID: 3171 | hinzugefügt von Jürgen an 23:07 - 5.10.2008 |
title: Woran erkennt man eine Freinet-Klasse? by Witte-Löffler, Heini |
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Titel: | Woran erkennt man eine Freinet-Klasse? |
Autor: | Witte-Löffler, Heini | Sprache: | deutsch |
Quelle: | ??, in: pädagogik extra Heft 7-8, S. 20-24 | Quellentyp: | Artikel aus Zeitschrift |
veröffentlicht am: | DD.MM.YYYY | | |
url: | |
Text:
<b>Woran erkennt man eine Freinet-Klasse?</b><p>
Die ideale Freinet-Klasse gibt es nicht und es ist nicht unser Ziel zu definieren, was eine solche Klasse sein könnte. Es gibt nur Klassen auf dem Weg zur Freinet-Pädagogik, mit allem, was das an Zweifeln, Erfolgen, Mißerfolgen, Fragen und Infragestellen mit sich bringt. Dennoch wäre es inkonsequent zu behaupten, eine Freinet-Klasse oder eine Klasse auf dem richtigen Weg es zu werden, sei nicht von einem aufmerksamen Auge zu erkennen.<p>
<b>Neue Techniken führen zu neuem Klim</b><p>
Der Lehrer, der sich entschließt, eine oder mehrere Freinet-Techniken in seiner Klasse einzuführen, stellt sehr schnell fest, dass jede dieser Techniken nicht nur zum schrittweisen Aufbau eines neuen Klimas in seiner Gruppe führt, sondern auch, daß diese neuen Techniken mit anderen, vorher eingeführten Methoden in Wechselwirkung treten. Die Förderung des freien Textes wird wenn der Lehrer konsequent ist bald begleitet von der Einführung der Klassenkorrespondenz und der Schulzeitung, die wiederum zur Schöpfung freier Texte motivieren.<p>
Kann man sagen, daß ein Lehrer, der nur eine einzige Freinet-Technik anwendet, z.B. die Klassenkorrespondenz, sich damit rühmen kann, " Freinet zu machen"? <p>
Das erscheint uns mißbräuchlich und gefährlich. Wir glauben im Gegenteil, daß das erst der Fall ist, wenn er mehrere Strukturen eingerichtet hat und neue Arbeitsweisen eingeführt hat. Dadurch verändert sich die Klasse, so daß bald weder die Eltern noch die Kinder noch er selbst sie wiedererkennen werden. Dieser kritische Moment, in dem die Klasse "umkippt" wenn man so sagen will in die Freinet-Pädagogik, ist schwer zu bestimmen: das Charisma des Lehrers erlaubt es manchmal, in bestimmten Klassen Mängel in bestimmten Bereichen zu verschleiern, während es in anderer Umgebung wirkungslos bleibt.<p>
Aber bleiben wir pragmatisch, gehen wir in eine Klasse hinein und suchen nach beobachtbaren Kriterien, um zu bestimmen, ob diese Klasse sich auf der Schiene der Freinet-Pädagogik befindet oder nicht.<p>
Diese verschiedenen Kriterien werden hier in nichthierarchisierter Reihenfolge vorgestellt:<p>
<b>Kollektiv und individuell Fragen beantworten</b><p>
In dieser Klasse existieren kollektive und individuelle Projekte. Die Kinder und der Lehrer versuchen, Fragen zu beantworten, sei es in der großen Gruppe, sei es in kleinen Gruppen; jedes Kind hat außerdem die Möglichkeit, allein in Bereichen zu arbeiten, in denen es sich am wohlsten fühlt und die es interessieren. Zwischen den kollektiven und individuellen Aktivitäten gibt es ein Gleichgewicht. Die Kinder haben Gelegenheit, sich sowohl an den Schwierigkeiten der Einzel- bzw. der Gruppenarbeit zu reiben als auch jeweils deren Vor- und Nachteile kennenzulernen und angesichts einer bestimmten beabsichtigten Arbeit abzuwägen, welche der beiden Arbeitsformen angemessen ist. Bestimmte Lernstoffe sind individualisiert, die Klasse verfügt über Werkzeuge wie Arbeitskarteien und Hefte mit Selbstkorrektur, die es den Kindern erlauben, eine gewisse Autonomie zu erreichen gegenüber dem Lehrer und auch der Materie.
Die Organisation der Arbeit geschieht gemeinsam mit den Kindern. Es gibt je nach Alter Tages-, Wochen-, Monats- und Jahrespläne. Die Kinder haben einen Arbeitsplan für den Tag, die Woche oder für zwei Wochen, der es ihnen ermöglicht, ihre Arbeit individuell zu planen und sich darüber mit Hilfe des Lehrers regelmäßig Rechenschaft abzulegen.<p>
Der Lehrer hat Strukturen geschaffen, die die Kooperation der Kinder mehr als den Wettbewerb fördern: im Rahmen des Möglichen versucht er unnötige Vergleiche zu vermeiden, er verzichtet auf Bewertungen und Noten. Zeugnisse werden vorteilhaft ersetzt durch viel genauer geschriebene Beurteilungen und durch die Rechenschaftsberichte der Arbeitspläne.<p>
<b>Mehr Möglichkeiten</b><p>
Die Kinder haben eine gewisse Macht in der Klasse. Sie können unabhängig von Schulstunden, die nicht von der Schule vorgeschrieben werden, agieren; sie können Aktivitäten, Verbesserungen und Veränderungen vorschlagen; sie können zwischen mehreren Möglichkeiten, die ihnen vom Lehrer vorgeschlagen werden, wählen; sie haben Gelegenheit, über ihre Beziehungen mit anderen oder mit dem Lehrer zu diskutieren. Alles dies findet während der Klassenversammlung statt. (Einmal in der Woche oder als Klassenkonferenz am Wochenanfang bzw. alle 14 Tage, oder Klassenkonferenz und Bilanz am Ende einer Periode, tägliche Klassenkonferenz bei den Kleinen.) Die Klassenkonferenz ist institutionalisiert und die Kinder wissen, daß sie der Ort ist, wo sie wichtige Entscheidungen fällen, die die Klasse betreffen. Sie wird von der Gruppe verwaltet und der Lehrer bemüht sich, den Kindern mehr und mehr die Möglichkeit zu geben, sie zu leiten und das Protokoll zu führen.<p>
Die Klasse gibt eine Klassenzeitung (Schulzeitung) heraus, in der die Kinder ihre Freien Texte erscheinen lassen, die Ergebnisse ihrer Untersuchungen und Recherchen vorstellen, ihre Erfahrungsberichte und ihre Fragen mitteilen, kurz alles, was das Leben in der Klasse betrifft. In dieser Zeitung erscheinen nur eigenständige Schöpfungen (Texte, Bilder, Spiele usw.), außer wenn es sich um zitierte Dokumente handelt oder beispielhaft angeführte Werke oder Gedanken.<p>
Die Klasse ist offen nach außen. Sie korrespondiert mit anderen Klassen oder Personen. Sie geht heraus und besucht Ausstellungen, Künstler, Fabriken und lädt Personen zu sich ein (Kontakt zu Menschen, die eine Lebenserfahrung haben, die sie mit den Kindern teilen können).<p>
Der Lehrer entwickelt in der Klasse den Forschergeist. Er fördert die kollektive Forschung in der Gruppe genauso wie die persönliche Recherche: die Kinder stellen ihre Ergebnisse in kleinen Konferenzen vor. Sie verfügen über eine Dokumentationsbibliothek, sei es innerhalb der Schule, sei es in der Klasse selbst. Im letzten Fall entscheiden sie mit darüber, wie diese Dokumentation klassifiziert wird. Ziel ist es, Fragen zu beantworten, die sich in allen Bereichen stellen. Es wird hiermit das abgedeckt, was man gemeinhin unter Geschichte, Geografie, Naturwissenschaften versteht, aber ebenso können Bereiche wie Moral, Philosophie, soziale Initiativen betroffen sein.<p>
Der Lehrer fördert den freien Ausdruck. Dieser fällt nicht von einem Tag auf den anderen vom Himmel, er muß ihn unterstützen, indem er das wertet, was im Ausdruck der Kinder wirklich `frei` ist und nicht die Reproduktion existierender Stereotypen. Dieser Ausdruck ist zwangsläufig dem Blick der Erwachsenen (der Erwachsenen in der Schule) und der Kinder ausgesetzt. Der Lehrer hilft dem Kind, sich nach und nach von seinen Ketten zu befreien und sich echt auszudrücken durch das Bild, durch Schreiben, durch Tanz und Körperausdruck, Theater, Musik usw. Ein besonderer Platz wird dem tastenden Versuchen eingeräumt. Bei allen Aktivitäten respektiert der Lehrer die Initiativen der Kinder und schätzt die Untersuchung außerhalb eingetretener Pfade. Das tastende Versuchen ist ein allgemeines Lebensgesetz und hat aus diesem Grunde in der Klasse Bürgerrecht.<p>
Schlagworte:
Methode, freier-Ausdruck,
kein Summary verfügbar
keine Notizen verfügbar
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ID: 2567 | hinzugefügt von Jürgen an 02:41 - 25.9.2005 |
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